Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht in Talkshows und Zeitungen gefragt wird, was unsere Gesellschaft - noch - zusammenhält. Ob Arm gegen Reich, Ost gegen West, Land gegen Stadt, Jung gegen Alt oder der anhaltende Streit über Identitäts-, Glaubens- oder Genderfragen: Die gesellschaftliche Spaltung erscheint als ein Signum unserer Zeit. Jürgen Kaube und André Kieserling gehen dieser Diagnose auf den Grund: Schrumpft die Mittelschicht wirklich, und wie stellt man überhaupt fest, wer zu ihr gehört? Wenn das islamisch dominierte Viertel in Berlin-Neukölln eine Parallelgesellschaft ist, muss dann nicht auch das Villenviertel im Grunewald so bezeichnet werden? Waren frühere Gesellschaften tatsächlich stärker integriert, oder herrschten dort nur andere Konflikte und Ungerechtigkeiten? Die Gesellschaft, so kann man sagen, besteht wesentlich aus Ungleichheiten; gefährlich aber wird es, wenn Ungleichheit zu immer stärkerer Polarisierung, zu einem permanenten Gegeneinander führt. Was also ist nur mediales Gerede, und wo drohen echte Zerreißproben? Jürgen Kaube und André Kieserling sorgen in einer unübersichtlichen Lage für Orientierung - und liefern nichts weniger als eine schlüssige Deutung unserer gesellschaftlichen Gegenwart.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Was hat es mit den Kassandrarufen um die gespaltene Gesellschaft auf sich? Dieser Frage gehen FAZ-Feuilletonist Jürgen Kaube und Soziologe Kieserling nach - mit für Rezensent Thomas Ribi interessanten Ergebnissen. So erfährt er von den Autoren, dass die drohende Spaltung von politischen Entscheidungsträger*innen dazu genutzt werde, Entscheidungen nicht zu rechtfertigen, sondern zu verschieben, wolle man die Stabilität der Gesellschaft nicht gefährden. Doch das sei für die Autoren überwiegend ein "Schreckgespenst", selten komme es wirklich zu einer Spaltung wie den nordirischen Troubles, alles andere sei vielmehr Polarisierung. Ja, manchmal kochen Konflikte hoch, weiß auch Ribi, doch das auszuhalten ist für ihn eine Stärke der Demokratie, die Kaube und Kieserling bereichernd darlegen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2022Im Bann der Angstlust
Die Soziologen André Kieserling und Jürgen Kaube haben die populäre Diagnose von der Spaltung der Gesellschaft geprüft – und verworfen
Mit großer Geste die drohende „Spaltung der Gesellschaft“ festzustellen, ist zu einer Standardgeste in allen Debatten geworden. Zu einer Modediagnose, bei der es meist nicht einmal mehr für nötig gehalten wird, zu belegen, wie triftig sie im Einzelfall überhaupt belegbar ist. Umso triftiger erscheint, dass sich der Soziologe André Kieserling, der als Professor in Bielefeld lehrt, und der Soziologe Jürgen Kaube, der im Hauptberuf Herausgeber der FAZ ist, nun einer Diagnose der Diagnose angenommen haben.
Ausgangspunkt ihres Buchs „Die gespaltene Gesellschaft“ ist die in diesen unruhigen Zeiten ja nicht vollkommen uninteressante Frage: „Stehen wir im Bann massenmedial angeregter Unruhe, oder ist das Eis, auf dem wir uns befinden, tatsächlich so dünn, dass jederzeit mit Brüchen gerechnet werden muss?“ Ihre erkenntnisleitende Einstellung ist dabei eine, nun ja, äußerst profunde Skepsis gegenüber der Spaltungsdiagnose. Das ist keine Überraschung. Als Luhmann-Schüler gehören beide, was ihr intellektuelles Temperament betrifft, ja seit jeher zu den abgekochtesten Abkochern der Republik. Einerseits. Andererseits kommt es auf Buchlänge auch in diesem Fall nicht auf die Quintessenz, sondern auf die Details an.
Zumal der wesentliche kritische Impuls letztlich nicht vor allem auf den Diskurszirkus abzielt, sondern auf die notorische Konfliktscheu der Politik und der Politiker selbst. Diese nämlich, so Kieserling und Kaube nutzten die Rede von der drohenden Spaltung der Gesellschaft beizeiten nur allzu gern dazu, das Unterlassen politischer Entscheidungen zu rechtfertigen: „Wenn beispielsweise eine Impfpflicht die Gesellschaft spaltet, glaubt man nicht nur leichter von harten Maßnahmen gegen Impfunwillige Abstand nehmen zu können, sondern sieht es geradezu geboten, solche Folgen zu vermeiden.“ In einem Szenario dagegen, in dem echte Spaltung, also tiefe soziale Zerrüttung oder Tribalisierung, doch nicht kurz bevorsteht, weil die Gesellschaft funktional zu differenziert ist und jeder und jede Einzelne zu viele Rollen und überlappende Bezugsrahmen hat, ernüchtert sich sofort der Blick.
Die naheliegende Kritik an dieser Position ist natürlich (und man kann sich sofort vorstellen, wie genüsslich sie bei Lanz und Co. vorgebracht werden wird, sollten sich die Autoren dort blicken lassen), dass so die herrschenden sozialen Konflikte, aus den bequemen Lehnstühlen zweier bestens versorgter Profi-Beobachter heraus, eiskalt verharmlost werden. Aber das hieße (und man fragt sich sofort deprimiert, ob ein wichtiger, aber tendenziell kontraintuitiver Hinweis wie der gleich folgende, im Fernsehen wohl überhaupt noch erfolgreich vermittelbar ist, wäre aber doch sehr gerne dabei, wenn sie es versuchen) die Redlichkeit und Akribie zu unterschätzen, mit der im Buch versucht wird, genau diesen Eindruck zu vermeiden. Bevor Kieserling und Kaube nämlich die meistdiskutierten Spaltungen unserer Gegenwart (etwa die zwischen Geimpften und Ungeimpften, zwischen Demokraten und Republikanern in den USA, zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland, zwischen Armen und Reichen, zwischen Gesellschaft und Parallelgesellschaften oder zwischen Menschen und alten weißen Männern) im Einzelnen betrachten und nach skrupulösen Prüfungen meistens verwerfen, geht es darum, was der hinter der Spaltungsdiagnose versteckte Idealfall eigentlich bedeutet und vor allem, inwieweit er überhaupt so etwas wie der gesellschaftliche Normalfall ist: der soziale Zusammenhalt.
Es spricht schließlich doch manch Gewichtiges dafür, dass eben dieser soziale Zusammenhalt überhaupt kein wesentliches Merkmal moderner demokratischer Gesellschaften ist. Anders etwa in Stammesverbünden unterhalte der moderne Mensch kein starkes gemeinschaftliches Verhältnis zur Mehrheit seiner Mitbürger. Auch um die viel beschworene Versöhnung im karitativen Sinn gehe es in der Demokratie nicht in erster Linie. Demokratie sei vielmehr ein Verfahren des Konflikts und der Konkurrenz, das die dabei entstehenden Spannungen dadurch zu entschärfen versuche, „dass sie ein Geflecht von Institutionen der Konfliktbearbeitung aufspannt, in dem diejenigen, die nicht nur streiten, sondern auch Entscheidungen herbeiführen wollen, einen großen Teil ihrer Konfliktenergie verbrauchen oder sich jedenfalls zu einer ökonomischen Verwendung dieser Energie gezwungen sehen: zu Opportunismen, Kompromissen, ,Zweckehen‘, Rhetorik und Anpassung.“
In diesem Sinn ist es aus soziologischer Sicht letztlich sogar genau umgekehrt: Konflikte zerstörten die Gesellschaft nicht, die Gesellschaft „kann gerade durch ihre Konflikte integriert werden“. So sie denn besonnen und ihrer Vieldimensionalität entsprechend bearbeitet werden.
Mit anderen Worten: Dies ist nicht nur ein nötiges, sondern ein wirklich wichtiges Buch zur Zeit. Mögen es bitte alle, ja, doch: alle Politiker lesen. Und alle anderen Bürger auch, die hohle Politkirmes-Talkrunden satt haben, aber die Hoffnung auf die Macht der Vernunft noch nicht ganz aufgegeben haben.
JENS-CHRISTIAN RABE
Wann wäre Zusammenhalt je
ein wesentliches Merkmal
moderner Gesellschaft gewesen?
Jürgen Kaube,
André Kieserling:
Die gespaltene Gesellschaft. Rowohlt, Berlin 2022.
288 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Soziologen André Kieserling und Jürgen Kaube haben die populäre Diagnose von der Spaltung der Gesellschaft geprüft – und verworfen
Mit großer Geste die drohende „Spaltung der Gesellschaft“ festzustellen, ist zu einer Standardgeste in allen Debatten geworden. Zu einer Modediagnose, bei der es meist nicht einmal mehr für nötig gehalten wird, zu belegen, wie triftig sie im Einzelfall überhaupt belegbar ist. Umso triftiger erscheint, dass sich der Soziologe André Kieserling, der als Professor in Bielefeld lehrt, und der Soziologe Jürgen Kaube, der im Hauptberuf Herausgeber der FAZ ist, nun einer Diagnose der Diagnose angenommen haben.
Ausgangspunkt ihres Buchs „Die gespaltene Gesellschaft“ ist die in diesen unruhigen Zeiten ja nicht vollkommen uninteressante Frage: „Stehen wir im Bann massenmedial angeregter Unruhe, oder ist das Eis, auf dem wir uns befinden, tatsächlich so dünn, dass jederzeit mit Brüchen gerechnet werden muss?“ Ihre erkenntnisleitende Einstellung ist dabei eine, nun ja, äußerst profunde Skepsis gegenüber der Spaltungsdiagnose. Das ist keine Überraschung. Als Luhmann-Schüler gehören beide, was ihr intellektuelles Temperament betrifft, ja seit jeher zu den abgekochtesten Abkochern der Republik. Einerseits. Andererseits kommt es auf Buchlänge auch in diesem Fall nicht auf die Quintessenz, sondern auf die Details an.
Zumal der wesentliche kritische Impuls letztlich nicht vor allem auf den Diskurszirkus abzielt, sondern auf die notorische Konfliktscheu der Politik und der Politiker selbst. Diese nämlich, so Kieserling und Kaube nutzten die Rede von der drohenden Spaltung der Gesellschaft beizeiten nur allzu gern dazu, das Unterlassen politischer Entscheidungen zu rechtfertigen: „Wenn beispielsweise eine Impfpflicht die Gesellschaft spaltet, glaubt man nicht nur leichter von harten Maßnahmen gegen Impfunwillige Abstand nehmen zu können, sondern sieht es geradezu geboten, solche Folgen zu vermeiden.“ In einem Szenario dagegen, in dem echte Spaltung, also tiefe soziale Zerrüttung oder Tribalisierung, doch nicht kurz bevorsteht, weil die Gesellschaft funktional zu differenziert ist und jeder und jede Einzelne zu viele Rollen und überlappende Bezugsrahmen hat, ernüchtert sich sofort der Blick.
Die naheliegende Kritik an dieser Position ist natürlich (und man kann sich sofort vorstellen, wie genüsslich sie bei Lanz und Co. vorgebracht werden wird, sollten sich die Autoren dort blicken lassen), dass so die herrschenden sozialen Konflikte, aus den bequemen Lehnstühlen zweier bestens versorgter Profi-Beobachter heraus, eiskalt verharmlost werden. Aber das hieße (und man fragt sich sofort deprimiert, ob ein wichtiger, aber tendenziell kontraintuitiver Hinweis wie der gleich folgende, im Fernsehen wohl überhaupt noch erfolgreich vermittelbar ist, wäre aber doch sehr gerne dabei, wenn sie es versuchen) die Redlichkeit und Akribie zu unterschätzen, mit der im Buch versucht wird, genau diesen Eindruck zu vermeiden. Bevor Kieserling und Kaube nämlich die meistdiskutierten Spaltungen unserer Gegenwart (etwa die zwischen Geimpften und Ungeimpften, zwischen Demokraten und Republikanern in den USA, zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland, zwischen Armen und Reichen, zwischen Gesellschaft und Parallelgesellschaften oder zwischen Menschen und alten weißen Männern) im Einzelnen betrachten und nach skrupulösen Prüfungen meistens verwerfen, geht es darum, was der hinter der Spaltungsdiagnose versteckte Idealfall eigentlich bedeutet und vor allem, inwieweit er überhaupt so etwas wie der gesellschaftliche Normalfall ist: der soziale Zusammenhalt.
Es spricht schließlich doch manch Gewichtiges dafür, dass eben dieser soziale Zusammenhalt überhaupt kein wesentliches Merkmal moderner demokratischer Gesellschaften ist. Anders etwa in Stammesverbünden unterhalte der moderne Mensch kein starkes gemeinschaftliches Verhältnis zur Mehrheit seiner Mitbürger. Auch um die viel beschworene Versöhnung im karitativen Sinn gehe es in der Demokratie nicht in erster Linie. Demokratie sei vielmehr ein Verfahren des Konflikts und der Konkurrenz, das die dabei entstehenden Spannungen dadurch zu entschärfen versuche, „dass sie ein Geflecht von Institutionen der Konfliktbearbeitung aufspannt, in dem diejenigen, die nicht nur streiten, sondern auch Entscheidungen herbeiführen wollen, einen großen Teil ihrer Konfliktenergie verbrauchen oder sich jedenfalls zu einer ökonomischen Verwendung dieser Energie gezwungen sehen: zu Opportunismen, Kompromissen, ,Zweckehen‘, Rhetorik und Anpassung.“
In diesem Sinn ist es aus soziologischer Sicht letztlich sogar genau umgekehrt: Konflikte zerstörten die Gesellschaft nicht, die Gesellschaft „kann gerade durch ihre Konflikte integriert werden“. So sie denn besonnen und ihrer Vieldimensionalität entsprechend bearbeitet werden.
Mit anderen Worten: Dies ist nicht nur ein nötiges, sondern ein wirklich wichtiges Buch zur Zeit. Mögen es bitte alle, ja, doch: alle Politiker lesen. Und alle anderen Bürger auch, die hohle Politkirmes-Talkrunden satt haben, aber die Hoffnung auf die Macht der Vernunft noch nicht ganz aufgegeben haben.
JENS-CHRISTIAN RABE
Wann wäre Zusammenhalt je
ein wesentliches Merkmal
moderner Gesellschaft gewesen?
Jürgen Kaube,
André Kieserling:
Die gespaltene Gesellschaft. Rowohlt, Berlin 2022.
288 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2022Jürgen Kaube, für das Feuilleton zuständiger Herausgeber der F.A.Z., und André Kieserling fragen in ihrem Buch, was man sich unter der oft beschworenen Spaltung der Gesellschaft vorstellen soll. Sie untersuchen, welches Ausmaß die politische Polarisierung angenommen hat. Spaltet die Impffrage die Gesellschaft? Weshalb kommt es nicht zum Klassenkampf, wenn die Spaltung von Arm und Reich dramatisch scheint? Solchen Fragen nachzugehen heißt, zwischen den vielen Konflikten und Differenzen zu unterscheiden, die für eine moderne Gesellschaft typisch sind. Wenn eine solche Gesellschaft etwa durchgehend vom Streit zwischen Konfessionen bestimmt wird, wie lange in Nordirland, dann kann von Spaltung gesprochen werden. Ist das unsere Lage? Oder ist die Spaltungsrede nur ein Stilmittel in Talkshows und Wahlkämpfen? (Jürgen Kaube, André Kieserling: "Die gespaltene Gesellschaft". Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2022. 286 S., geb., 24,- Euro.)F.A.Z.
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