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Der Populationsgenetiker Lluís Quintana-Murci zeichnet die globale Verbreitung der Menschheit nach
Wenn die Archäologenbürste ihr Werk vollbracht und das Fossil von der letzten Staubschicht befreit hat, macht heute meistens das Elektronenmikroskop weiter. Der Fortgang vom Feinsten zum Kleinsten, vom Staubkörnchen zum Gen eröffnet nicht unbedingt eine neue Welt. Wohl aber einen ganz neuen Blick. Denn zoomt man vom Gensegment zurück zum Gesamtbild der Lebensspuren auf der Erdoberfläche, zeigen sich Migrationswege, Genflüsse, Verzweigungen, Kreuzungen, Durchmischungen, fortwährende Variabilität: ein Jahrmillionen umfassendes Puzzle der Lebensentwicklung und ein Spurenmuster der Wanderbewegung unserer Vorfahren über Kontinente und Meere. All das wird im Buch von Lluís Quintana-Murci auf dem aktuellen Erkenntnisstand vor Augen geführt.
Der spanisch-französische Autor, Professor am Pariser Institut Pasteur und seit fünf Jahren am Collège de France, zeichnet ein so breites wie detailliertes Panorama seines Fachgebiets, der menschlichen Populationsgenetik. Diese aus der Genforschung hervorgegangene Wissenschaft reicht weit über die Biologie hinaus in Bereiche der Kulturgeschichte und Zivilisationsgeographie. Quintana-Murci skizziert zu Beginn des Buchs kurz die Anfänge dieses Wissensgebiets. Es begann mit zwei zunächst getrennt fortwirkenden Forschungsimpulsen, Darwins Evolutionstheorie und Gregor Mendels Vererbungsregeln. Erst im zwanzigsten Jahrhundert hätten die beiden Stränge in der Genetik zusammengefunden und, empirisch beschleunigt durch die 1953 entdeckte Doppelhelixstruktur der DNA und dann durch die Technik der Genomsequenzierung, ein neues Forschungsfeld eröffnet.
Die Möglichkeit, Genomsequenzen aus alten menschlichen Knochenfunden mit denen heutiger Populationen zu vergleichen, brachte die Paläogenomik hervor. Fragen, über welche die Archäologie rätselte, fanden plötzlich Antworten aus dem Labor. Hat etwa der Ackerbau sich ursprünglich durch Völkermigration oder durch bloße Migration der Technik durchgesetzt? Die Antworten auf diese und all die anderen Fragen kamen so eindeutig, dass der Autor sich im Enthusiasmus für sein Fachgebiet manchmal überschlägt. "Auch hier gibt die Genomik wiederum Auskunft", lautet ein wiederholt durchs Buch hallender Freudenruf.
Dass der Mensch nicht vom Affen abstammt, wissen wir heute. Er ist ein Affe. So jedenfalls sieht es einer, der die Welt aus den Genen deutet. Bei zwei Dritteln der DNA-Sequenz seien Menschen und Schimpansen einander näher als beide dem Gorilla. Was sich daraus ergab, ist Thema des in fünf Teile aufgefächerten Buchs, von denen die wichtigsten die Verbreitung der Menschen über die Erde, deren Adaptation an die Umwelt und deren Vermischung nachzeichnen.
Große Übereinstimmung herrscht heute über den afrikanischen Ursprung unserer Gattung. Was mit dem Homo sapiens, dessen Aufkommen in Afrika aufgrund neuer Funde auf 300.000 Jahre zurückdatiert werden musste, dann passierte, ist das große Abenteuer, zu dem die Paläogenomik neue Aufschlüsse liefert. Nach einer ersten Auswanderungswelle aus Afrika vor 200.000 Jahren breitete er sich dann wohl in einer zweiten Welle vor etwa 60.000 Jahren allmählich über praktisch die gesamte Erdoberfläche aus. Die Genetiklabors rund um die Welt lassen heute die Mikroskope und Computer heiß laufen, um Hypothesen und Szenarien zu schmieden. Lokal muss sich der Homo sapiens jeweils mit dem Neandertaler, mit dem 2010 in Sibirien anhand eines Fingergliedfunds entdeckten Denisova-Menschen und mit anderen ausgestorbenen archaischen Menschenarten vermischt haben. Er beanspruchte dieselbe ökologische Nische wie sie und muss als invasive Art mit höherem Fortpflanzungserfolg sie alle ausgelöscht haben, nachdem er einiges von ihrem Immunsystem und ihrer jeweiligen lokalen Kälte- oder Hitzeresistenz in sein Genom aufgenommen hatte. In vier Phasen hat er offenbar vor 45.000 Jahren begonnen, Europa zu besiedeln. In Asien hatte er sich entlang der Südküste schon früher ausgebreitet. Vor 40.000 Jahren stand er in Neuseeland und vor 15.000 Jahren gelangte er, so der Migrationszeitplan von Quintana-Murci, über die Beringstraße nach Amerika.
Zu den interessantesten Aspekten des Buchs gehören die Kapitel über die durch lange Vermischung angehäufte Vielfalt des Gen-Erbguts in Bezug auf geographische, klimatische und zivilisationsgeschichtliche Zusammenhänge. Laktase-Gene für die Milchverdauung in Breitengraden, die Viehzucht erlauben, phänotypische Gene dunkler oder heller Hautpigmentierung zum Schutz vor UV-Strahlen beziehungsweise für bessere Aufnahme von Vitamin D aus dem Sonnenlicht, Gene für geringere Körpergröße im lebensfeindlichen Regenwald, Genmutationen zur Regulierung der Zellreaktion auf Hypoxie in den sauerstoffarmen Höhenlagen Tibets, der Anden oder des äthiopischen Hochlands - alles Fälle von positiver Genmutation. Zusammen mit den aussortierenden negativen Veränderungen machte sie die natürliche Selektion unserer Art aus. Variation, Adaptation, Erblichkeit lautet das Funktionsprogramm. Eine fast philosophische Frage ist dabei, ob diese Prozesse einer Optimierungslogik folgen, wie Darwin meinte, oder ob sie das Ergebnis blinder Gendrift sind, wie die "neutrale" Evolutionstheorie des Japaners Motoo Kimura besagt. Die Wirklichkeit liege "irgendwo dazwischen", schreibt Quintana-Murci, ohne weiter darauf einzugehen. Gern hätte man erfahren, wie so eine Zwischentheorie aussähe.
Wiederholt betont der Autor, wie sehr die Durchmischung unser Dasein von Anfang prägte. Reine Abstammungslinien gebe es nicht, so gern die identitären Ideologen dies hätten. Die Einteilung in Völker oder Rassen ist ein soziales Konstrukt. Als Beweis nennt Quintana-Murci die Erkenntnis, dass durchschnittlich 85 Prozent der genetischen Variabilität unter den Menschen innerhalb einer Bevölkerung aufträten, nicht zwischen den Populationen. Das bedeutet allerdings auch, dass die Unterschiede nicht einfach mit der Bemerkung abgetan werden können, wir seien doch im Grund alle gleich. Eben nicht. Die Forschung nach Optimierung der medizinischen Diagnosen und Therapien unterschätze die Diversität zwischen den Populationen, beklagt der Autor. Die meisten Studien bezögen sich heute auf urbane Populationen überwiegend europäischer Herkunft, deren Ergebnisse nicht ohne Weiteres auf die Weltbevölkerung übertragbar seien. In seinem Ausblick hofft er auf eine Präzisionsmedizin mit besserer Berücksichtigung der Populationseigenheiten. Dass in unserem Genom mit seinen drei Milliarden Buchstaben stets derselbe und doch immer wieder ein anderer Text steht, ist ein Paradox, das in diesem Buch mit Beispielen und Daten klar und verständlich umkreist wird. JOSEPH HANIMANN
Lluís Quintana-Murci: "Die große Odyssee". Wie sich die Menschheit über die Erde verbreitet hat.
Aus dem Französischen von Elisabeth Ranke. C. H. Beck Verlag, München, 2024. 288 S., geb., 28,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Joseph Hanimann
"Ein spannendes, sehr lesenswertes Buch."
Deutschlandfunk, Dagmar Röhrlich
"Hier erklärt ein Experte für Laien verständlich, wie es die Menschheit schaffte, sich aus Afrika heraus über die Welt zu verbreiten."
Handelsblatt, Josefine Fokuhl
"Wer mehr über unsere Menschwerdung und unser Menschsein erfahren möchte, sollte beide Bücher lesen."
Ärzte Woche, Raoul Mazhar
"Faszinierend ... allgemein verständlich"
Buchkultur, Martin Kugler
"Ein ungemein ergiebiges, durch die Aktualität des Forschungsfelds spannendes Buch."
Spektrum der Wissenschaft, Michael Springer