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Anton Leist findet den Archimedischen Punkt in der Ethik
Vierhundertsechzehn Seiten benötigt Anton Leist, um die Moral beziehungsweise einen Begriff des Guten rational zu begründen. Erich Kästner begnügte sich dafür einst mit einem Satz: "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es." Brauchte es, nach Kästner, noch Leist? Ist ein solches Projekt sinnvoll und erforderlich? Ja. Es reicht, auf die zahlreichen unfruchtbaren und scheinbar unendlichen Debatten in der Modedisziplin "angewandte Ethik" zu blicken, bei denen oft angenommen wird, man könne auf die Begründung eines normativen Ausgangspunktes verzichten.
Unbeschwert von solcherlei Reflexionen und bestenfalls mit einem kargen Arsenal alltäglicher moralischer Vorurteile ausgestattet, wird oft so lange hartnäckig mit ethischen Anwendungsproblemen gerungen, bis diese zerschlagen am Boden liegen. Triumphierend hält dann manch einer eine Lösung hoch, die ihn selbst überzeugt und en passant den Maßstab ihrer eigenen Richtigkeit mitliefern soll. Das ist etwa so, als wolle man ein Stück Land vermessen, ohne vorher zu wissen, ob man Meter, Elle oder Meilen als Maßeinheit nimmt - und obendrein noch behauptet, daß die Vermessung selbst schon den rechten Maßstab liefern werde. Daß die Zirkelhaftigkeit dieses Vorgehens oft unbemerkt bleibt, mag an dem dichten Qualm liegen, der von dem Schlachtfeld angewandter Ethikscharmützel aufsteigt. Maßstabsbegründungen sind ein Desiderat - aber dies zu erkennen heißt noch lange nicht, sie leisten zu können.
Wer wie Leist mutig versucht, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen, muß nicht erst nach Schwierigkeiten suchen. Die wichtigste von ihnen ist der Anfang selbst: Auf welchen Archimedischen Punkt kann man den Hebel der praktischen Vernunft ansetzen? Intuitionen taugen dafür kaum, denn spätestens seit die großen Entlarver wie Nietzsche, Freud oder Dawkins ihre genealogischen Enthüllungen vorgelegt haben, sind wir da äußerst mißtrauisch. Lauert hinter dem vermeintlich intuitiven Wissen um das Gute menschliches Machtstreben, Reproduktionsinteresse der Gene oder schlicht das liebe Selbst, das sich scheinheilig die Moral überstülpt?
Sucht man den Archimedischen Punkt statt dessen bei unbestreitbaren Tatsachen in der Welt (etwa menschlichen Bedürfnissen oder allgemein anerkannten Regeln), so ist der Schritt zu normativer Verbindlichkeit fragwürdig. Warum sollte die Befriedigung von Bedürfnissen die Grundlage des "moralisch Guten" sein? Wenigstens müßte zwischen guten und schlechten Bedürfnissen unterschieden werden können - was aber nur möglich ist, wenn man bereits einen Maßstab hat. Als alternativer Ausgangspunkt werden oft die traditionellen Regeln oder Üblichkeiten der Gesellschaft vorgeschlagen. Aber da stellt sich ein ähnliches Problem. Schließlich finden und fanden sich allerlei schreckliche Verhaltensnormen bei verschiedenen Gesellschaften. Wieder bedarf es also eines vorgängigen Maßstabs zur Beurteilung von Traditionen, der nicht seinerseits eine Tradition sein kann. Tatsachen sind nun einmal normativ stumm.
Aber vielleicht nicht alle. Gibt es nicht doch Ausnahmen, ein Stück Wirklichkeit, welches ein klein wenig flüstert? Anton Leist hat genau hingehört und meint, fündig geworden zu sein. Er stellt uns seine Entdeckung vor und versucht, das Flüstern so zu verstärken, daß es schließlich alle Leser hören können. Dieses besondere Stück Wirklichkeit ist nach Leist der Mensch als frei und reflexiv handelndes Wesen. Als solches sei ein jeder von uns für sich selbst zunächst von unbestreitbarer Wirklichkeit, da er sich nie ohne Selbstwiderspruch bestreiten könne - das Bestreiten selbst wäre ja wieder eine freie Handlung der Selbstreflexion. Und hier findet sich auch die grundlegende normative Botschaft, die es gilt, vernehmbar zu machen, nämlich die, daß ein solches Handeln gut ist. Warum das so sein soll? Leist argumentiert überzeugend, daß wir als frei und reflexiv Handelnde notwendigerweise nach den Gründen für unser Tun fragen; dies ist gleichsam der selbstauferlegte Imperativ praktischer Vernünftigkeit.
Dabei gilt auch hier, daß wir nicht mehr sinnvoll und ohne Selbstwiderspruch nach weiteren Gründen dafür fragen können, warum wir begründet handeln sollten. Vernünftigerweise müssen wir es als letzten Bezugspunkt anerkennen. Diese zunächst formale Forderung ist nun aber nicht leer, sondern erweist sich nach Leist als durchaus inhaltsreich: Aus der Aufforderung folgt, daß unser Vermögen, überhaupt begründet handeln zu können, seinerseits als ein zu beförderndes Gut gesehen werden muß. Freiheit der Selbstbestimmung und Reflexion sind aber die konstitutiven Aspekte dieses Vermögens; ihre Beförderung und Ausübung sind also das moralische Gut, welches die praktische Vernunft notwendigerweise anerkennen muß. Da haben wir den Archimedischen Punkt, die Vernunft hat ihn gleichsam in sich selbst gefunden. Schau nur auf deine Hände, sie haben zu sprechen begonnen, und hier ist ihre normative Botschaft. Heureka! Auch wenn dieser Ausruf anachronistisch erscheint angesichts eines neuzeitlich-transzendentalen Ansatzes im Geiste Kants - eine philosophische Verwandtschaft, die von Leist auch dadurch deutlich gemacht wird, daß er seine subtilen Gedankengänge als freie Interpretation der praktischen Philosophie Kants entwickelt.
Wichtiger Bezugspunkt ist dabei die Kantianerin Christine Korsgaard, der er sich verpflichtet weiß. Sein Blick ist vor allem auf die gegenwärtige angelsächsische Philosophie gerichtet, mit deren wichtigsten Argumenten er sich ebenso kenntnisreich wie scharfsinnig auseinandersetzt. Seite für Seite entsteht so ein Argumentationsgebäude von ungewöhnlicher Dichte und Klarheit, welches diesen originellen Grundlegungsversuch gegen alle nur denkbaren Einwände abgrenzt und sichert. Eine zentrale Abgrenzung betrifft auch Kant: Er sei noch zu sehr von rationalistisch-realistischen Restbeständen der Leibnizschen Tradition erfüllt gewesen, da er an ein irgendwie real gegebenes Sittengesetz geglaubt habe. Dem will Leist entfliehen, und wenn er auch von "praktischer Wahrheit" spricht, so versteht er das in seiner Argumentation Erreichte doch als einen "kreativen Antirealismus" und als die Verwirklichung eines "konstruktivistischen Programms".
Die Vernunft stößt also nicht auf zeitlos Vorgegebenes, sondern sie erschafft nach Leist den Maßstab selbst. Doch diese Deutung der Leistungsfähigkeit des eigenen Arguments kann nicht so recht überzeugen. Wenn wir tatsächlich als frei handelnde Wesen vernünftigerweise das eigene Handlungsvermögen als Normierungspunkt anerkennen müssen, so scheint dieser kein kreatives Erzeugnis der praktischen Vernunft. Leists Argument soll doch gerade zeigen, daß die Vernunft unvermeidlicherweise auf diesen Maßstab stößt. Insofern kann sie oder das vernunftgeleitete freie Handeln nicht als werterschaffend, sondern nur als wertverwirklichend betrachtet werden. Dieses Handeln ist ein Sachverhalt, in dem die Aufforderung zur Verwirklichung des Guten schon ein Stück weit realisiert ist, und welches der Vernunft deswegen ermöglicht, ihr normatives Flüstern zu vernehmen.
Auch einem Chemiker mag sich erst in einem vollzogenen Experiment zeigen, wie zwei Substanzen zu einem neuartigen Molekül reagieren - woraus nicht folgt, daß er chemische Wahrheiten im Nebeldampf brodelnder Kolben erst kreativ konstruieren würde. Natürlich ist damit noch nicht erklärt, was hier genau geschieht, was diese Vernunft ist, welche in ihrer eigenen Struktur auf normative Vorgaben stößt und wie solche notwendig anzuerkennenden Normen in die Architektur unserer Welt einzufügen sind.
"Eine Einführung in die Ethik" heißt das Buch im Untertitel, und wer erhofft, daß dies eine leichtverdauliche Kost für den wertehungrigen Laien bedeute, wird sich den Magen verderben. Anton Leist hat den Mut, auf höchstem Niveau die fundamentale Aufgabe der Moralphilosophie in Angriff zu nehmen, und dabei eine gehaltvolle Argumentation entwickelt, an der man lange wird kauen können.
CHRISTIAN ILLIES.
Anton Leist: "Die gute Handlung". Eine Einführung in die Ethik. Polis, Band 4. Akademie Verlag, Berlin 2000. 416 S., br., 24,79 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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