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Irina Liebmann geht durch Berlins Mitte und notiert Verluste
Der Großen Hamburger Straße im alten Viertel von Berlin Mitte sieht man ihre zweihundertjährige Geschichte immer noch an. Doch es gibt tiefgehende Veränderungen und nicht nur diejenige Lücken, die Bomben im Zweiten Weltkrieg gerissen haben. Ein großer Teil der Bewohner ist es, der heute in diesem Viertel zwischen der Oranienburger und der Auguststraße fehlt.
Bis in die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts lebten hier Juden, Protestanten und Katholiken friedlich zusammen, gingen in den Hinterhöfen ihrem Handwerk oder Gewerbe nach und bauten sich ihre Schulen oder Gotteshäuser, die Große Synagoge in der Oranienburger Straße ist nicht weit und die Sophienkirche auch nicht. Wie nahe alles so beieinander war, spürt man noch trotz aller Veränderungen. Aus dem Jüdischen Friedhof ist ein Park geworden, aber das Jüdische Krankenhaus, einst das zweitgrößte Berlins nach der Charité, wurde nicht wieder aufgebaut. Das ehemalige Jüdische Gymnasium war das Sammellager , von dem aus die Transporte in die Vernichtungslager Auschwitz und Theresienstadt abfuhren. "Die kamen dann weg, ist allgemein hier die Ausdrucksweise für den Sachverhalt Mord", so beschreibt es Irina Liebmann.
Die 1943 in Moskau geborene Autorin hat diesem Stadtteil bereits 1994 in ihrem preisgekrönten Roman "In Berlin" ein Denkmal gesetzt. Sprunghaftes Erzählen und genaue Beobachtung sind auch in ihrem neuen Buch ihre Stilmittel. Einige Figuren - Eva, Manne und andere - tauchen wieder als ihre Gesprächspartner auf. Doch deren Probleme - das Leben in einer geteilten Stadt, die Sehnsucht nach westlicher Freiheit - bestimmen nur noch in Rückblenden den Handlungsverlauf. Denn inzwischen ist die Mauer gefallen. Einige dieser Protagonisten sind in den Westen Berlins gezogen und kommen nur noch zu Besuch in ihr altes Viertel. Sie treffen sich in einem Café, dem einzigen, das hier von damals übrig geblieben ist.
Früher gab es in der Großen Hamburger Straße so viele Cafés, Gasthöfe und Kneipen wie sonst nirgendwo. Aber den Stammtisch gibt es noch, für Irina Liebmann eine Quelle von Informationen über die Häuser, die ehemaligen Bewohner und deren Geschichte, ehe die Stimmen im Alkoholdunst versickern. Die Informanten sind alt geworden wie die Autorin. Weiss jemand noch etwas Genaues? Es ist eine manchmal verwirrende Flut von Eindrücken und Auskünften, die da zusammenkommt. Manchmal finden sich auch alte Notizen oder Übriggebliebenes von längst veröffentlichen Büchern auf dem Schreibtisch.
Unbekümmert mischt Irina Liebmann das alles mit Aktuellem. Die Erkundung der Straße Haus für Haus, um zu einem Gesamtbild zu kommen, gelingt ihr allerdings nicht immer. Und warum sie ihre Spurensuche Roman genannt hat, ist auch nicht einzusehen. Man vermisst das lebendige Erzählen in ihren früheren Berlinromanen und vor allem in dem eindrucksvollen Porträt ihres Vaters Rudolf Herrnstadt - er war nach seiner Rückkehr aus Moskau 1945 der erste Chefredakteur der Zeitung "Neues Deutschland".
Doch Autobiografisches fehlt auch hier nicht. Irina Liebmann sieht sich bei ihrer Spurensuche zu und beteiligt zugleich den Leser. Spannung entsteht, wenn sich aus Bruchstücken endlich ein klares Zeitfenster auftut, wenn die Vergangenheit gegenwärtig wird. Berliner Adressbücher, Stadtpläne seit 1880, Kirchenbücher und Baupläne haben zum großen Teil den zweiten Weltkriegs kaum beschädigt überstanden. Sie sind das zuverlässige Material, auf das sich Irina Liebmann außer den Erinnerungen der Stammtischgäste stützen konnte.
Die Fragen am Anfang: "Wie kam das, was ist geschehen?" und "Was haben wir falsch gemacht, was ist zu tun" bleiben jedoch ohne schlüssige Antwort. Der Satz "die toten Juden sind nicht vergessen, also sind sie nicht wirklich tot" ist eher eine Beschwörung als ein Zeichen glaubwürdigen Überlebens.
MARIA FRISÉ.
Irina Liebmann: "Die Große Hamburger Straße". Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2020. 336 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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