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Juan Gabriel Vásquez erforscht in seinem Roman "Die Gestalt der Ruinen" die Gewaltgeschichte seines Heimatlandes Kolumbien.
Von Paul Ingendaay
Nur acht Jahre liegen zwischen dem deutschen Debüt von Juan Gabriel Vásquez, "Die Informanten" (F.A.Z. vom 17. März 2010), und diesem - seinem fünften - Roman im Schöffling Verlag. In dieser Zeit ist aus einem vielversprechenden kolumbianischen Schriftsteller der neue literarische Star Lateinamerikas geworden. Das hat sich vor allem unter seinen begeisterten deutschen Rezensenten herumgesprochen und noch nicht in Verkaufszahlen übersetzt, doch das wird früher oder später kommen.
Denn die Signale aus der spanischsprachigen Welt sind untrüglich. Nicht nur, dass der 1973 in Bogotá geborene Vásquez für nahezu jedes Buch Auszeichnungen erhalten hat - darunter den märchenhaft dotierten Impac-Preis - und bei Alfaguara, einem der mächtigen Madrider Konzernverlage, veröffentlicht, was ihm flächendeckende Berichterstattung in der Konzernzeitung "El País" garantiert. Er ist auch gut - richtig gut. Er ist außerordentlich sympathisch, wenn man den Berichten trauen darf, dazu aufgeschlossen, urban, gebildet, fleißig, vielseitig, er ist mehrsprachig, was man von den meisten seiner Kollegen nicht behaupten kann, er lässt sich prima fotografieren, er ist herumgekommen in Lateinamerika, den Vereinigten Staaten und Europa, hat überall Freunde und Fürsprecher, von Jonathan Franzen über Colm Tóibín bis Mario Vargas Llosa, und er ist das, was sich der internationale Literaturbetrieb bauen würde, wenn es eine Bastelanleitung dafür gäbe: der ideale Autordarsteller. Denn Juan Gabriel Vásquez hat eine Mission. Er ist angetreten, den Roman als wichtigste Kunstform demokratischer Gesellschaften zu verteidigen, auch gegen den antiaufklärerischen Blödsinn im Netz, und ihm durch die eigenen Bücher wieder Gewicht zu geben.
Sein neuester Roman, "Die Gestalt der Ruinen", zeigt das in exemplarischer Weise. Die Handlung der gut fünfhundert Seiten dreht sich um den Fluch der kolumbianischen Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert, nämlich die politische Gewalt, konkret, das Attentat. Zweimal in diesem Jahrhundert wurden charismatische Politiker der Liberalen, welche die Hoffnung auf gesellschaftlichen Fortschritt verkörperten, auf offener Straße getötet: 1914 General Uribe Uribe (übrigens das Vorbild für Oberst Aureliano Buendía in García Márquez' Roman "Hundert Jahre Einsamkeit") und 1948 der Liberale Jorge Eliécer Gaitán. Nach dem Mord an Gaitán kam es zu Plünderungen, Schießereien, Polizeigewalt und Chaos, die als "Bogotazo" bekannt wurden und dreitausend Tote zurückließen. Ein traumatisches Ereignis.
Man tut diesem Buch kein Unrecht, wenn man sagt, dass es darin vor allem um diese beiden Morde, ihre Vor- und Nachgeschichte geht, und zwar durch das Sammeln von Indizien und Sichten der Spuren, Zeugnisse und Beweise. Durch Ortsbegehungen, Lektüre der Gerichtsprotokolle, postume Zeugenbefragung und Ballistik. Durch forensische (also nicht immer appetitliche) Blicke auf die zertrümmerte Schädeldecke Uribes und den durchschossenen Rückenwirbel Gaitáns. Dann durch Fotos. Durch Rekonstruktion und Beschwörung und nicht müde werdendes, nicht enden wollendes Grübeln und Besprechen und Bedenken und Erforschen. Kurz, die Hauptfiguren dieses Romans teilen nicht nur einen gewissen paranoiden Zug, sie sind Opfer einer Obsession.
Was sie umtreibt, ist die Frage aller Fragen, es ist die Kennedy-Frage, die auch heute noch Bücher, Filme und jede Menge Verschwörungstheorien hervorbringt: ob die Täter allein gehandelt haben oder ob sie nicht doch eher Marionetten finsterer Mächte waren, die ihrerseits nach der Tat wieder ins Dunkel zurückwichen wie jener elegant gekleidete Herr, der an beiden Tatorten in Bogotá, 1914 wie 1948, von auffällig vielen Menschen gesehen worden sein soll. Aber als was? Als Beobachter? Als Einflüsterer? Als Anstifter und Mastermind?
Ach, es lässt sich heute einfach nicht mehr entscheiden. Weshalb man die Paranoia hätte lebendig machen müssen, statt sie nur zu dokumentieren, und darin offenbart der so leidenschaftlich denkende und schreibende Vázquez seine Schwäche: Er hat sein Material nicht ausreichend gefiltert, er überflutet uns mit immer neuen Namen und lässt sich von den Gerichtsakten erdrücken, und deshalb könnte es ihm auch entgangen sein, dass sein Roman im Lauf seiner nicht ganz kurzen Strecke den Fokus verliert.
Das liegt nicht nur am Material selbst, das er wohl besser straffer präsentiert hätte; das liegt auch an seinem singenden, sahnigen Stil, den Susanne Lange wieder einmal in prächtiges Deutsch übersetzt hat - eine an Javier Marías geschulte Leichtigkeit des weltläufigen Erzählens, in welchem neben der baren Handlung auch noch psychologische Beobachtungen und philosophische Reflexionen Platz finden. Hier und da leider zu viele. Die Figuren - ein älterer Arzt, der besagtes Wirbelsäulenstück von Gaitán aufbewahrt, sowie ein Privatgelehrter, der dem tragischen Tod seines Vaters nachspürt - werden dadurch zu Vehikeln, zum Vorwand, zu kleinen Disputiermaschinen, und es scheint wirklich, als sei sich Vázquez dieser Bedrohung durch das Papierne nicht bewusst gewesen. Jetzt ist dieses Buch geschrieben, eine weitere Episode in der unfassbaren Gewaltgeschichte seines Landes, und demnächst wird ein neues kommen.
Die markanteste Figur in der Gegenwart dieser Recherche ist der Autor selbst. Juan Gabriel Vásquez tritt im Roman mit eigenem Namen und der eigenen Existenz auf, erzählt von seinen Büchern und Lektüren, seinen Reisen und Privatumständen, darunter etwa seinem langen Aufenthalt in Barcelona nach der Jahrtausendwende oder der komplizierten Geburt seiner Zwillingstöchter. Das ist ein feiner Kunstgriff, aber nur, weil er bei diesem Autor tatsächlich aufgeht: Vásquez darf das, es handelt sich nicht um Eitelkeit, sondern um das Überschwappen der Fiktion in alle Lebensbereiche, so dass auch das Leben in die Fiktion zurückschwappen darf, und vermutlich werden wir das bei diesem Vollblutschriftsteller nicht zum letzten Mal gesehen haben. "Ich blicke mit Fragen in die Welt und schreibe Romane, weil ich Dinge nicht weiß", hat Vásquez einmal gesagt. Das wird ihn auch in Zukunft antreiben, Romane als Mittel der Welterkenntnis zu nutzen.
Juan Gabriel Vásquez: "Die Gestalt der Ruinen". Roman.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2018. 528 S., geb., 26,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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