In einer Zeit, in der die politische Landschaft im Umbruch ist und die Volksparteien zerfallen, werden ausgerechnet die Grünen zum Hort der Stabilität, staatstragend und seriös. Habeck und Baerbock sind die Stars der deutschen Politik und versprechen, Antworten auf die Megafragen des 21. Jahrhunderts zu geben. Sogar das Kanzleramt ist in Reichweite. Aber funktionieren ihre Konzepte? Retten sie wirklich die Welt? Die Antworten von Grünen-Kenner Schulte sind erstaunlich: Die Parteispitze gibt sich zwar kämpferisch und radikal, in Wirklichkeit aber achtet sie sorgfältig darauf, ihr Klientel nicht zu überfordern. Und das sind längst nicht mehr die Latzhosen oder Wollpullis tragenden Hardcore-Ökos, sondern wir alle. Dieses Buch liefert eine Bestandsaufnahme des grünen Erfolges, nah dran, präzise und unterhaltsam. Der Grünenkenner Ulrich Schulte schreibt nicht nur über die Partei und ihr erfolgreiches Personal, sondern auch über die bürgerlichen Milieus, die sie wählen. Er hält den Grünen, aber auch ihren Wählerinnen und Wählern einen Spiegel vor - und konfrontiert sie mit ihren Widersprüchen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2021Bienenkästen auf dem Balkon des Kanzleramts
Wollen die Grünen das Land verändern? Eine Analyse zu Schein und Sein der Umweltpartei.
Von Helene Bubrowski
Die Vorstellung, dass die Kanzlerschaft schon bald in den Händen der Grünen liegen könnte, polarisiert. Manche fürchten, damit stelle sich Deutschland ins Abseits, eine Politik von Verboten und Enteignungen gefährde alles, was das Land stark und erfolgreich macht. Für einen anderen Teil der Deutschen dagegen ist eine grün geführte Bundesregierung der Aufbruch in eine bessere Zeit, der Klimawandel würde gestoppt, die Flüchtlingspolitik humaner und die Verteilung des Wohlstands gerechter. Ulrich Schulte hält beide Szenarien für falsch. In seinem neuen Buch "Die grüne Macht. Wie die Ökopartei das Land verändern will" vertritt er die These, dass sich das Land durch einen grünen Kanzler oder eine grüne Kanzlerin kaum verändern würde. Die Flugzeuge landeten weiter im Minutentakt in Frankfurt oder München, schreibt Schulte, Leiter der Parlamentsredaktion der "taz", SUVs blieben so beliebt wie zuvor, die Menschen legten in viel zu heißen Sommern weiter Nackensteaks aus dem Discounter auf den Holzkohlegrill. Eine der ersten Amtshandlungen einer Kanzlerin Baerbock wären Bienenkästen auf dem Balkon des Kanzleramts. So nett wie harmlos.
Die grüne Führung hat den Slogan "Radikal ist das neue Realistisch" entwickelt, doch in Wahrheit, analysiert Schulte, wollen die Grünen vor allem eins: nach sechzehn Jahren mühevoller und glanzloser Opposition endlich wieder regieren. Seit ihrer Wahl an die Parteispitze im Januar 2018 formulieren Annalena Baerbock und Robert Habeck ihren Machtanspruch sehr offensiv: Sie wollen nicht nur die SPD als führende Kraft der linken Mitte beerben, sondern attackieren auch die Union mit dem Ziel, Merkel-Wähler zu sich zu ziehen. Daraus ergibt sich eine strategische Weichenstellung: Damit die Grünen auch jenseits ihrer Kernklientel ankommen, müssen sie moderat auftreten statt radikal.
Schulte stellt anschaulich dar, dass sich die Grünen von rebellischen Anti-Staats-Posen vollständig verabschiedet haben und sich nun staatstragend, sogar patriotisch geben. Die Nachfolger der Generation Straßenkampf fordern nun mehr Polizisten auf den Straßen. Die Fundamentalkritik an der Polizei ist zur Forderung einer Rassismusstudie zusammengeschmolzen. "Wir leben in der besten und freiesten Republik, die es jemals in Deutschland gab. Verteidigen wir diese Republik, und sorgen wir dafür, dass sie nicht faschistisch abgeräumt wird. Werden wir Verfassungsschützer!", rief Habeck auf dem Parteitag im November 2019. Diese Wortwahl ist eine Provokation für manche an der Basis, wo die Forderung nach Abschaffung des Verfassungsschutzes noch verbreitet ist.
Mit dem Image von Verbotspartei und Bevormundung will die neue Parteiführung nichts mehr zu tun haben. Statt apokalyptischer Weltdeutung ein neues Versprechen: "Wir können den Klimawandel stoppen, ohne dass es euch weh tut." Statt eines moralinsauren Blattsalatfanatikers ein Parteichef, der zugibt, schneller als 120 km/h auf der Autobahn zu fahren, beim Discounter einzukaufen und im Urlaub Dosenbier zu trinken. Zum "beherzten Sowohl-als-auch", wie Schulte den Ansatz nennt, passt auch das neue Motto: Veränderung schafft Halt. Darin stecken Sicherheit und Erneuerung zugleich.
Maximale Flexibilität in der Sache verbinden die Grünen mit perfekter Inszenierung. Schulte weist anhand zahlreicher Beispiele nach, dass der lockere Auftritt in Wahrheit mit großer Anstrengung verbunden ist. "Hinter ihrer Lässigkeit verbirgt sich Kontrollsucht, hinter ihrer vermeintlichen Authentizität genaue Planung", schreibt er. So habe die Pressesprecherin eingegriffen, als Habeck sich beim Fotoshooting neben Baerbock an einen Baum lehnte. Zu machohaft die Pose, könnte bei Frauen schlecht ankommen. Kaum ein Politiker traut sich, bei der Autorisierung von Interviews derart weitgehende Änderungen vorzunehmen wie die Grünen. "Wir stehen eben zum Modell Zentralkomitee", so zitiert Schulte einen Gesprächspartner, der das halb scherzhaft, halb ernst gemeint habe. Die harmonische Geschlossenheit ist nach den Beobachtungen des Autors auch zu einem Gutteil erzwungen. Habeck will der Partei zwar "den Streit zumuten", wie er beim Beginn der Arbeiten am Grundsatzprogramm sagte. Doch tatsächlich, so Schulte, sei das Verhältnis der Grünen-Spitze zu Streit ein instrumentelles. "Sie erlaubt ihn dort, wo er nützt, dimmt ihn aber herunter, wo er schaden könnte." Insofern ist die Partei nicht gut vorbereitet auf die harten inhaltlichen Konflikte, die sie lösen muss, wenn sie Teil der Bundesregierung wird.
Ulrich Schulte hat für das Buch mit den Parteivorsitzenden gesprochen, mit Grünen der Gründungsjahre, mit politischen Konkurrenten wie den CDU-Politikern Jens Spahn und Daniel Günther, mit der Aktivistin Luisa Neubauer von Fridays for Future, dem Soziologen Armin Nassehi. Aus diesen Stimmen und eigenen Beobachtungen des Journalisten, der sich seit Jahren intensiv mit der Partei befasst, entsteht ein vielschichtiges Bild der Partei. Schulte konfrontiert die Grünen mit ihren Widersprüchen, überprüft aber auch beliebte Vorurteile - Verbotspartei, Partei der Besserverdiener, Wünsch-dir-was-Partei - auf ihre Stichhaltigkeit. Seine fundierte und unterhaltsam geschriebene Analyse leistet einen konstruktiven Beitrag zur politischen Debatte im Superwahljahr.
Zuweilen löst sich der Autor allerdings aus der Rolle des politischen Beobachters. So schreibt er, was ein "ehrlicher, an Ökologie orientierter Politiker" seines Erachtens sagen müsste, nämlich zum Beispiel: "Sorry, Leute, es hilft nichts, aber ihr müsst euch euer Kotelett verkneifen. Die Massentierhaltung muss schnell abgeschafft werden, nicht schrittchenweise." Die grüne Programmatik hält Schulte aber nicht für ausreichend, um die Transformation hin zu einer ökologischen Gesellschaft schnell genug zu bewältigen. Die Grünen sieht er dabei als "einäugiger König unter Blinden". Man könnte mit Ulrich Schulte über seine eigenen politischen Ansichten und Forderungen streiten. Doch in dem Buch, das im Klappentext als "Realitätscheck" angekündigt wird, lösen sie ein Störgefühl aus. Der Leser möchte sich erst mal ein eigenes Urteil bilden.
Ulrich Schulte: Die grüne Macht. Wie die Ökopartei das Land verändern will.
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2021. 239 S., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wollen die Grünen das Land verändern? Eine Analyse zu Schein und Sein der Umweltpartei.
Von Helene Bubrowski
Die Vorstellung, dass die Kanzlerschaft schon bald in den Händen der Grünen liegen könnte, polarisiert. Manche fürchten, damit stelle sich Deutschland ins Abseits, eine Politik von Verboten und Enteignungen gefährde alles, was das Land stark und erfolgreich macht. Für einen anderen Teil der Deutschen dagegen ist eine grün geführte Bundesregierung der Aufbruch in eine bessere Zeit, der Klimawandel würde gestoppt, die Flüchtlingspolitik humaner und die Verteilung des Wohlstands gerechter. Ulrich Schulte hält beide Szenarien für falsch. In seinem neuen Buch "Die grüne Macht. Wie die Ökopartei das Land verändern will" vertritt er die These, dass sich das Land durch einen grünen Kanzler oder eine grüne Kanzlerin kaum verändern würde. Die Flugzeuge landeten weiter im Minutentakt in Frankfurt oder München, schreibt Schulte, Leiter der Parlamentsredaktion der "taz", SUVs blieben so beliebt wie zuvor, die Menschen legten in viel zu heißen Sommern weiter Nackensteaks aus dem Discounter auf den Holzkohlegrill. Eine der ersten Amtshandlungen einer Kanzlerin Baerbock wären Bienenkästen auf dem Balkon des Kanzleramts. So nett wie harmlos.
Die grüne Führung hat den Slogan "Radikal ist das neue Realistisch" entwickelt, doch in Wahrheit, analysiert Schulte, wollen die Grünen vor allem eins: nach sechzehn Jahren mühevoller und glanzloser Opposition endlich wieder regieren. Seit ihrer Wahl an die Parteispitze im Januar 2018 formulieren Annalena Baerbock und Robert Habeck ihren Machtanspruch sehr offensiv: Sie wollen nicht nur die SPD als führende Kraft der linken Mitte beerben, sondern attackieren auch die Union mit dem Ziel, Merkel-Wähler zu sich zu ziehen. Daraus ergibt sich eine strategische Weichenstellung: Damit die Grünen auch jenseits ihrer Kernklientel ankommen, müssen sie moderat auftreten statt radikal.
Schulte stellt anschaulich dar, dass sich die Grünen von rebellischen Anti-Staats-Posen vollständig verabschiedet haben und sich nun staatstragend, sogar patriotisch geben. Die Nachfolger der Generation Straßenkampf fordern nun mehr Polizisten auf den Straßen. Die Fundamentalkritik an der Polizei ist zur Forderung einer Rassismusstudie zusammengeschmolzen. "Wir leben in der besten und freiesten Republik, die es jemals in Deutschland gab. Verteidigen wir diese Republik, und sorgen wir dafür, dass sie nicht faschistisch abgeräumt wird. Werden wir Verfassungsschützer!", rief Habeck auf dem Parteitag im November 2019. Diese Wortwahl ist eine Provokation für manche an der Basis, wo die Forderung nach Abschaffung des Verfassungsschutzes noch verbreitet ist.
Mit dem Image von Verbotspartei und Bevormundung will die neue Parteiführung nichts mehr zu tun haben. Statt apokalyptischer Weltdeutung ein neues Versprechen: "Wir können den Klimawandel stoppen, ohne dass es euch weh tut." Statt eines moralinsauren Blattsalatfanatikers ein Parteichef, der zugibt, schneller als 120 km/h auf der Autobahn zu fahren, beim Discounter einzukaufen und im Urlaub Dosenbier zu trinken. Zum "beherzten Sowohl-als-auch", wie Schulte den Ansatz nennt, passt auch das neue Motto: Veränderung schafft Halt. Darin stecken Sicherheit und Erneuerung zugleich.
Maximale Flexibilität in der Sache verbinden die Grünen mit perfekter Inszenierung. Schulte weist anhand zahlreicher Beispiele nach, dass der lockere Auftritt in Wahrheit mit großer Anstrengung verbunden ist. "Hinter ihrer Lässigkeit verbirgt sich Kontrollsucht, hinter ihrer vermeintlichen Authentizität genaue Planung", schreibt er. So habe die Pressesprecherin eingegriffen, als Habeck sich beim Fotoshooting neben Baerbock an einen Baum lehnte. Zu machohaft die Pose, könnte bei Frauen schlecht ankommen. Kaum ein Politiker traut sich, bei der Autorisierung von Interviews derart weitgehende Änderungen vorzunehmen wie die Grünen. "Wir stehen eben zum Modell Zentralkomitee", so zitiert Schulte einen Gesprächspartner, der das halb scherzhaft, halb ernst gemeint habe. Die harmonische Geschlossenheit ist nach den Beobachtungen des Autors auch zu einem Gutteil erzwungen. Habeck will der Partei zwar "den Streit zumuten", wie er beim Beginn der Arbeiten am Grundsatzprogramm sagte. Doch tatsächlich, so Schulte, sei das Verhältnis der Grünen-Spitze zu Streit ein instrumentelles. "Sie erlaubt ihn dort, wo er nützt, dimmt ihn aber herunter, wo er schaden könnte." Insofern ist die Partei nicht gut vorbereitet auf die harten inhaltlichen Konflikte, die sie lösen muss, wenn sie Teil der Bundesregierung wird.
Ulrich Schulte hat für das Buch mit den Parteivorsitzenden gesprochen, mit Grünen der Gründungsjahre, mit politischen Konkurrenten wie den CDU-Politikern Jens Spahn und Daniel Günther, mit der Aktivistin Luisa Neubauer von Fridays for Future, dem Soziologen Armin Nassehi. Aus diesen Stimmen und eigenen Beobachtungen des Journalisten, der sich seit Jahren intensiv mit der Partei befasst, entsteht ein vielschichtiges Bild der Partei. Schulte konfrontiert die Grünen mit ihren Widersprüchen, überprüft aber auch beliebte Vorurteile - Verbotspartei, Partei der Besserverdiener, Wünsch-dir-was-Partei - auf ihre Stichhaltigkeit. Seine fundierte und unterhaltsam geschriebene Analyse leistet einen konstruktiven Beitrag zur politischen Debatte im Superwahljahr.
Zuweilen löst sich der Autor allerdings aus der Rolle des politischen Beobachters. So schreibt er, was ein "ehrlicher, an Ökologie orientierter Politiker" seines Erachtens sagen müsste, nämlich zum Beispiel: "Sorry, Leute, es hilft nichts, aber ihr müsst euch euer Kotelett verkneifen. Die Massentierhaltung muss schnell abgeschafft werden, nicht schrittchenweise." Die grüne Programmatik hält Schulte aber nicht für ausreichend, um die Transformation hin zu einer ökologischen Gesellschaft schnell genug zu bewältigen. Die Grünen sieht er dabei als "einäugiger König unter Blinden". Man könnte mit Ulrich Schulte über seine eigenen politischen Ansichten und Forderungen streiten. Doch in dem Buch, das im Klappentext als "Realitätscheck" angekündigt wird, lösen sie ein Störgefühl aus. Der Leser möchte sich erst mal ein eigenes Urteil bilden.
Ulrich Schulte: Die grüne Macht. Wie die Ökopartei das Land verändern will.
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2021. 239 S., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Helene Bubrowski möchte sich ihre eigene Meinung über die neuen Grünen mit Kanzlerambitionen bilden. Stattdessen serviert ihr Ulrich Schulte in seinem Buch neben laut Bubrowski verdienstvollen Ein- und Draufsichten in die Widersprüche der Partei, ihr öffentliches Bild und die Wahrheit dahinter seine kontroversen politischen Ansichten. Für Bubrowski ein No-go. Die Vision der Grünen im Kanzleramt, die der Autor entwirft (Bienenkästen auf dem Dach, sonst moderat, nicht mehr radikal), findet die Rezensentin allerdings bedenkenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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[Schultes] fundierte und unterhaltsam geschriebene Analyse leistet einen konstruktiven Beitrag zur politischen Debatte im Superwahljahr. Helene Bubrowski Frankfurter Allgemeine Zeitung 20210313