Gedichte nach Auschwitz
In ihrem einzigen Roman «Die größere Hoffnung» thematisiert die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger das Schicksal eines halbjüdischen Mädchens während der Nazizeit. Der 1948 erschienene Band ist eine vehemente Absage an die nach dem Zweiten Weltkrieg
weitverbreitete Kahlschlagliteratur, die darauf abzielte, die politische Vergangenheit ein für alle mal zu…mehrGedichte nach Auschwitz
In ihrem einzigen Roman «Die größere Hoffnung» thematisiert die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger das Schicksal eines halbjüdischen Mädchens während der Nazizeit. Der 1948 erschienene Band ist eine vehemente Absage an die nach dem Zweiten Weltkrieg weitverbreitete Kahlschlagliteratur, die darauf abzielte, die politische Vergangenheit ein für alle mal zu überwinden, einen radikalen Neubeginn zu erzwingen. Unbeirrt der Wahrhaftigkeit verpflichtet, schreibt die literarisch vielseitige Autorin mit diesem teilweise autobiografischen Roman nicht nur gegen die Verdrängung einer unliebsamen historischen Vergangenheit an, sie hinterfragt auch geschickt deren reale Vorbedingungen und analysiert ebenso scharfsinnig wie misstrauisch die wirksamen seelischen Triebkräfte, eine entschiedene Absage an jede Form von Konformismus.
Protagonistin des Romans ist Ellen, ein halbjüdisches Mädchen im Backfischalter, die bei der Großmutter lebt, weil die jüdische Mutter in die Emigration gehen musste und der Vater als Offizier die Familie verlassen hat, um seine Karriere nicht zu gefährden. Ellens große Hoffnung ist, der Mutter nach Amerika folgen zu können, dafür aber braucht sie ein Visum. In zehn Kapiteln entwickelt Ilse Aichinger ihre allegorische Geschichte über die Judenverfolgung am Beispiel von verfolgten Kindern mit «falschen Großeltern», die einen Judenstern tragen müssen, denen vieles verboten ist und die ständig mit der Angst vor der «geheimen Polizei» leben. Als der Krieg schließlich die Stadt erreicht, weitet sich der zunächst nur politische Wahnsinn zum absoluten Inferno, das sich jeder Deutung entzieht. Die traumatischen Erlebnisse und abenteuerlichen Begegnungen Ellens mit absurden Figuren sind konsequent aus Teenagersicht erzählt, deren Naivität literarisch als Vehikel genutzt wird, um das Unsagbare in Worte fassen zu können. Damit wird der Schrecken der Geschehnisse abgemildert, werden ihm fast märchenhafte Züge verleiht, eine konträre «Alice im Wunderland», ins Grauenhafte transformiert.
Die aus dieser speziellen Perspektive erzählte Geschichte bildet ein kunstvolles Konstrukt aus Träumen, Ängsten, Mythen und historischer Realität, chronologisch ungeordnet einer mal personalen, mal auktorialen Erzählhaltung folgend. Der lyrische Text dieser Gefühlswelt ist weitgehend unkonkret, bleibt beharrlich unbestimmt, ist geradezu surreal, in den Ängsten und Zwangsvorstellungen entfernt an Kafka erinnernd, aufgeladen mit reichlich Symbolismus. Er vermeidet konsequent jede Nennung von Namen und Orten des historischen Hintergrunds, umschreibt ganz bewusst reale Begriffe aus der Welt dieser schlimmsten Bösewichte der Menschheit. Die im ersten Drittel dominierende, ebenso märchenhafte wie konfuse Erzählweise wird später etwas abgemildert in ihrer Unstetigkeit, die wirren Gedankensprünge weichen einem etwas mehr auf Kontinuität im Erzählfluss setzenden Schreibstil, der gleichwohl die stete Aufmerksamkeit des Lesers fordert. Wer sich jedoch einlässt auf diese sehr spezifische sprachliche Form, wer sich den erzeugten Bildern überlässt, der schwimmt schon bald mit auf einem Wörterstrom von beeindruckender imaginativer Kraft, dessen Wirkung man sich kaum noch entziehen kann.
Die zur Verknappung neigende Ilse Aichinger hat sich über ihren wenig gelesenen Roman wie folgt geäußert: «Ich wollte zunächst eigentlich nur einen Bericht über die Kriegszeit schreiben. An ein Buch habe ich gar nicht gedacht, ich wollte nur alles so genau wie möglich festhalten. Als das Buch dann bei Fischer erschienen ist, stand noch immer viel zuviel drin. Ich wollte am liebsten alles in einem Satz sagen, nicht in zwanzig». Die so entstandenen Lücken muss der geneigte Leser füllen in diesem Klassiker, der auf beeindruckende Weise das Verdikt von Theodor W. Adorno über die Gedichte nach Auschwitz widerlegt.