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Wytske Versteeg erzählt in "Die goldene Stunde" von drei Menschen auf der Flucht
Auf dem Umschlag des Romans "Die goldene Stunde" ist eine Frau im Profil gezeichnet. Der Kopf neigt sich leicht nach vorn, die Augen sind fast geschlossen. Sie wirkt nachdenklich, sieht erschöpft aus. Dieses melancholische Porträt stellt die Protagonistin Mari dar, eine kinderlose Niederländerin, die zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt ist. Die Aufnahme deutet die Spuren im Leben der Frau an, die Erfahrungen, mit denen sie innerlich zu kämpfen hat. Sie hat Archäologie studiert, konnte aber kaum Arbeit finden in diesem Bereich. Schließlich hat sie sich für eine Tätigkeit im sozialen Feld entschieden, bei der sie sich für das Schicksal anderer Menschen verausgabt.
Nachdem sie mehrere Monate nicht arbeiten konnte, ist sie mit einem Projekt in einer Kleingartenkolonie beauftragt worden. Hier sind es vor allem Flüchtlinge, die sie betreut. Sie verliebt sich in den jungen Emigranten Ahmad, der vor dem Krieg geflohen ist. Aus welchem Land er stammt, bleibt offen. Wahrscheinlich liegt es im Nahen Osten. Ähnlichkeiten mit Syrien sind vorhanden. Die Autorin erfindet Namen für Städte, die Sarakina und Daresh heißen, auch die Ortsangabe Holland oder Niederlande vermeidet sie.
Durch einen Unfall brennt die Kleingartenkolonie ab, Ahmad verschwindet, schickt Mari aber seine lederne Aktentasche mit Aufzeichnungen. Mari fliegt in sein Land, um im Grenzgebiet archäologisch zu arbeiten. Das Projekt verfolgt einen touristischen Zweck. Dort trifft sie auf Tarik, der ortskundig ist, sie bei ihrem Vorhaben begleitet und ihr die Aufzeichnungen von Ahmad vorliest. "Die goldene Stunde" erzählt die Lebensgeschichten von drei Menschen, mit deren Namen jeweils die unterschiedlichen Kapitel beginnen. Die Schilderungen von Ahmad und Mari werden in der ersten, die von Tarik in der dritten Person dargestellt. Der Titel des Buches bezieht sich auf den Zeitpunkt am späten Nachmittag, wenn der Tag in den Abend übergeht.
"Du lachtest oft, wenn du nicht wusstest, was du sagen solltest: um die Leute auf Distanz zu halten. Damals wusste ich das noch nicht, und so stellte ich dir jede Menge dumme Fragen, woher du kamst, wie lange du schon hier warst. Erst viel später solltest du mir erzählen, wie sehr du es hasst, dass sich jeder einbildet, ein Recht auf deine Geschichte zu haben, auf das, was du alles durchgemacht hast. Einige fragten ungeniert, wie viele Tote du gesehen und ob du selbst gekämpft hast." So schreibt die weibliche Figur über ihre Beziehung zu dem jungen Emigranten. Die Schwäche des Buchs liegt im Vorwurf an die westliche Gesellschaft, auf die Situation der Geflüchteten nicht angemessen zu reagieren. Auch in Ahmads Aufzeichnungen tauchen kritische Worte auf über die Einheimischen während seiner Zeit im Exil. Die Frage nach den Erfahrungen der Geflüchteten ist aber vielleicht weniger eine Form der Aneignung von Lebensgeschichte als vielmehr der Versuch, über das Interesse an der Herkunft eine emotionale Nähe herzustellen.
In der Erzählung von Tarik, die im Heimatland von Ahmad spielt, taucht das Thema der Migration abermals auf. In der Grenzregion, in der er lebt, sind Flüchtlinge ungern gesehen und werden von den Einheimischen vertrieben. Tarik ist als Jugendlicher zur Armee gegangen; er diente im "Lager 33", wo auch Unschuldige inhaftiert und gefoltert wurden. Er ist an die Grenze gezogen, um seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Die Beziehung zu Karima, einer Frau, die ihm durch ihren offenen Lebenswandel imponiert, zerbricht. Seine sexuellen Probleme werden am Schluss des Buches gemildert, denn er schläft mit Mari kurz vor ihrer Abreise. Schließlich kehrt er in die Grenzregion zurück, hilft Migranten bei der Flucht und erlebt dabei selbst die Gewalt der Einheimischen.
Gelungen wirkt Wytske Versteegs Buch, wenn die Differenz zwischen Tätern und Opfern aufgelöst, wenn das Wort Flucht zur Metapher wird. So erscheint Mari im Roman als Migrantin ihres eigenen Lebens, als Person ohne Halt, die auf der Suche nach Glück und Sicherheit ist. Reizvoll ist "Die goldene Stunde" in den dramatischen Passagen, den Schilderungen der gefährlichen Momente im Krieg, die vor allem in der Erzählung des jungen Ahmad deutlich werden. Zentral ist dabei die Darstellung von Gewalt, die für die Menschen unerträglich und der Auslöser ist, die Heimat zu verlassen. Die Autorin hat ihrem Text das berühmte Zitat von Friedrich Hölderlin aus der Hymne "Patmos" vorangestellt: "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch." Der Schluss des Buchs lässt offen, wo die glücklichen Auswege für die Protagonisten liegen. Gemeint ist im Titel des Hölderlin-Gedichtes jene griechische Insel, die als Exil für den verfolgten Verfasser der Apokalypse diente. Auch hier taucht das Thema der Flucht auf. THOMAS COMBRINK
Wytske Versteeg: "Die goldene Stunde". Roman.
Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2024.
240 S., geb., 26,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
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