Die Gruppe 47 ist zu einem Markenzeichen geworden. Jeder nimmt Bezug auf diese von Hans Werner Richter 1947 ins Leben gerufene lose Schriftstellervereinigung. Jeder hat eine Vorstellung von ihrer Wirkung. Helmut Böttiger legt nun den ersten umfassenden Überblick über die Geschichte dieser Institution vor, die unseren Literaturbetrieb erfunden und die politische Öffentlichkeit Nachkriegsdeutschlands mitgeprägt hat. Bei näherer Betrachtung wird aber klar: Vieles von dem, was man zu wissen glaubt, verkehrt sich ins Gegenteil. Die Gruppe 47 war erstaunlich pluralistisch; Paul Celan hatte ihr seinen Erfolg zu verdanken; und wenn es eine Symbolfigur für die Mechanismen der Gruppe 47 gibt, heißt sie viel eher Hans Magnus Enzensberger als Günter Grass. Durch die Auswertung vieler bisher unbekannter Dokumente und Gespräche mit Zeitzeugen entsteht ein lebendiges Bild der Frühgeschichte der BRD: von den Schwierigkeiten, die Prägungen durch den Nationalsozialismus abzustreifen, bis zu einem neuen, prekären Wechselspiel zwischen Literatur, Markt und Mediengesellschaft, das bis heute anhält. Es ist an der Zeit, die Ursprünge kennenzulernen!
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.11.2012Die literarische Nationalmannschaft
Respektvolle Verabschiedung: Der Literaturkritiker Helmut Böttiger blickt in seinem Porträt
der „Gruppe 47“ auf die Zeit zurück, „als die deutsche Literatur Geschichte schrieb“
VON STEPHAN SPEICHER
Es liegt ein Rätsel um die Gruppe 47. Nun sind es 45 Jahre her, dass sie sich zum letzten Mal traf; wer das damals aufmerksam verfolgte, ist schon im Rentenalter. Mit dem literarischen Ansehen steht es nicht durchweg prächtig, es hängt etwas „sozialdemokratisch Leitartikelhaftes“ um sie, wie Helmut Böttiger in seinem neuen Buch zur Sache zugibt. Und auch politisch ist die Gruppe 47 (wohl zu scharf) angegriffen worden, von Klaus Briegleb oder W. G. Sebald: sie oder einzelne der Mitglieder hätten sich nie von einem landserhaften Antisemitismus befreit. Und doch ist da etwas, was nicht aufhört, uns zu beschäftigen.
Sibylle Lewitscharoff erklärte es 2011 so: Diese Autoren seien „damals wirklich davon durchdrungen gewesen, dass das Wort Gewicht hat, dass es überhaupt so etwas wie moralische Hintergrundprinzipien des Schreibens gibt“. Und weiter: „Die Zeit ist vorangeschritten. Das kann man im Übrigen bedauern. Als Schriftsteller ist es ja nicht schön, in Systeme, die unglaublich multipel und divers sind, hineinzuschreiben. Wenn ich die Wahl hätte, offen gestanden: Ich wäre lieber da dabei . . .“.
Der künstlerische Ernst und die recht genau bestimmte gesellschaftliche Lage, das sind zwei Momente, die auch Helmut Böttiger entzündet haben. Der Untertitel seines Buches über die Gruppe 47 „Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb“ bezeichnet es schon. Geschichte schreiben, das ist die Sache der Heroen. Um ihre Werke und Taten geht es, von den Anfängen bis 1967 und darüberhinaus.
Die Idee verdankt sich einer Versammlung in Altenbeuern 1947, deren Mittelpunkt ausgerechnet Rudolf Alexander Schröder ist. Junge Autoren, unter ihnen Hans Werner Richter, sind am Abend unzufrieden mit dem Gehörten. Nur Richter gefällt etwas: „dieses Lesen und Kritisieren und Wiederlesen und Wiederkritisieren“. Schröder konnte es wohl nur schwer ertragen, die „offene Sprache, die oft brüskierend und beleidigend war, in der Wortwahl an die Landsersprache der vergangenen Kriegsjahre erinnernd: rauh, karg, die Dinge unmittelbar beim Namen nennend ... Ich sagte es denen, die um mich herum saßen: ,Das müsste man wieder machen. Nur mit anderen Leuten.’ “
Und so geschieht’s. Im September 1947 bringt Richter junge Autoren am Bannwaldsee zusammen. Sie lesen aus ihren Arbeiten und diskutieren, darauf kommt es an. Kritikfähigkeit ist für Richter alles, sie gehört zur Demokratisierung. „Niemand nimmt ein Blatt vor den Mund“, erinnerte sich Richter später: „Jeder unnötige Schnörkel wird gerügt, verworfen werden die großen Worte die nichts besagen . . . was Bestand hat vor den Ohren der Teilnehmer, sind die knappen Aussagesätze.“ Es ist die Literatur der Kriegsheimkehrer mit ihrem betont realistischen Anspruch, realistisch in der Genauigkeit der Wahrnehmung wie im Widerwillen gegen so etwas wie „Ewigkeitswerte“.
Mit der Zeit aber änderte sich etwas. Ein neuer Ton verschafft sich Gehör, neben die „Realisten“ treten die so genannten „Formalisten“. Man kann es an den Trägern des seit 1950 vergebenen Literaturpreises sehen: der erste war Günter Eich, es folgten Heinrich Böll, Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann. Schon 1955 stellte Richter fest: „Während die Literatur 1947 sehr stark zum Realismus neigte, dementsprechend auch sehr stark zur engagierten Literatur, auch zu den politischen Problem zeitnah war, entwickelte sich die junge Literatur - das darf ich kritisch sagen - immer mehr zur Kunst der Form hin und etwas weg vom Engagement.“
Richter bedauerte das, sah es aber als unüberwindliche Tendenz. Als Autor hatte er wenig Erfolg bei den Kollegen gehabt, auch als Kritiker galt er nicht viel. Dennoch muss er ein Mann von ungewöhnlicher Autorität gewesen sein. Er allein sprach die Einladungen aus; und so autokratisch das war, die Tagungen gehören zu den Demokratisierungsereignissen der Bundesrepublik. Gerade der demokratische Erfolg, die wachsende Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, die wollen muss, wer wirken will, schuf allerdings bald Probleme.
Am Anfang stand eine kleine Gruppe, die scharf-kollegiale Kritik übte. Corpsgeist war wichtig, Richter hatte die Selbstzerfleischung der deutschen Linken in der Zwischenkriegszeit erlebt. Aber bald stießen professionelle Kritiker hinzu, Joachim Kaiser, Walter Jens, Hans Mayer, Marcel Reich-Ranicki. Sie spitzten die Diskussionen zu, steigerten Unterhaltungswert und Attraktivität für das literarische Gewerbe. Beim Treffen 1958 waren nur noch 20 Prozent der Anwesenden Schriftsteller, 80 Prozent „Manager“, vor allem Verlagsleute. Längst wurden auf den Tagungen Erfolge gemacht und Hoffnungen zerstört.
Die Tagungen der Gruppe 47 waren das Hauptereignis des literarischen Lebens. Hier wurde der aktuelle Kanon gebildet und das heißt auch: die Marktsituation der kommenden Jahre vorgeformt. Spöttisch ging die Rede von der „literarischen Nationalmannschaft“, die Richter aufstelle. Als sie 1967 sich zum letzten Mal traf, schien sie manchem politisch schon zu angepasst, Heinrich Böll etwa meinte, die Zeit der Opposition sei vorbei, die des Widerstands gekommen.
Mit der Gruppe 47 hat Helmut Böttiger das literarische Leben der frühen Bundesrepublik gezeichnet. Es ist viel Anschauung dabei, auch scharfe Kritik an dem bekannten Stickmief der Nachkriegsjahre. Manches kann man auch anders sehen. Ludwig Erhards Angriff auf die Schriftsteller als „Pinscher“ wirkt heute weniger unangenehm als Arno Schmidts Bemerkung über die Gruppe 47 als „175erei“, das nahm Bezug auf den Paragraphen 175 des Strafgesetzbuchs, der die männliche Homosexualität unter Strafe stellte. Es sind nicht mehr die Jahre, die wir ohne weiteres kennen, sie müssen inzwischen kunstgerecht verstanden werden. Was uns allerdings mit ihnen verbindet – und das macht neben der ernsten, strengen Fremdheit ein zweites Interesse aus: in dieser Zeit entstehen die Formen des literarischen Lebens, die bis jetzt aktuell sind, die persönliche Präsenz des Schriftstellers in der Öffentlichkeit und deren Durchknetung unter Beihilfe einer effektsicheren Kritik.
„Jeder unnötige
Schnörkel wird gerügt . . .“
„Muss man bei der Gruppe 47 auch singen, oder braucht man nur nackt vorzulesen?“, fragte Arno Schmidt 1953 seinen damaligen Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt. Nein, nicht nackt. Aber mit Schlips. Jedenfalls war es so auf der Tagung 1949 in Marktbreit (am rechten Bildrand vorn Hans Werner Richter).
FOTO: LITERATURARCHIV DER AKADEMIE DER KÜNSTE BERLIN, DVA
Helmut Böttiger: Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb. Deutsche Verlags- Anstalt, München 2012. 480 Seiten, 24,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Respektvolle Verabschiedung: Der Literaturkritiker Helmut Böttiger blickt in seinem Porträt
der „Gruppe 47“ auf die Zeit zurück, „als die deutsche Literatur Geschichte schrieb“
VON STEPHAN SPEICHER
Es liegt ein Rätsel um die Gruppe 47. Nun sind es 45 Jahre her, dass sie sich zum letzten Mal traf; wer das damals aufmerksam verfolgte, ist schon im Rentenalter. Mit dem literarischen Ansehen steht es nicht durchweg prächtig, es hängt etwas „sozialdemokratisch Leitartikelhaftes“ um sie, wie Helmut Böttiger in seinem neuen Buch zur Sache zugibt. Und auch politisch ist die Gruppe 47 (wohl zu scharf) angegriffen worden, von Klaus Briegleb oder W. G. Sebald: sie oder einzelne der Mitglieder hätten sich nie von einem landserhaften Antisemitismus befreit. Und doch ist da etwas, was nicht aufhört, uns zu beschäftigen.
Sibylle Lewitscharoff erklärte es 2011 so: Diese Autoren seien „damals wirklich davon durchdrungen gewesen, dass das Wort Gewicht hat, dass es überhaupt so etwas wie moralische Hintergrundprinzipien des Schreibens gibt“. Und weiter: „Die Zeit ist vorangeschritten. Das kann man im Übrigen bedauern. Als Schriftsteller ist es ja nicht schön, in Systeme, die unglaublich multipel und divers sind, hineinzuschreiben. Wenn ich die Wahl hätte, offen gestanden: Ich wäre lieber da dabei . . .“.
Der künstlerische Ernst und die recht genau bestimmte gesellschaftliche Lage, das sind zwei Momente, die auch Helmut Böttiger entzündet haben. Der Untertitel seines Buches über die Gruppe 47 „Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb“ bezeichnet es schon. Geschichte schreiben, das ist die Sache der Heroen. Um ihre Werke und Taten geht es, von den Anfängen bis 1967 und darüberhinaus.
Die Idee verdankt sich einer Versammlung in Altenbeuern 1947, deren Mittelpunkt ausgerechnet Rudolf Alexander Schröder ist. Junge Autoren, unter ihnen Hans Werner Richter, sind am Abend unzufrieden mit dem Gehörten. Nur Richter gefällt etwas: „dieses Lesen und Kritisieren und Wiederlesen und Wiederkritisieren“. Schröder konnte es wohl nur schwer ertragen, die „offene Sprache, die oft brüskierend und beleidigend war, in der Wortwahl an die Landsersprache der vergangenen Kriegsjahre erinnernd: rauh, karg, die Dinge unmittelbar beim Namen nennend ... Ich sagte es denen, die um mich herum saßen: ,Das müsste man wieder machen. Nur mit anderen Leuten.’ “
Und so geschieht’s. Im September 1947 bringt Richter junge Autoren am Bannwaldsee zusammen. Sie lesen aus ihren Arbeiten und diskutieren, darauf kommt es an. Kritikfähigkeit ist für Richter alles, sie gehört zur Demokratisierung. „Niemand nimmt ein Blatt vor den Mund“, erinnerte sich Richter später: „Jeder unnötige Schnörkel wird gerügt, verworfen werden die großen Worte die nichts besagen . . . was Bestand hat vor den Ohren der Teilnehmer, sind die knappen Aussagesätze.“ Es ist die Literatur der Kriegsheimkehrer mit ihrem betont realistischen Anspruch, realistisch in der Genauigkeit der Wahrnehmung wie im Widerwillen gegen so etwas wie „Ewigkeitswerte“.
Mit der Zeit aber änderte sich etwas. Ein neuer Ton verschafft sich Gehör, neben die „Realisten“ treten die so genannten „Formalisten“. Man kann es an den Trägern des seit 1950 vergebenen Literaturpreises sehen: der erste war Günter Eich, es folgten Heinrich Böll, Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann. Schon 1955 stellte Richter fest: „Während die Literatur 1947 sehr stark zum Realismus neigte, dementsprechend auch sehr stark zur engagierten Literatur, auch zu den politischen Problem zeitnah war, entwickelte sich die junge Literatur - das darf ich kritisch sagen - immer mehr zur Kunst der Form hin und etwas weg vom Engagement.“
Richter bedauerte das, sah es aber als unüberwindliche Tendenz. Als Autor hatte er wenig Erfolg bei den Kollegen gehabt, auch als Kritiker galt er nicht viel. Dennoch muss er ein Mann von ungewöhnlicher Autorität gewesen sein. Er allein sprach die Einladungen aus; und so autokratisch das war, die Tagungen gehören zu den Demokratisierungsereignissen der Bundesrepublik. Gerade der demokratische Erfolg, die wachsende Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, die wollen muss, wer wirken will, schuf allerdings bald Probleme.
Am Anfang stand eine kleine Gruppe, die scharf-kollegiale Kritik übte. Corpsgeist war wichtig, Richter hatte die Selbstzerfleischung der deutschen Linken in der Zwischenkriegszeit erlebt. Aber bald stießen professionelle Kritiker hinzu, Joachim Kaiser, Walter Jens, Hans Mayer, Marcel Reich-Ranicki. Sie spitzten die Diskussionen zu, steigerten Unterhaltungswert und Attraktivität für das literarische Gewerbe. Beim Treffen 1958 waren nur noch 20 Prozent der Anwesenden Schriftsteller, 80 Prozent „Manager“, vor allem Verlagsleute. Längst wurden auf den Tagungen Erfolge gemacht und Hoffnungen zerstört.
Die Tagungen der Gruppe 47 waren das Hauptereignis des literarischen Lebens. Hier wurde der aktuelle Kanon gebildet und das heißt auch: die Marktsituation der kommenden Jahre vorgeformt. Spöttisch ging die Rede von der „literarischen Nationalmannschaft“, die Richter aufstelle. Als sie 1967 sich zum letzten Mal traf, schien sie manchem politisch schon zu angepasst, Heinrich Böll etwa meinte, die Zeit der Opposition sei vorbei, die des Widerstands gekommen.
Mit der Gruppe 47 hat Helmut Böttiger das literarische Leben der frühen Bundesrepublik gezeichnet. Es ist viel Anschauung dabei, auch scharfe Kritik an dem bekannten Stickmief der Nachkriegsjahre. Manches kann man auch anders sehen. Ludwig Erhards Angriff auf die Schriftsteller als „Pinscher“ wirkt heute weniger unangenehm als Arno Schmidts Bemerkung über die Gruppe 47 als „175erei“, das nahm Bezug auf den Paragraphen 175 des Strafgesetzbuchs, der die männliche Homosexualität unter Strafe stellte. Es sind nicht mehr die Jahre, die wir ohne weiteres kennen, sie müssen inzwischen kunstgerecht verstanden werden. Was uns allerdings mit ihnen verbindet – und das macht neben der ernsten, strengen Fremdheit ein zweites Interesse aus: in dieser Zeit entstehen die Formen des literarischen Lebens, die bis jetzt aktuell sind, die persönliche Präsenz des Schriftstellers in der Öffentlichkeit und deren Durchknetung unter Beihilfe einer effektsicheren Kritik.
„Jeder unnötige
Schnörkel wird gerügt . . .“
„Muss man bei der Gruppe 47 auch singen, oder braucht man nur nackt vorzulesen?“, fragte Arno Schmidt 1953 seinen damaligen Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt. Nein, nicht nackt. Aber mit Schlips. Jedenfalls war es so auf der Tagung 1949 in Marktbreit (am rechten Bildrand vorn Hans Werner Richter).
FOTO: LITERATURARCHIV DER AKADEMIE DER KÜNSTE BERLIN, DVA
Helmut Böttiger: Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb. Deutsche Verlags- Anstalt, München 2012. 480 Seiten, 24,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit diesem Überblicksband zur Geschichte der "Gruppe 47", den der Literaturkritiker und Essayist Helmut Böttiger nun pünktlich zu deren 65. Geburtstag herausgegeben hat, ist Rezensent Jochen Hieber absolut zufrieden. Trotz der Fülle an Brief-, Memoiren- und Sekundärliteratur gelinge es Böttiger, verständlich, schwungvoll und "eigenständig" zu erzählen, lobt der Kritiker. Hieber liest hier nicht nur eine Vielzahl interessanter Exkurse, etwa zum Hörfunk in der Nachkriegsepoche oder zur tragischen Geschichte des Literatenpaares Gisela Elsner und Klaus Roehler, sondern rühmt auch Böttigers sorgfältige Recherche: Den Vorwurf des Literaturhistorikers Klaus Briegleb oder des Schriftstellers W. G. Sebald, Hans Werner Richter und die von ihm gegründete Gruppe seien den aus der Emigration zurückgekehrten Autoren "feindselig und antisemitisch" entgegengetreten, könne Böttiger mithilfe seiner Quellen stark relativieren. Nur manchmal findet Hieber die Gruppe 47 auf eine Art "Betriebserfindungsmaschine" reduziert, was ihr seiner Ansicht nach nicht gerecht wird. Aber das ist nur ein kleiner Kritikpunkt in einer ansonsten durchweg lobenden Kritik.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.2013Verständnis für den wechselnden Zeitgeist
Zwischen Adenauer und Celan: Helmut Böttiger stellt im Frankfurter Literaturhaus sein Buch über die Gruppe 47 vor
Taktgefühl und Empathie waren ihm offenbar fremd. Er lese wie Goebbels, sagte Hans Werner Richter 1952 über den pathetischen Auftritt Paul Celans vor der Gruppe 47 in Niendorf. In einem Tagebucheintrag von 1970 hingegen versuchte der Spiritus Rector der Autorengruppe den Lyriker jüdischer Herkunft zu vereinnahmen. Erst durch die Gruppe 47 sei Celan bekannt geworden, doch werde dies nie öffentlich erwähnt, monierte Richter. Bei der legendären Lesung hatten ihn Celans Lyrik und vor allem sein Vortragsgestus an Priesterpoeten wie Stefan George erinnert.
"So verschieden sind die antifaschistischen Welten, die hier aufeinanderprallten", resümierte der Literaturkritiker und Essayist Helmut Böttiger, der im Frankfurter Literaturhaus nun sein Buch "Die Gruppe 47 - Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb" vorstellte, im Gespräch mit Richard Kämmerlings, Literaturredakteur der Tageszeitung "Die Welt". Nicht nur Kämmerlings hat "viel gelernt" durch das Buch, das für den Preis der diesjährigen Leipziger Buchmesse nominiert ist, auch die Besucher im gut gefüllten Lesekabinett des Literaturhauses zeigten sich erfreut über den informationsgesättigten Abend.
Zunächst war eine recht unbekannte Autorin kennenzulernen. In seinem "Vorspiel - Die Hex' vom Bannwaldsee" stellte Böttiger die exzentrische Künstlerin und Autorin Ilse Schneider-Lengyel vor, die Richter und seinen Mannen am 9. September 1947 für ihre erste Zusammenkunft das Quartier bereitete: in ihrem Elternhaus im Schongau nahe Füssen. Damals, zur Stunde null, waren die Autoren noch bereit, auf einem Heuboden zu schlafen. Richter habe immer wieder abgelegene Orte in der Provinz für die Tagungen der Gruppe ausgesucht, sagte Böttiger, zum Beispiel den Gasthof "Adler" im allgäuischen Großholzleute bei Isny, wo Günter Grass im Oktober 1958 seine "Blechtrommel" vorstellte. Erst damals wurde die Gruppe 47 schlagartig bekannt. Zuvor waren religiös geprägte Autoren wie Rudolf Alexander Schröder, Werner Bergengruen und Gertrud von le Fort tonangebend in der deutschen Literatur der Adenauerzeit. "Nur die Gruppe 47 trat in Opposition zum Adenauerstaat", sagte Böttiger.
Für den wechselnden Zeitgeist brachte er jedoch Verständnis auf. Er habe mit seinem Buch keinerlei Ehrenrettung der Gruppe im Sinn gehabt, die wegen ihrer Zurückhaltung gegenüber Exilautoren immer wieder kritisiert worden sei. Auch habe Richter nicht absehen können, wie weit sich die jüngeren Autoren von seinem Realismus-Begriff entfernen würden. Nicht nur Celan mit seinen Surrealismen lag jenseits seines Horizonts, auch Peter Weiss, Alexander Kluge und Hubert Fichte setzten sich mit ihren experimentellen Formen über den Realismus der Generation von Grass und Böll hinweg. Jedenfalls sei die Gruppe 47 nicht so monolithisch gewesen, wie sie heute im Rückblick oft wirke.
Als sich in den sechziger Jahren mehr und mehr Verleger und Kritiker zu den Sitzungen einstellten, gaben die Autoren ihre Zurückhaltung auf. Ein Literaturbetrieb entstand, der auch den Kritikern ein Auskommen sicherte - "ein deutsches Sonderphänomen", sagte Böttiger. Allerdings sagte er seiner Spezies nun den baldigen Untergang voraus. So pessimistisch wollte Kämmerlings das nicht sehen. Für den Gasthof "Adler" wird aber schon ein Investor gesucht.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwischen Adenauer und Celan: Helmut Böttiger stellt im Frankfurter Literaturhaus sein Buch über die Gruppe 47 vor
Taktgefühl und Empathie waren ihm offenbar fremd. Er lese wie Goebbels, sagte Hans Werner Richter 1952 über den pathetischen Auftritt Paul Celans vor der Gruppe 47 in Niendorf. In einem Tagebucheintrag von 1970 hingegen versuchte der Spiritus Rector der Autorengruppe den Lyriker jüdischer Herkunft zu vereinnahmen. Erst durch die Gruppe 47 sei Celan bekannt geworden, doch werde dies nie öffentlich erwähnt, monierte Richter. Bei der legendären Lesung hatten ihn Celans Lyrik und vor allem sein Vortragsgestus an Priesterpoeten wie Stefan George erinnert.
"So verschieden sind die antifaschistischen Welten, die hier aufeinanderprallten", resümierte der Literaturkritiker und Essayist Helmut Böttiger, der im Frankfurter Literaturhaus nun sein Buch "Die Gruppe 47 - Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb" vorstellte, im Gespräch mit Richard Kämmerlings, Literaturredakteur der Tageszeitung "Die Welt". Nicht nur Kämmerlings hat "viel gelernt" durch das Buch, das für den Preis der diesjährigen Leipziger Buchmesse nominiert ist, auch die Besucher im gut gefüllten Lesekabinett des Literaturhauses zeigten sich erfreut über den informationsgesättigten Abend.
Zunächst war eine recht unbekannte Autorin kennenzulernen. In seinem "Vorspiel - Die Hex' vom Bannwaldsee" stellte Böttiger die exzentrische Künstlerin und Autorin Ilse Schneider-Lengyel vor, die Richter und seinen Mannen am 9. September 1947 für ihre erste Zusammenkunft das Quartier bereitete: in ihrem Elternhaus im Schongau nahe Füssen. Damals, zur Stunde null, waren die Autoren noch bereit, auf einem Heuboden zu schlafen. Richter habe immer wieder abgelegene Orte in der Provinz für die Tagungen der Gruppe ausgesucht, sagte Böttiger, zum Beispiel den Gasthof "Adler" im allgäuischen Großholzleute bei Isny, wo Günter Grass im Oktober 1958 seine "Blechtrommel" vorstellte. Erst damals wurde die Gruppe 47 schlagartig bekannt. Zuvor waren religiös geprägte Autoren wie Rudolf Alexander Schröder, Werner Bergengruen und Gertrud von le Fort tonangebend in der deutschen Literatur der Adenauerzeit. "Nur die Gruppe 47 trat in Opposition zum Adenauerstaat", sagte Böttiger.
Für den wechselnden Zeitgeist brachte er jedoch Verständnis auf. Er habe mit seinem Buch keinerlei Ehrenrettung der Gruppe im Sinn gehabt, die wegen ihrer Zurückhaltung gegenüber Exilautoren immer wieder kritisiert worden sei. Auch habe Richter nicht absehen können, wie weit sich die jüngeren Autoren von seinem Realismus-Begriff entfernen würden. Nicht nur Celan mit seinen Surrealismen lag jenseits seines Horizonts, auch Peter Weiss, Alexander Kluge und Hubert Fichte setzten sich mit ihren experimentellen Formen über den Realismus der Generation von Grass und Böll hinweg. Jedenfalls sei die Gruppe 47 nicht so monolithisch gewesen, wie sie heute im Rückblick oft wirke.
Als sich in den sechziger Jahren mehr und mehr Verleger und Kritiker zu den Sitzungen einstellten, gaben die Autoren ihre Zurückhaltung auf. Ein Literaturbetrieb entstand, der auch den Kritikern ein Auskommen sicherte - "ein deutsches Sonderphänomen", sagte Böttiger. Allerdings sagte er seiner Spezies nun den baldigen Untergang voraus. So pessimistisch wollte Kämmerlings das nicht sehen. Für den Gasthof "Adler" wird aber schon ein Investor gesucht.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die erste breit angelegte und gut lesbare Gesamtdarstellung. Sie überzeugt, weil sie fair urteilt und weder in Ehrfurcht noch in hämischer Polemik erstarrt.« DIE WELT
»Böttiger beschreibt detailliert und faktenreich, wie aus einem literarischen >Gesinnungsclub< für ein paar wenige das Zentrum neuer deutschsprachiger Literatur werden konnte, wo Verleger auf Suche nach jungen Autoren gingen und Verträge abgewickelt wurden.«