Herrschte lange Konsens über die Einbindung von Nationalstaaten in transnationale Gemeinwesen wie die Europäische Union, geriet diese Ansicht zuletzt unter Druck: Brüssel sei zu weit weg, die Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten hätten kaum Einfluss – »Take back control« lautete das Motto der Brexiteers.
Angesichts dieser Konstellation sichtet Dirk Jörke – von Aristoteles bis Jürgen Habermas – Argumente und Befunde zum Zusammenhang zwischen der Größe und der demokratischen Qualität von Staaten. Ausgehend von einer republikanischen Position, bei der die Gleichheit und die Partizipation der Bürgerinnen im Mittelpunkt stehen, plädiert er in seinem so wichtigen wie kontroversen Beitrag für eine räumliche Begrenzung der Demokratie und den Umbau der EU zu einer Konföderation.
Angesichts dieser Konstellation sichtet Dirk Jörke – von Aristoteles bis Jürgen Habermas – Argumente und Befunde zum Zusammenhang zwischen der Größe und der demokratischen Qualität von Staaten. Ausgehend von einer republikanischen Position, bei der die Gleichheit und die Partizipation der Bürgerinnen im Mittelpunkt stehen, plädiert er in seinem so wichtigen wie kontroversen Beitrag für eine räumliche Begrenzung der Demokratie und den Umbau der EU zu einer Konföderation.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Demokratie, wie sie der Politikwissenschaftler Dirk Jörke versteht, basierend auf Gemeinschaftsgefühl und Solidarität, funktioniert nur in überschaubaren Einheiten mit einer einigermaßen homogenen Bevölkerung und Politikern, die sich mit dieser Bevölkerung identifizieren, berichtet Rezensentin Josephine Schulz. Um die Europäische Union ist es unter diesen Voraussetzungen schlecht bestellt, wie Jörke in seinem Buch "Die Größe der Demokratie" ausführt: Sie ist schlicht zu groß um demokratisch zu sein, übrig bleibt nichts als eine neoliberale Verwaltungseinheit, fasst die Rezensentin Jörkes Thesen zusammen. Dieser leitet sie ideengeschichtlich mit Exkursen von der attischen Demokratie bis zu den Anti-Federalists her und kommt zum Ergebnis, dass gewisse Kompetenzen von europäischer Ebene wieder an die Nationalstaaten zurückzugeben seien, stellt Schulz fest. Sonderlich überzeugend findet sie Jörkes Argumentation zwar nicht, dennoch begrüßt sie den Essay als produktiven Beitrag zu einer differenzierteren Demokratie-Debatte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2019Das Volk muss doch wohl gegen Europa sein
Dirk Jörkes Plädoyer für kleinräumige Politik lässt die Ausweglosigkeit einer linken EU-Kritik erkennen
Die Frage, welche die angemessene Größe für eine Republik sei, hat die frühneuzeitliche politische Theorie bis Rousseau eingehend beschäftigt, um dann mit dem Aufkommen des industrialisierten Nationalstaats und der Massendemokratie in den Hintergrund zu treten. Dirk Jörke, Professor für Politische Theorie an der TU Darmstadt, folgt diesem interessanten Theoriestrang in der hier vorzustellenden Monographie, einem "politisch-wissenschaftlichen Essay": Er rekonstruiert seine Ideengeschichte, fundiert ihn vergleichend empirisch und vermisst seine Bedeutung insbesondere für den Stand der Demokratisierung in der Europäischen Union.
Nach einer kurzen Einleitung zu seinem eigenen, auch die Gleichheit der Lebensbedingungen umfassenden Demokratiebegriff kommt der Verfasser zu Lektüren von Montesquieu und Rousseau sowie, besonders instruktiv und informiert, der amerikanischen Verfassungsdebatte zwischen Federalists und Anti-Federalists. Die Sympathien des Verfassers gehören den Vertretern der kleinen Republik, die, dies die These, wie Rousseau und die Anti-Federalists das demokratische Anliegen ernst genommen und mit dem Problem sozialer Gleichheit verbunden haben, während Vertreter der großen Föderation, allen voran Madison, ein liberales, letztlich elitäres Politikschema vertreten hätten.
Man wird sich fragen, ob diese historische Rekonstruktion und die das Buch durchziehende Gegenüberstellung von liberalen Zentralisten und republikanischen Kommunitaristen so glatt aufgeht. Die Einbeziehung eines einflussreichen Denkers wie Thomas Jefferson oder der französischen Tradition des Republikanismus, die einem heterogenen Land die sozialen Bedingungen demokratischer Herrschaft erst aufzwingen musste, hätten der Darstellung eine Spur mehr Dialektik verleihen können. Höflich unterschlagen wird auch, dass die Anti-Federalists nicht nur als Vorläufer progressiver politischer Bewegungen, sondern auch der Tea-Party und zunächst der rassistischen Südstaaten gelten müssen.
Im ersten systematischen Kapitel der Untersuchung legt Jörke eine klare Aufstellung der Argumente für und gegen große Demokratien sowie eine empirische Bestandsaufnahme des Verhältnisses zwischen Demokratie, sozialer Gleichheit und der Bevölkerungszahl vor. Sowohl die begriffliche Rekonstruktion als auch die differenzierte Analyse der Datensätze ergeben ein aufschlussreiches Bild, aus dem sich in der Tat ein Problem mit besonders bevölkerungsreichen Staaten, zugleich eine gewisse Demokratieaffinität mittlerer Staaten ergeben könnte. Es folgen kritische Kapitel zum Stand der europäischen Integration, die als neoliberales und undemokratisches Projekt dargestellt wird, eine Analyse elitistischer Demokratietheorien sowie zwei weitere Kapitel zur Wiedergewinnung wirtschaftspolitischer Handlungsfähigkeit auf Ebene des Nationalstaats. Das Buch endet mit einem Plädoyer für eine rückgebaute konföderative Europäische Union.
Die in vielem lehrreichen Überlegungen leiden an drei gravierenden Problemen. Zum Ersten bleibt die Fragestellung begrifflich unterbelichtet. Der Untertitel verweist auf "die räumliche Dimension von Herrschaft", zu Beginn spricht Jörke von Raum und Bevölkerung und will sich dann im dritten Kapitel ausschließlich auf die Frage der Bevölkerungszahl beschränken. Tatsächlich schreibt er einerseits über vielerlei mehr, über demokratische Identität, Öffentlichkeit, Nachvollziehbarkeit politischer Prozesse und die Länge institutioneller Stränge. Andererseits findet sich im ganzen Buch so gut wie nichts zur eigentlichen Theorie politischer Räume.
So ist es zum Zweiten kein Zufall, dass der Autor peu à peu seinen thematischen Faden verliert. Das vierte Kapitel ist eine kritische Darstellung des europäischen Integrationsprozesses, die sich weitgehend an den Überlegungen Fritz Scharpfs und Wolfgang Streecks orientiert, aber nicht erwähnt, dass es zu diesen Positionen wissenschaftlichen Widerspruch gibt. Das fünfte Kapitel liefert griffige Kritiken kosmopolitischer, deliberativer und konstitutioneller Demokratietheorien, die vieles für sich haben, aber am Ende nur noch etwas pflichtschuldig mit dem Gegenstand des Buches verbunden werden. Gleiches gilt für die beiden letzten Kapitel, die bis auf eine Relektüre des Fichteschen "Handelsstaats" sekundär gearbeitet sind. Jörke will die Präferenz alter republikanischer Theorien für kleinräumige Politik in ein Argument für nationalstaatliche und gegen europäische Demokratiemodelle übersetzen. Weil diese Übersetzung für moderne nationale Massendemokratien aber nicht funktionieren kann, muss er sich doch wieder anderer Argumentationsstränge bedienen, zu denen er selbst wenig beizutragen hat.
Das Fehlen von Überraschungsmomenten hängt, schließlich mit dem bekenntnishaften Zugang Jörkes zusammen. Man muss in der politischen Theorie politische Präferenzen nicht verstecken, doch erweist sich das Buch als eigenartige Kombination aus wissenschaftlichem Forschungsinteresse (Anti-Federalists) und politischem Motiv (linke EU-Kritik), die das Ganze auch qualitativ auseinanderfallen lässt. Da kann es passieren, dass sich das Narrativ selbst fortschreibt, etwa wenn der Verfasser behauptet, dass es sich bei den Befürwortern der europäischen Integration "größtenteils um Globalisierungsgewinner" handele. In einem Land voller Professoren, die dem Volk erzählen, dass es eigentlich gegen die europäische Integration sei, wartet man weiterhin vergebens auf einen empirischen Nachweis für diese These.
So führt das originelle Thema am Ende zu einer unfreiwilligen Präsentation der Aporien einer bestimmten Art linker Politik: national, aber natürlich nicht nationalistisch, dezentral, doch mit einem Plädoyer für Finanztransfers an ärmere Staaten und im Namen demokratischer Mehrheiten, die das freilich ganz anders sehen dürften. Jedenfalls für das eigene Buch, dessen erste drei Kapitel zur Lektüre nachdrücklich empfohlen seien, bestätigt sich die These seines Verfassers: Kleiner wäre es besser.
CHRISTOPH MÖLLERS.
Dirk Jörke: "Die Größe der Demokratie". Über die räumliche Dimension von Partizipation und Herrschaft.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 282 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dirk Jörkes Plädoyer für kleinräumige Politik lässt die Ausweglosigkeit einer linken EU-Kritik erkennen
Die Frage, welche die angemessene Größe für eine Republik sei, hat die frühneuzeitliche politische Theorie bis Rousseau eingehend beschäftigt, um dann mit dem Aufkommen des industrialisierten Nationalstaats und der Massendemokratie in den Hintergrund zu treten. Dirk Jörke, Professor für Politische Theorie an der TU Darmstadt, folgt diesem interessanten Theoriestrang in der hier vorzustellenden Monographie, einem "politisch-wissenschaftlichen Essay": Er rekonstruiert seine Ideengeschichte, fundiert ihn vergleichend empirisch und vermisst seine Bedeutung insbesondere für den Stand der Demokratisierung in der Europäischen Union.
Nach einer kurzen Einleitung zu seinem eigenen, auch die Gleichheit der Lebensbedingungen umfassenden Demokratiebegriff kommt der Verfasser zu Lektüren von Montesquieu und Rousseau sowie, besonders instruktiv und informiert, der amerikanischen Verfassungsdebatte zwischen Federalists und Anti-Federalists. Die Sympathien des Verfassers gehören den Vertretern der kleinen Republik, die, dies die These, wie Rousseau und die Anti-Federalists das demokratische Anliegen ernst genommen und mit dem Problem sozialer Gleichheit verbunden haben, während Vertreter der großen Föderation, allen voran Madison, ein liberales, letztlich elitäres Politikschema vertreten hätten.
Man wird sich fragen, ob diese historische Rekonstruktion und die das Buch durchziehende Gegenüberstellung von liberalen Zentralisten und republikanischen Kommunitaristen so glatt aufgeht. Die Einbeziehung eines einflussreichen Denkers wie Thomas Jefferson oder der französischen Tradition des Republikanismus, die einem heterogenen Land die sozialen Bedingungen demokratischer Herrschaft erst aufzwingen musste, hätten der Darstellung eine Spur mehr Dialektik verleihen können. Höflich unterschlagen wird auch, dass die Anti-Federalists nicht nur als Vorläufer progressiver politischer Bewegungen, sondern auch der Tea-Party und zunächst der rassistischen Südstaaten gelten müssen.
Im ersten systematischen Kapitel der Untersuchung legt Jörke eine klare Aufstellung der Argumente für und gegen große Demokratien sowie eine empirische Bestandsaufnahme des Verhältnisses zwischen Demokratie, sozialer Gleichheit und der Bevölkerungszahl vor. Sowohl die begriffliche Rekonstruktion als auch die differenzierte Analyse der Datensätze ergeben ein aufschlussreiches Bild, aus dem sich in der Tat ein Problem mit besonders bevölkerungsreichen Staaten, zugleich eine gewisse Demokratieaffinität mittlerer Staaten ergeben könnte. Es folgen kritische Kapitel zum Stand der europäischen Integration, die als neoliberales und undemokratisches Projekt dargestellt wird, eine Analyse elitistischer Demokratietheorien sowie zwei weitere Kapitel zur Wiedergewinnung wirtschaftspolitischer Handlungsfähigkeit auf Ebene des Nationalstaats. Das Buch endet mit einem Plädoyer für eine rückgebaute konföderative Europäische Union.
Die in vielem lehrreichen Überlegungen leiden an drei gravierenden Problemen. Zum Ersten bleibt die Fragestellung begrifflich unterbelichtet. Der Untertitel verweist auf "die räumliche Dimension von Herrschaft", zu Beginn spricht Jörke von Raum und Bevölkerung und will sich dann im dritten Kapitel ausschließlich auf die Frage der Bevölkerungszahl beschränken. Tatsächlich schreibt er einerseits über vielerlei mehr, über demokratische Identität, Öffentlichkeit, Nachvollziehbarkeit politischer Prozesse und die Länge institutioneller Stränge. Andererseits findet sich im ganzen Buch so gut wie nichts zur eigentlichen Theorie politischer Räume.
So ist es zum Zweiten kein Zufall, dass der Autor peu à peu seinen thematischen Faden verliert. Das vierte Kapitel ist eine kritische Darstellung des europäischen Integrationsprozesses, die sich weitgehend an den Überlegungen Fritz Scharpfs und Wolfgang Streecks orientiert, aber nicht erwähnt, dass es zu diesen Positionen wissenschaftlichen Widerspruch gibt. Das fünfte Kapitel liefert griffige Kritiken kosmopolitischer, deliberativer und konstitutioneller Demokratietheorien, die vieles für sich haben, aber am Ende nur noch etwas pflichtschuldig mit dem Gegenstand des Buches verbunden werden. Gleiches gilt für die beiden letzten Kapitel, die bis auf eine Relektüre des Fichteschen "Handelsstaats" sekundär gearbeitet sind. Jörke will die Präferenz alter republikanischer Theorien für kleinräumige Politik in ein Argument für nationalstaatliche und gegen europäische Demokratiemodelle übersetzen. Weil diese Übersetzung für moderne nationale Massendemokratien aber nicht funktionieren kann, muss er sich doch wieder anderer Argumentationsstränge bedienen, zu denen er selbst wenig beizutragen hat.
Das Fehlen von Überraschungsmomenten hängt, schließlich mit dem bekenntnishaften Zugang Jörkes zusammen. Man muss in der politischen Theorie politische Präferenzen nicht verstecken, doch erweist sich das Buch als eigenartige Kombination aus wissenschaftlichem Forschungsinteresse (Anti-Federalists) und politischem Motiv (linke EU-Kritik), die das Ganze auch qualitativ auseinanderfallen lässt. Da kann es passieren, dass sich das Narrativ selbst fortschreibt, etwa wenn der Verfasser behauptet, dass es sich bei den Befürwortern der europäischen Integration "größtenteils um Globalisierungsgewinner" handele. In einem Land voller Professoren, die dem Volk erzählen, dass es eigentlich gegen die europäische Integration sei, wartet man weiterhin vergebens auf einen empirischen Nachweis für diese These.
So führt das originelle Thema am Ende zu einer unfreiwilligen Präsentation der Aporien einer bestimmten Art linker Politik: national, aber natürlich nicht nationalistisch, dezentral, doch mit einem Plädoyer für Finanztransfers an ärmere Staaten und im Namen demokratischer Mehrheiten, die das freilich ganz anders sehen dürften. Jedenfalls für das eigene Buch, dessen erste drei Kapitel zur Lektüre nachdrücklich empfohlen seien, bestätigt sich die These seines Verfassers: Kleiner wäre es besser.
CHRISTOPH MÖLLERS.
Dirk Jörke: "Die Größe der Demokratie". Über die räumliche Dimension von Partizipation und Herrschaft.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 282 S., br., 18,- [Euro].
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» ... es gelingt [Jörke] ebenso überzeugend wie unterhaltsam, die Schwachstellen der EU zu finden und zu analysieren. Besonders wirkungsvoll ist, dass er beide Seiten ausführlich betrachtet: die EU-Skeptiker und ihre Ängste, aber auch die EU-Unterstützer und ihren Traum von einer Vertiefung der Union. Eine starke Grundlage für die Debatte über die Zukunft der EU- und der Nationalstaaten.« Berthold Merkle Neue Zürcher Zeitung 20190926