Peter Rosei ist immer in Bewegung gewesen, geleitet von einer unerschöpflichen Neugierde auf Landschaften und Städte, auf Menschen und ihre Geschichten. "Die große Straße" versammelt erstmals seine Aufzeichnungen aus fünf Jahrzehnten und drei Kontinenten. Wir lernen Peter Rosei als Reisenden kennen, der nicht nur scharf beobachtet und viel weiß, sondern sich auch durchlässig macht für Eindrücke und Bilder, für Gerüche und Klänge, der sich dem Fremden geduldig annähert und ihm dennoch seine Faszination belässt. Von Peking nach Los Alamos, von Seoul nach Kiew, von Paris über Bratislava nach Texas und Istanbul führt uns dieses wunderbar labyrinthische Buch, das erfüllt ist von der Dankbarkeit des Autors für die Buntheit der Welt und die Vielfalt des menschlichen (Über)lebens.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.01.2020REISEBUCH
Lebenslang
unterwegs
Peter Rosei hat sich die
Neugier auf Menschen erhalten
Der österreichische Schriftsteller Peter Rosei ist ein Reisender. Immer schon gewesen, und lieber als das Ländliche mag er urbane Zentren. Weil er sich in denen offenkundig besser verlieren kann. Über die Jahrzehnte sind Notizen entstanden, kurze Aufzeichnungen aus aller Welt. Die meisten davon sind bereits irgendwo einmal erschienen. Nun aber hat Rosei sie gebündelt in seinem Band „Die große Straße“.
Wo diese losgeht, das lässt sich noch sagen, auch wenn der erste Weg in dem Buch nach China führt: in Wien nämlich. Dort ist Rosei geboren, von dort aus startet er heute noch immer wieder in die Welt. Ob ihm die Stadt noch Heimat ist, bleibt allerdings rätselhaft. Er lebe in Wien und auf Reisen, heißt es in seinem Autorenprofil. Rosei selbst schreibt in einer Notiz aus und über Wien, er habe der Stadt den Rücken gekehrt. Demnach wäre auch jeder Aufenthalt dort: eine Station entlang der großen Straße. Wohin sie führt, ist nicht absehbar. Sie hat kein Ziel, ihr Verlauf ist verspielt, scheinbar zufällig, vielleicht sogar krude.
Peter Rosei hat die Texte nicht chronologisch sortiert. Tendenziell beginnt er in der Gegenwart und reist immer weiter zurück in die eigene Vergangenheit. Je älter er wurde, desto weiter haben ihn seine Reisen geführt, oft nach Asien. Er findet dort keinen Vergleichsmaßstab, speziell in China. Jede Stadt, die er dort besucht, hat mehr Einwohner als ganz Österreich, er sieht nachts keine Sterne und tagsüber die Sonne nur durch einen Dunstschleier. Es gibt selten einen Kern, ein Zentrum, von dem alles ausgeht. Schiere Überwältigung.
Der Autor, der so viel gesehen hat, ist nach wie vor neugierig. Nicht auf das Weltkulturerbe, auf Kunstschätze und Heiligtümer, so sehenswert sie auch seien, sondern darauf, was fremde oder mittlerweile auch vertraute Orte in ihm auslösen – und auf Menschen. Auf die japanische Gesellschaft zum Beispiel, auf die kambodschanische Arbeiterschaft, die sich zu einem Streik rüstet, auf die Lebensbedingungen der Fidschianer.
Immer deutlicher nimmt er im Lauf der Jahre die Rahmenbedingungen und Folgen von Tourismus wahr, erlebt, wie Reisende mitunter als Neo-Kolonialisten gesehen werden und dass Einheimische in Entwicklungsländern oft nur ein paar Münzen abbekommen von dem Geld, das Touristen ausgeben. Das große Geschäft machen einheimische Eliten und internationale Konzerne. In den Aufzeichnungen aus Europa wird der Band besonders anregend, wenn Peter Rosei im ehemaligen Habsburger Reich unterwegs ist, in Budapest, Prag, Bratislava, Triest und Temesvar. Und beobacht, ob und wie sich die k .u. k.-Bürgerlichkeit im Kommunismus gewandelt oder eventuell auch erhalten hat.
Auf den bloßen Augenschein beschränkt Rosei sich nicht. Häufig legen sich Literatur, Malerei, auch Film über seine Beobachtungen. In Paris geht er so weit, dass er sich fragt, ob die Kunstwerke, die Paris zum Gegenstand haben, nicht „die eigentliche Stadt sind“.
Manchmal genügen Peter Rosei zwei, drei lapidare Sätze, um ein Problem oder eine Schlussfolgerung auf den Punkt zu bringen. Wobei er nicht dazu neigt, letztgültige Wahrheiten zu verkünden. Seine Perspektive ist eine unter vielen.
Es ist vergnüglich, mit ihm durch die Welt zu stromern. Weil beinahe alles absichtslos geschieht. Weil Rosei ein Auge für kleine Begebenheiten hat, die für etwas Größeres stehen. Und weil er zu unterscheiden weiß. Mit Zürich, zum Beispiel, kann er wenig anfangen. London ist ihm lieber als Paris, denn in Englands Hauptstadt gebe es „keine Stelle, keinen Ort, keine Ecke, wo sie einen mit Absicht beeindrucken will“. Dort fühlt er sich am wohlsten: Wo nichts und niemand um ihn buhlt.
STEFAN FISCHER
Peter Rosei: Die große Straße. Reiseaufzeichnungen. Residenz Verlag, Salzburg und Wien 2019. 256 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Lebenslang
unterwegs
Peter Rosei hat sich die
Neugier auf Menschen erhalten
Der österreichische Schriftsteller Peter Rosei ist ein Reisender. Immer schon gewesen, und lieber als das Ländliche mag er urbane Zentren. Weil er sich in denen offenkundig besser verlieren kann. Über die Jahrzehnte sind Notizen entstanden, kurze Aufzeichnungen aus aller Welt. Die meisten davon sind bereits irgendwo einmal erschienen. Nun aber hat Rosei sie gebündelt in seinem Band „Die große Straße“.
Wo diese losgeht, das lässt sich noch sagen, auch wenn der erste Weg in dem Buch nach China führt: in Wien nämlich. Dort ist Rosei geboren, von dort aus startet er heute noch immer wieder in die Welt. Ob ihm die Stadt noch Heimat ist, bleibt allerdings rätselhaft. Er lebe in Wien und auf Reisen, heißt es in seinem Autorenprofil. Rosei selbst schreibt in einer Notiz aus und über Wien, er habe der Stadt den Rücken gekehrt. Demnach wäre auch jeder Aufenthalt dort: eine Station entlang der großen Straße. Wohin sie führt, ist nicht absehbar. Sie hat kein Ziel, ihr Verlauf ist verspielt, scheinbar zufällig, vielleicht sogar krude.
Peter Rosei hat die Texte nicht chronologisch sortiert. Tendenziell beginnt er in der Gegenwart und reist immer weiter zurück in die eigene Vergangenheit. Je älter er wurde, desto weiter haben ihn seine Reisen geführt, oft nach Asien. Er findet dort keinen Vergleichsmaßstab, speziell in China. Jede Stadt, die er dort besucht, hat mehr Einwohner als ganz Österreich, er sieht nachts keine Sterne und tagsüber die Sonne nur durch einen Dunstschleier. Es gibt selten einen Kern, ein Zentrum, von dem alles ausgeht. Schiere Überwältigung.
Der Autor, der so viel gesehen hat, ist nach wie vor neugierig. Nicht auf das Weltkulturerbe, auf Kunstschätze und Heiligtümer, so sehenswert sie auch seien, sondern darauf, was fremde oder mittlerweile auch vertraute Orte in ihm auslösen – und auf Menschen. Auf die japanische Gesellschaft zum Beispiel, auf die kambodschanische Arbeiterschaft, die sich zu einem Streik rüstet, auf die Lebensbedingungen der Fidschianer.
Immer deutlicher nimmt er im Lauf der Jahre die Rahmenbedingungen und Folgen von Tourismus wahr, erlebt, wie Reisende mitunter als Neo-Kolonialisten gesehen werden und dass Einheimische in Entwicklungsländern oft nur ein paar Münzen abbekommen von dem Geld, das Touristen ausgeben. Das große Geschäft machen einheimische Eliten und internationale Konzerne. In den Aufzeichnungen aus Europa wird der Band besonders anregend, wenn Peter Rosei im ehemaligen Habsburger Reich unterwegs ist, in Budapest, Prag, Bratislava, Triest und Temesvar. Und beobacht, ob und wie sich die k .u. k.-Bürgerlichkeit im Kommunismus gewandelt oder eventuell auch erhalten hat.
Auf den bloßen Augenschein beschränkt Rosei sich nicht. Häufig legen sich Literatur, Malerei, auch Film über seine Beobachtungen. In Paris geht er so weit, dass er sich fragt, ob die Kunstwerke, die Paris zum Gegenstand haben, nicht „die eigentliche Stadt sind“.
Manchmal genügen Peter Rosei zwei, drei lapidare Sätze, um ein Problem oder eine Schlussfolgerung auf den Punkt zu bringen. Wobei er nicht dazu neigt, letztgültige Wahrheiten zu verkünden. Seine Perspektive ist eine unter vielen.
Es ist vergnüglich, mit ihm durch die Welt zu stromern. Weil beinahe alles absichtslos geschieht. Weil Rosei ein Auge für kleine Begebenheiten hat, die für etwas Größeres stehen. Und weil er zu unterscheiden weiß. Mit Zürich, zum Beispiel, kann er wenig anfangen. London ist ihm lieber als Paris, denn in Englands Hauptstadt gebe es „keine Stelle, keinen Ort, keine Ecke, wo sie einen mit Absicht beeindrucken will“. Dort fühlt er sich am wohlsten: Wo nichts und niemand um ihn buhlt.
STEFAN FISCHER
Peter Rosei: Die große Straße. Reiseaufzeichnungen. Residenz Verlag, Salzburg und Wien 2019. 256 Seiten, 22 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.01.2021Die Suche nach der Kindheit
"Meine Neigung führt mich immer an die Ränder hinaus." Der österreichische Schriftsteller Peter Rosei hat seine diversen Welteckenerkundungen, Kiez- und Vorstadtskizzen aus Asien, Amerika und Europa, die zuerst meist in diversen Feuilletons erschienen, zu einer "Lebensgeschichte, in Form eines Logbuchs" gebündelt. An Tokio fasziniert ihn die "Verbindung von Dörflichkeit und Metropolis", Hightech und "mittelalterlicher Selbstgenügsamkeit" der Handwerksbetriebe als grenzenlose Urbanwüste mit Lebenskernen: "Eine Art Myzel, eine Milchstraße oder Korallenbank aus vielen kleineren Städten." Immer wieder sucht er nach dem verlorenen lokalen "Faden oder Flicken im globalen Geflecht". In Detroit habe jede Schicht und Einkommensklasse ihre eigene Vorstadt, wobei Amerikas segregierte Träume und Stadträume nur "durch die Interdependenz ihrer Bewohner im großen ökonomischen Prozess" verbunden sind. In Paris betören und verstören ihn die "unheimliche Verdichtung des Lebens" und die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Lebensformen und Quartiers, wobei die dichterischen "Texte, die sich im Lauf der Zeit über die Stadt gelegt haben", als touristische Illusion die "eigentliche Stadt" seien. In Istanbul erkundet er den Basar als Sinnesraum und globalen konsumistischen "Termitenbau". Die zwischen 1972 und 2018 entstandenen Essays zeigen große stilistische Bandbreite: vom frühen, mit aufrührerischer Verve verfassten Peking-Porträt oder halluzinogen-flirrenden Amsterdam-Text voller Melancholie über die bloß geträumte Revolte über Aufsätze, in denen die Aura der Stadt wie das Kanalsystem Venedigs philosophisches Dekor für Gedanken über die "Relativität des Subjekts" wird, bis hin zu Gratwanderungen in den Alpen, in deren "roher, gewalttätiger Leere" er Seelenabgründen gewahr wird. Leitmotiv allen Reisens und Schreibens ist Roseis Suche nach der verlorenen Kindheit und einer marginalen Weltvergessenheit: "Ich bin nicht auf der Suche nach mir selbst. Ich suche das Andere, das Fremde - weil ich dort auch bin."
sg
"Die große Straße. Reiseaufzeichnungen" von Peter Rosei. Residenz Verlag, Salzburg 2020. 256 Seiten. Gebunden, 22 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Meine Neigung führt mich immer an die Ränder hinaus." Der österreichische Schriftsteller Peter Rosei hat seine diversen Welteckenerkundungen, Kiez- und Vorstadtskizzen aus Asien, Amerika und Europa, die zuerst meist in diversen Feuilletons erschienen, zu einer "Lebensgeschichte, in Form eines Logbuchs" gebündelt. An Tokio fasziniert ihn die "Verbindung von Dörflichkeit und Metropolis", Hightech und "mittelalterlicher Selbstgenügsamkeit" der Handwerksbetriebe als grenzenlose Urbanwüste mit Lebenskernen: "Eine Art Myzel, eine Milchstraße oder Korallenbank aus vielen kleineren Städten." Immer wieder sucht er nach dem verlorenen lokalen "Faden oder Flicken im globalen Geflecht". In Detroit habe jede Schicht und Einkommensklasse ihre eigene Vorstadt, wobei Amerikas segregierte Träume und Stadträume nur "durch die Interdependenz ihrer Bewohner im großen ökonomischen Prozess" verbunden sind. In Paris betören und verstören ihn die "unheimliche Verdichtung des Lebens" und die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Lebensformen und Quartiers, wobei die dichterischen "Texte, die sich im Lauf der Zeit über die Stadt gelegt haben", als touristische Illusion die "eigentliche Stadt" seien. In Istanbul erkundet er den Basar als Sinnesraum und globalen konsumistischen "Termitenbau". Die zwischen 1972 und 2018 entstandenen Essays zeigen große stilistische Bandbreite: vom frühen, mit aufrührerischer Verve verfassten Peking-Porträt oder halluzinogen-flirrenden Amsterdam-Text voller Melancholie über die bloß geträumte Revolte über Aufsätze, in denen die Aura der Stadt wie das Kanalsystem Venedigs philosophisches Dekor für Gedanken über die "Relativität des Subjekts" wird, bis hin zu Gratwanderungen in den Alpen, in deren "roher, gewalttätiger Leere" er Seelenabgründen gewahr wird. Leitmotiv allen Reisens und Schreibens ist Roseis Suche nach der verlorenen Kindheit und einer marginalen Weltvergessenheit: "Ich bin nicht auf der Suche nach mir selbst. Ich suche das Andere, das Fremde - weil ich dort auch bin."
sg
"Die große Straße. Reiseaufzeichnungen" von Peter Rosei. Residenz Verlag, Salzburg 2020. 256 Seiten. Gebunden, 22 Euro.
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