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Bilderreich verpackt: Franco Cardini und Antonio Musarra legen eine Geschichte der Kreuzzüge vor, die bis ins zwanzigste Jahrhundert reicht.
Im Oktober des Jahres 2000, kurz nach den Unruhen auf dem Jerusalemer Tempelberg, mit denen die sogenannte zweite Intifada begann, trug ein jordanischer Autor und Aktivist in der Ruine eines antiken Theaters hoch über dem nördlichen Jordantal vor einem einheimischen Publikum seine Gedichte vor. Die Verse handelten von der Schmach des Islams, dessen heilige Stadt Jerusalem von den Feinden des wahren Glaubens besetzt sei, und von der Notwendigkeit eines Dschihad zu ihrer Wiedereroberung. Sie beschworen die Sehnsucht nach einem neuen Saladin, der das Schwert ergreifen und seine Truppen zum Triumph über die Ungläubigen führen werde, und sie prangerten die Mächte des Westens an, deren Kreuzzug gegen die Muslime am Ende doch scheitern müsse. Die Zuhörer quittierten den Vortrag des Dichters mit Beifallsrufen und lautem Applaus. Nur ein paar deutsche Archäologen, die ebenfalls dabeisaßen, klatschten nicht mit.
In der heutigen arabischen Welt, in den Ansichten ihrer Intellektuellen und ihrer Bevölkerungen, sind die Kreuzzüge kein abgeschlossenes Kapitel. Sie sind eine historische Realität, die ständig neu überarbeitet wird, je nachdem wie sie sich in einer aktuellen Krise politisch einsetzen lässt. Dabei kommt es weniger auf das tatsächliche Geschehen als auf seine mythisierende Deutung an. Anders als das Kolonialzeitalter endete die Ära der Kreuzzüge mit einem Sieg des Islams. Das macht sie als Bezugspunkt für muslimische Fundamentalisten jeder Couleur attraktiv.
Dass die "Große Geschichte der Kreuzzüge" der italienischen Mittelalterhistoriker Antonio Musarra und Franco Cardini der arabischen Sicht auf das Thema nur drei von sechshundert Seiten widmet, ist deshalb ein Fehler - ein entscheidendes Versäumnis in einem Buch, das daneben auch einige Vorzüge hat. Zu ihnen gehört die erweiterte Perspektive, aus der Musarra und Cardini auf ihren Gegenstand blicken. Anders als die klassischen Historiker der Kreuzzüge, zu denen sich zuletzt noch der englische Mediävist Thomas Asbridge als Nachzügler gesellt hat, lassen die beiden Italiener ihren Überblick nicht mit der gescheiterten Expedition Ludwigs IX. von Frankreich gegen Tunis von 1270 und dem Fall der Kreuzfahrerhauptstadt Akkon gut zwanzig Jahre später enden. Stattdessen verfolgen sie die Entwicklung des Kreuzzugsgedankens über die Türken- und die Barbareskenkriege bis ins zwanzigste Jahrhundert, in dem der Nahe Osten mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches, der Aufteilung seines arabischen Herrschaftsgebiets unter die Siegermächte von 1918 und der Gründung des Staates Israel erneut in den Brennpunkt der Geschichte rückte.
Dabei geben sie, was ebenfalls zu begrüßen ist, den zeitgenössischen Imaginationen und Theorien ihrer Thematik beinahe ebenso viel Raum wie der Ereignisgeschichte. Dadurch wird zum Beispiel deutlich, dass der Aufruf Papst Urbans II. in Clermont im November 1095 keineswegs aus heiterem Himmel kam, sondern einen längeren Vorlauf etwa in Form von päpstlichen Freibriefen für Kaperfahrten italienischer Seestädte gegen ihre nordafrikanischen Konkurrenten hatte. Auch der Begriff, mit dem Eroberung und Raub zur christlichen Mission umgedeutet wurden, ist nicht mittelalterlichen, sondern frühneuzeitlichen Ursprungs. Seinerzeit sprach man von "officium", "servitium" oder auch "negotium crucis", wenn man bewaffnete Wallfahrten gegen Ungläubige meinte. Dabei wurde die "crux transmarina", der Aufbruch ins östliche und südliche Mittelmeer, sorgfältig von der "crux cismarina" unterschieden, dem innerchristlichen Kampf gegen Ketzer und andere Widersacher des Papstes. Erst später, als sich nach dem Verlust des Heiligen Landes der europäische Expansionsdrang auf die Küstenregionen des Atlantischen und des Indischen Ozeans richtete, kamen "cruciata", "croisade" und "crusade" allenthalben in Schwang.
An der Frage, wie sich das christliche Missionsgebot mit einer kriegerischen Interessenpolitik vereinbaren ließe, hat sich die Geisteselite Europas jahrhundertelang abgearbeitet, von Bernhard von Clairvaux und Nikolaus Cusanus bis zu Gottfried Wilhelm Leibniz, der Ludwig XIV. einen Plan zur Eroberung Ägyptens unterbreitete (den dann Napoleon verwirklichte). Als im neunzehnten Jahrhundert der Glanz der Aufklärung verblasste, kehrte die Ritterromantik mit all ihrem ideologischen Ballast zurück. Kreuzzugsphantasien beflügelten die französische Eroberung von Algier im Jahr 1830 und die Kriege des Zarenreichs gegen die Osmanen. Mit den willkürlichen Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg überspannte der westliche Einflussbereich schließlich auch Syrien und Palästina.
In diesem Augenblick erwachte in den Bevölkerungen der neu gegründeten arabischen Staaten und der Mandatsgebiete, die sich um ihre Selbstbestimmung betrogen sahen, das Kreuzzugsnarrativ nach sechshundertjährigem Schlummer zu neuem Leben - und mit ihm das Konzept des Dschihad gegen die Feinde Allahs. Bis heute prägen beide das Verhältnis der arabischen Welt zum Westen. Deshalb ist es nachgerade fahrlässig, den Dschihadismus in seinen verschiedenen Ausprägungen als eine "in erster Linie demagogische Position" abzutun, wie Cardini und Musarra es tun. Auch die Kreuzzugsideologie war ein willfähriges Instrument in den Händen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Demagogen. Gleichwohl bestimmte sie das Weltbild von Päpsten, Königen, Zaren und Dichtern und trieb Menschenmassen auf den - meist tödlichen - Weg ins Ungewisse. Der Appell der beiden Historiker, jede der streitenden Parteien möge akzeptieren, "was in der Kultur der anderen akzeptabel ist", wirkt daher angesichts der Gemengelage nach dem 11. September 2001 wie Pfeifen im Wald. Samuel Huntingtons Metapher vom Kampf der Kulturen, in der die Autoren den Inbegriff westlichen Hegemonialdenkens sehen, könnte am Ende doch mehr Beschreibungsqualitäten besitzen, als Cardini und Musarra ihr zutrauen.
Der zweite wichtige Einwand gegen das Buch betrifft einen Punkt, den die Autoren wohl nur teilweise zu verantworten haben. Es geht um die Aufmachung des Bandes. Ungefähr jede zehnte Seite der "Großen Geschichte der Kreuzzüge" ist mit üppigen, oft ganzseitigen Illustrationen bedeckt, darunter Gemälde von Tizian, Vasari und Delacroix, aber auch Bilder der Salonmaler des neunzehnten Jahrhunderts und Grafiken von Gustave Doré. Dieses Anschauungsmaterial wird aber nicht etwa in der Reihenfolge seiner Entstehung ausgebreitet, sondern als visuelle Unterlage für historische Personen und Ereignisse verwendet, sodass wir Gottfried von Bouillon und Balduin von Jerusalem durch den Pinsel der Historienmaler der Salles des Croisades in Versailles, Friedrich Barbarossa in der Version des Nazareners Christian Siedentopf und die osmanische Eroberung von Konstantinopel in der Fassung des Italieners Fausto Zonaro kennenlernen.
Eine seriöse Bebilderungsstrategie für historische Darstellungen sieht anders aus. Die Kreuzzüge waren als mentalitätsgeschichtliches Ereignis ungleich bedeutender denn als reales Geschehen: Sie kosteten das Leben von Hunderttausenden und bewegten die Phantasie von Abermillionen. Auch darüber hätte man anhand von Bildzeugnissen nachdenken können. Dieses Buch tut es nicht. Stattdessen verwendet es Bilder als beliebige Verpackungsmittel für seine Inhalte. Damit wird es weder der Geschichte gerecht noch der Kunst, in der sie sich spiegelt. ANDREAS KILB
Franco Cardini, Antonio Musarra: "Die große Geschichte der Kreuzzüge". Von den Soldaten Christi bis zum Dschihad.
Von den Soldaten bis zum Dschihad. Aus dem Italienischen von Victoria Lorini und Rita Seuß. wbg/Theiss, Darmstadt 2022. 600 S., 185 Abb., geb., 48,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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