Die wiederentdeckte Habilitation Erwin Panofskys
1920 reichte Erwin Panofsky, einer der einflussreichsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts, in Hamburg seine Habilitationsschrift zu Michelangelo ein. In den folgenden Jahren arbeitete Panofsky stetig an dem Manuskript weiter, doch veröffentlicht wurde es nie. Seit seiner Emigration 1934 galt es als verschollen. Nach seiner Wiederentdeckung im Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München im Jahr 2012 wurde das Manuskript von Panofskys Witwe, der Kunsthistorikerin Gerda Panofsky, ediert. Die Habilitation Panofskys liegt nun erstmals in gedruckter Fassung vor, ergänzt durch eine Einführung der Herausgeberin und das Faksimile des kompletten, handschriftlich korrigierten und ergänzten Manuskriptes.
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Er schrieb "Die Gestaltungsprincipien Michelangelos" 1920, jetzt erscheint das Buch. Warum es heute gelesen werden soll, erklärt Horst Bredekamp.
Wieder einmal holte dieses Gebäude seine Historie ein. Doch dieses Mal schrieb sie ihm ein positives Kapitel in die Annalen, als jetzt im Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München ein Buch vorgestellt wurde, das es fast nicht gegeben hätte, weil das Manuskript jahrzehntelang unentdeckt in einem verschlossenen Panzerschrank in seinem Keller dämmerte. Es war ein großer Tag für das Werk Erwin Panofskys, ein großer Tag auch für Gerda Panofsky, die Witwe eines der bedeutendsten Kunsthistoriker des zwanzigsten Jahrhunderts, die es edierte.
Achtzig Jahre ist es her, dass der Verfasser den Ordner mit seiner Habilitationsschrift über die Gestaltungsprinzipien Michelangelos in Hamburg zurückließ, als er, von den Nationalsozialisten vertrieben, nach Amerika emigrierte. Der Text verschwand, 2012 machte seine spektakuläre Auffindung Schlagzeilen (zuletzt F.A.Z. vom 30. Oktober). Hier, im ehemaligen Verwaltungsbau der NSDAP, in dem nach dem Krieg das Zentralinstitut eröffnete, betrieb die US-Militärregierung über den Central Collecting Point die Rückgabe von NS-Raubkunst. In seiner Begrüßung freute sich jetzt Wolfgang Augustyn, stellvertretender Direktor des Instituts, dass man mit der Restitution des Manuskripts an diesen Teil der Geschichte anknüpfen konnte.
"Das Zentralinstitut wiederholt sich wie das Thema eines Rondos in meinem Leben", erinnerte sich Gerda Panofsky. Im großen Lesesaal schrieb sie ihre kunsthistorische Doktorarbeit, las, Jahre bevor sie ihren späteren Mann kennenlernte, dessen Schriften. Kurios die Koinzidenz, dass sie ausgerechnet bei jenem Schüler Panofskys studierte, der heimlich das Manuskript besaß und dem verehrten Lehrer aus unerklärlichen Gründen nie zurückgab: Ludwig Heydenreich, Gründungsdirektor des Zentralinstituts. Sie war dabei, als dieser Mann Panofsky 1967 den Orden Pour le Mérite umlegte, wieder in diesem Saal, in dem sie nun das gedruckte Werk präsentiert: "Die Gestaltungsprincipien Michelangelos, besonders in ihrem Verhältnis zu denen Raffaels". Panofsky selbst hatte im Hinblick auf eine Veröffentlichung noch gelegentlich am Thema weitergearbeitet, sich aber dann gänzlich von ihm abgewandt. Warum schrieb er nie das Michelangelo-Buch, das viele von ihm erwarteten?
Gerda Panofsky nennt den Text in ihrem Vorwort "frozen in time", schließlich sei die Michelangelo-Forschung seit 1920 weit fortgeschritten. Horst Bredekamp machte sich in seiner Festrede ans Auftauen. Der renommierte Kunstwissenschaftler nannte die Wiederentdeckung des Manuskripts ein "historiographisches Ereignis ersten Ranges" und ist überzeugt, so sein Fazit, dass der Text unser Bild von Panofsky in seiner Reduziertheit auf die Ikonologie, die er bekanntlich mitbegründete, gründlich korrigieren werde.
Den wahren Grund für Panofskys Abkehr vom Michelangelo-Thema sieht Bredekamp in einem tiefen Widerwillen gegen die völkische Vereinnahmung des Renaissance-Künstlers durch die deutschsprachige Forschung. Am nicht weniger vergifteten Dürer zeigte Panofsky 1943 exemplarisch, wie ein Werk über seine Einordnung in europäische Kontexte aus solch abstoßenden Bezügen zu lösen sei. Und auch Michelangelo versucht er 1939 in "Studies in Iconology" ein letztes Mal aus den "Fängen des nordischen Tiefsinns" zu lösen - mit Hilfe der antiken Philosophie.
Die Habilitation aber entstamme einer Zeit, in der Form- und Stilgeschichte noch unbelastet von politischer und rassischer Indienstnahme waren, deshalb noch nicht jene "ikonologischen Dämonenfilter" benötigte, die Panofsky um 1930 entwickelt. Noch lässt der junge Wissenschaftler seiner ungeheuren Sensibilität für die Form freien Lauf, die man ihm später zu Unrecht aberkannte. Noch knüpft Panofsky an bei den "Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen" seines Lehrers Wölfflin. Wölfflin jedoch bezog diese auf Epochen, Panofsky wendet sie nun auf Künstlerindividuen an: eben auf die Gestaltungsprinzipien Michelangelos und die seines Gegenspielers Raffael.
Panofskys Perspektivwechsel versuche, so der Redner, in seiner "Absage an den frühen Strukturalismus", an die Kunstgeschichte ohne Namen, diese Art der Kunsthistorie von ihrer Lebensferne zu befreien. Zugleich fülle er durch Ausblicke bis in den Barock jene Zeitspanne, die Wölfflin ausblendete - den Manierismus. Nach Panofskys Grundthese, so führte Bredekamp aus, setze Michelangelo Anregungen in ureigene Formentwicklungen um, Raffael hingegen passe Vorbilder imitativ ins eigene Werk ein, ein ähnliches Verfahren führte also zu entgegengesetzten Lösungen. Der ungeheuren sprachlichen Meisterschaft, mit der Panofsky seine Thesen darlegte, zollte Bredekamp seine Bewunderung.
Spielend schaffe es der Autor, Bilder in Worte zu gießen und zwischen halbseitenlang durchgehaltenen Endlossätzen und staccatoartig daherkommenden Assoziationskaskaden eine spannungsvolle Rhythmik als Grundstruktur des Textes zu entwickeln. Damit gelang es Panofsky, den Sprachstil dem Stoff anzugleichen, denn Rhythmik weist er als wesentliches Element in Michelangelos Kunst nach.
Panofsky verharrte dabei nicht in der Vergangenheit. Die Gegenwart bildet den Hintergrund seiner Seherfahrung: Wenn Panofsky etwa den aufrecht schreitenden "Bacchus" Sansovinos mit Michelangelos schwankendem und gänzlich aus dem Rhythmus geratenem Weingott vergleicht, zieht er auch Giacomo Ballas berühmten, eben erst gemalten Dackel heran, dessen Beinchen der Futurist wie Trommelstöcke wirbeln lässt. Die Zerlegung des Laufmotivs in aufeinanderfolgende Einzelphasen nennt er "kinematographisch".
Hier sprach schon Panofsky der Cineast, der beklagen sollte, dass die New Yorker Kinos "unter allem Hund" seien, der für die Einbindung der Filmbibliothek ins Museum of Modern Art plädierte und als einer der Ersten für die Einführung der Filmwissenschaft als eigener Disziplin. Panofsky hat seine "Grundbegriffe des Films" bedauerlicherweise nie abgeschlossen, man hätte sie gerne gelesen. Bleibt die Lektüre des neuen alten Buches; Bredekamp verspricht, dessen Sprache sei geradezu darauf angelegt, einen imaginären Film im Kopf zu erzeugen.
BRITA SACHS
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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