Selbstoptimierung für Anfänger Wilburs Lebensphilosophie lautet: Unsichtbar sein. Kopf runter. Mund zu. Einfach schauen, dass man den nächsten Schultag überlebt. Doch dann trifft Charlie ein, Wilburs Austauschschüler. Und entpuppt sich als Austauschschülerin. Und was für eine... Wilbur wird von gigantischen Gefühlen ergriffen. Aber wie wird man zu einem begehrten, coolen Typ, wenn man gerade eben noch völlig unsichtbar war? Einmal mehr beweist Susin Nielsen ihre außergewöhnliche Fähigkeit, »schwierige Zustände erträglicher zu machen« (Andrea Lüthi, NZZ am Sonntag), indem es ihr gelingt, elementare Themen mit einem begeisternden Humor zu verbinden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2022Modell:
Einsamkeit
Wilbur braucht eine Runderneuerung.
Eine Reise nach Paris
ist dafür sehr nützlich –
und ein kitschiges Liebeslied
VON ROSWITHA BUDEUS-BUDDE
Ob es wirklich hilft, sich vor dem Badezimmerspiegel immer wieder selbst zu sagen: „Ich liebe dich. Du bist unglaublich. Du bist ein GEWINNER“, wie es Wilbur von seinen Freunden Alex und Fabrizio vorgeschlagen wird? Oder irritiert das nur seine Familie? „Hast du was gesagt, Gürkchen?“, brüllt Mum von unten aus dem Flur, „brauchst du neues Klopapier?“ In vier Jahren Mobbing und Verachtung durch seinen Mitschüler Tyler hat der 16-Jährige jegliches Selbstvertrauen verloren. Seine Überlebensstrategie: „Einfach bloß den Tag überstehen. Kopf runter, Mund zu. Zieh keine unnötigen Aufmerksamkeiten auf dich ... Ich war verdammt zu einer Ewigkeit in der Hölle.“
Erwartet den Leser in „Die gigantischen Dinge des Lebens“ wieder eine der moralischen Beispielgeschichten zum Thema Mobbing, die so zahlreich auf dem Buchmarkt zu finden sind? Die kanadische Autorin Susin Nielsen sieht sich nicht als Erzieherin, Psychologin oder Elternvertreterin, mit dem Auftrag, Political Correctness zu beachten, sondern als Erzählerin einer Geschichte für Jugendliche, die zeigt, wie sich mit einer schrägen Sicht das Leben auch meistern lässt. Als versierte Drehbuchautorin nutzt sie ihre Erfahrungen und Erlebnisse, um in kurzen tragikomischen Szenen ihren Helden Wilbur als naiven Tor in dieser ungewöhnlichen Familien- und Freundschaftsgeschichte darzustellen, und findet in Anja Herre eine kongeniale Übersetzerin.
Er lebt, ohne Vater, bei besonderen Müttern – Mum und Mup, die er Mumps nennt – gezeugt durch Samenspende. Sein bester Freund ist sein Nachbar, der alte Salomon. Von ihm lernt er, wie man sich wehrt gegen Gemeinheit und Boshaftigkeit, und dass man das Leben lieben kann, auch nach den Schrecken einer Flucht. Salomon und Wilburs Schulfreunde Alex und Fabrizio helfen ihm, mit einer knallharten „Runderneuerung“, seine Minderwertigkeitskomplexe und Verzweiflung zu überwinden. Doch auch nach dem Erfolg eines anstrengenden Fitnessprogramms stolpert Susin Nielsens Held von einer peinlichen Situation in die andere, kämpft mit überraschenden Erektionen oder muss seinen uralten, kranken Hund von dessen Exkrementen befreien. Lustvoll wird mit Peinlichkeiten gespielt, wenn Wilburs Freunde zum Beispiel sein Outfit verbessern wollen, seinen Kleiderschrank öffnen, seine Unterhosen entdecken und kommentieren: „Farbe: Hoffnungslosigkeit, Modell: Einsamkeit.“ Er darf sich auch nicht mehr in grauen Sackpullovern verstecken, wenn er seine heimliche Liebe, die französische Austauschschülerin Charly, zusammen mit dem Schulorchester, in Paris besucht. Überraschend und ungewöhnlich ist auch, dass die Erwachsenen mit ihren Eigenarten und Schrullen beschrieben werden. Wenn zum Beispiel der Musiklehrer, der die Schüler nach Paris begleitet, – die Autorin wird hier manchmal vor Begeisterung über die Stadt zur Reiseführerin – plötzlich eine bittere Erfahrung machen muss. Seine französische Kollegin, mit der er noch vor der Reise ein heftiges Liebesverhältnis hatte, serviert ihn kalt ab. Was natürlich von seinen Schülern beobachtet wird, denen er leidtut. Oder Charly unter ihrer Mutter leidet, einer herzlosen, eigensüchtige Person.
Wie schafft es die Autorin, dass Wilbur am Schluss der „Verdammnis der Ewigkeit entkommt“, aber ohne zu viel Happiness und trotzdem glücklich zurückkehrt? Er wird vor der Schulband und auch dem Erzfeind Tyler mutig beim Abschlussfest in Paris sein unglaublich kitschiges Liebeslied für Charly vortragen. „Das war sehr süß. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, auch sehr peinlich“, ist ihr Kommentar.
Wie schafft es die Autorin,
dass Wilbur „der Verdammnis
der Ewigkeit entkommt“?
Susin Nielsen:
Die gigantischen
Dinge des Lebens.
Aus dem Englischen
von Anja Herre.
Urachhaus 2022.
290 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Einsamkeit
Wilbur braucht eine Runderneuerung.
Eine Reise nach Paris
ist dafür sehr nützlich –
und ein kitschiges Liebeslied
VON ROSWITHA BUDEUS-BUDDE
Ob es wirklich hilft, sich vor dem Badezimmerspiegel immer wieder selbst zu sagen: „Ich liebe dich. Du bist unglaublich. Du bist ein GEWINNER“, wie es Wilbur von seinen Freunden Alex und Fabrizio vorgeschlagen wird? Oder irritiert das nur seine Familie? „Hast du was gesagt, Gürkchen?“, brüllt Mum von unten aus dem Flur, „brauchst du neues Klopapier?“ In vier Jahren Mobbing und Verachtung durch seinen Mitschüler Tyler hat der 16-Jährige jegliches Selbstvertrauen verloren. Seine Überlebensstrategie: „Einfach bloß den Tag überstehen. Kopf runter, Mund zu. Zieh keine unnötigen Aufmerksamkeiten auf dich ... Ich war verdammt zu einer Ewigkeit in der Hölle.“
Erwartet den Leser in „Die gigantischen Dinge des Lebens“ wieder eine der moralischen Beispielgeschichten zum Thema Mobbing, die so zahlreich auf dem Buchmarkt zu finden sind? Die kanadische Autorin Susin Nielsen sieht sich nicht als Erzieherin, Psychologin oder Elternvertreterin, mit dem Auftrag, Political Correctness zu beachten, sondern als Erzählerin einer Geschichte für Jugendliche, die zeigt, wie sich mit einer schrägen Sicht das Leben auch meistern lässt. Als versierte Drehbuchautorin nutzt sie ihre Erfahrungen und Erlebnisse, um in kurzen tragikomischen Szenen ihren Helden Wilbur als naiven Tor in dieser ungewöhnlichen Familien- und Freundschaftsgeschichte darzustellen, und findet in Anja Herre eine kongeniale Übersetzerin.
Er lebt, ohne Vater, bei besonderen Müttern – Mum und Mup, die er Mumps nennt – gezeugt durch Samenspende. Sein bester Freund ist sein Nachbar, der alte Salomon. Von ihm lernt er, wie man sich wehrt gegen Gemeinheit und Boshaftigkeit, und dass man das Leben lieben kann, auch nach den Schrecken einer Flucht. Salomon und Wilburs Schulfreunde Alex und Fabrizio helfen ihm, mit einer knallharten „Runderneuerung“, seine Minderwertigkeitskomplexe und Verzweiflung zu überwinden. Doch auch nach dem Erfolg eines anstrengenden Fitnessprogramms stolpert Susin Nielsens Held von einer peinlichen Situation in die andere, kämpft mit überraschenden Erektionen oder muss seinen uralten, kranken Hund von dessen Exkrementen befreien. Lustvoll wird mit Peinlichkeiten gespielt, wenn Wilburs Freunde zum Beispiel sein Outfit verbessern wollen, seinen Kleiderschrank öffnen, seine Unterhosen entdecken und kommentieren: „Farbe: Hoffnungslosigkeit, Modell: Einsamkeit.“ Er darf sich auch nicht mehr in grauen Sackpullovern verstecken, wenn er seine heimliche Liebe, die französische Austauschschülerin Charly, zusammen mit dem Schulorchester, in Paris besucht. Überraschend und ungewöhnlich ist auch, dass die Erwachsenen mit ihren Eigenarten und Schrullen beschrieben werden. Wenn zum Beispiel der Musiklehrer, der die Schüler nach Paris begleitet, – die Autorin wird hier manchmal vor Begeisterung über die Stadt zur Reiseführerin – plötzlich eine bittere Erfahrung machen muss. Seine französische Kollegin, mit der er noch vor der Reise ein heftiges Liebesverhältnis hatte, serviert ihn kalt ab. Was natürlich von seinen Schülern beobachtet wird, denen er leidtut. Oder Charly unter ihrer Mutter leidet, einer herzlosen, eigensüchtige Person.
Wie schafft es die Autorin, dass Wilbur am Schluss der „Verdammnis der Ewigkeit entkommt“, aber ohne zu viel Happiness und trotzdem glücklich zurückkehrt? Er wird vor der Schulband und auch dem Erzfeind Tyler mutig beim Abschlussfest in Paris sein unglaublich kitschiges Liebeslied für Charly vortragen. „Das war sehr süß. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, auch sehr peinlich“, ist ihr Kommentar.
Wie schafft es die Autorin,
dass Wilbur „der Verdammnis
der Ewigkeit entkommt“?
Susin Nielsen:
Die gigantischen
Dinge des Lebens.
Aus dem Englischen
von Anja Herre.
Urachhaus 2022.
290 Seiten, 18 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Roswitha Budeus-Budde ist begeistert von der "ungewöhnlichen Familien- und Freundschaftsgeschichte", die Susin Nielsen fernab moralisierender Schranken erzählt. Protagonist ist der sechzehnjährige Wilbur, der nach Jahren der Schikane durch seinen Mitschüler jegliches Selbstvertrauen verloren hat und nun von seinen Freunden unterstützt und aufgepäppelt wird, um sich von seinen Minderwertigkeitskomplexen zu befreien und seine heimliche Liebe, eine französische Austauschschülerin, von sich zu überzeugen, fasst die Rezensentin zusammen. Sie ist begeistert wie "lustvoll" die Autorin mit den Peinlichkeiten des Teenagers umgeht, die ihm auch nach der Rundum-erneuerung nicht erspart bleiben und auch die Erwachsenen werden nicht als überlegene Erzieher dargestellt, sondern ebenso mit ihren Problemchen und Macken, lobt Budeus-Budde positiv überrascht und betont auch die "kongeniale" Übersetzung von Anja Herre. Die einzige Moral der Geschichte sei, dass sich "mit einer schrägen Sicht, das Leben auch meistern lässt". Wunderbar!
© Perlentaucher Medien GmbH
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