Die Geschichte eines griechischen Vaters, rückwärts erzählt - vom Tod auf der Pflegestation bis zurück in die Zeit vor dem ersten Kind, als der Vater noch kein Vater war. Als Neunzehnjähriger verlässt dieser Anfang der fünfziger Jahre seine Heimat und kann wegen der Militärdiktatur lange nicht zurückkehren. In Wien studiert er Medizin, in Schweden heiratet er eine Kunststudentin aus Österreich. Schließlich geht er nach Griechenland zurück, um eine neue medizinische Fakultät und ein Zuhause für seine Familie aufzubauen. Mit Liebe und literarischem Witz beleuchtet Aris Fioretos die Beziehung zwischen einem Vater und einem Sohn. Eine Hommage an einen geliebten Menschen, dessen Leben von einem Geheimnis geprägt war.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Viel Freude hatte Rezensent Ulrich Rüdenauer bei der Lektüre dieses "Erinnerungs- und zugleich Selbstvergewisserungsbuchs", das nicht allein als autobiografischer Versuch des Autors, ein Bild des eigenen Vaters zu rekonstruieren, bestehe, sondern vor allem auch als (zudem sorgfältig übersetzte) Literatur hohen Rangs, die den Leser zur Reflexion über die eigene Herkunft anrege. Der Vater des Autors war ein Grieche, den der Militärputsch 1967 dazu zwang, seinen Studienaufenthalt in Österreich und Schweden zum permanenten Exil auszudehnen, erklärt der Rezensent, der diesen Mann und sein Schicksal durch seinen Sohn Fioretos über eine Fülle von genau beobachteten Details kennenlernt. Dazu zählt nicht nur die Sprache, sondern insbesondere auch Gestik und Mimik, die Fioretos mit stilistischer Vielfalt beschreibe. Bei dieser Puzzlearbeit gelingen dem Autor großartige Bilder, konstatiert der Rezensent. Er habe bei der Lektüre angefangen, sich selbst Geschichten aus der eigenen Vergangenheit zu erzählen, bekennt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.2013So entzündet man Erinnerungen
Aris Fioretos lässt mit "Die halbe Sonne" seinen verstorbenen Vater zu neuem Leben auferstehen.
Wenn "Ein Buch über einen Vater", wie es im Untertitel heißt, mit einem Anruf auf dem Handy des Sohnes beginnt, wenn plötzlich mit traumähnlicher Überdeutlichkeit das Zerstäuben einer Fontäne im Teich des Parks wahrgenommen wird, die über das Wasser gleitenden Enten, wenn der Augenblick in einer Endlosschleife gefangen scheint, dann muss nicht gesondert ausgesprochen werden, welche Mitteilung der Sohn soeben erhalten hat.
"Die halbe Sonne" von Aris Fioretos beginnt mit einer Zäsur, mit dem Tod des Vaters, und dieser Tod ist es auch, der das Schreiben initiiert. Als der Sohn wenige Tage nach der Todesmeldung die Kapelle betritt, in der der Leichnam des Vaters aufgebahrt ist, scheint die verstreichende Zeit, scheinen die einzelnen Momente noch immer wie etwas Fremdes in sein Bewusstsein vorzustoßen. Alles ist verlangsamt, und zugleich läuft und funktioniert die Welt draußen auf eine beängstigende Weise weiter, während die innere stillzustehen scheint.
Der Sohn beginnt zu notieren, was er sieht, zählt Ziegelsteine, Kerzenständer, Belüftungsventile, erstellt ein Verzeichnis der Dinge, die er wahrnimmt während dieser letzten Begegnung. Ein Versuch, diesen Moment nicht ins Vergessen entgleiten zu lassen, gleichermaßen natürlich auch der Versuch, das Leben nach diesem Einschnitt neu zu ordnen.
Das Notieren ist nur der Anfang des Schreibens. Nach und nach - in Prosaminiaturen und kleinen Szenen, mitunter sind es auch kürzeste Dramolette oder knappe, vermeintlich ernsthafte, aber zugleich fabelhaft alberne Thesenkataloge über das Wesen des Verstorbenen - denkt sich der Sohn zurück zum Vater, fügt dessen Bild mit jedem Textabschnitt ein Stückchen hinzu, setzt ihn aus Erinnerungen gleichsam wieder zusammen. In seinen letzten Lebensjahren verfiel der Vater zusehends, Parkinson und Demenz lösten Körper wie Geist immer mehr auf. Der letzte Sturz fesselte ihn als Querschnittsgelähmten ans Bett, die mageren Ellenbogen wie ungelenke Flügel vom Körper abstehend.
Aris Fioretos erzählt nun die Geschichte des Vaters rückwärts, er beginnt mit dem Tod und tastet und denkt sich Schritt für Schritt vor, lässt den Vater vitaler werden, hebt den Verfall auf, verwandelt den Vater in einen jungen Mann zurück, bis hin zu jenem Moment, in dem er zum Vater wird: den Moment der Geburt des Sohnes, des Erzählers. Fioretos baut sich, wie er es nennt, einen "Paparat".
Dass der Sohn diesen Paparat bauen, dass er das Buch schreiben muss, ist der unausgesprochene Wunsch des Vaters selbst. In dessen Regal hat der Sohn ein Buch entdeckt, nur ein einziger Satz darin ist unterstrichen: "Es war einmal ein Vater." Und so lässt der Sohn ihn entstehen: einen griechischen Vater von vier Kindern, einen Arzt, der in Schweden lebt, weil er als junger Mann seine Heimat verlassen musste, aus politischen Gründen, wie es zunächst den Eindruck hat. Der wahre Grund für die Flucht bleibt lange im Vagen und enthüllt sich erst gegen Ende als die eigentliche Tragik des wuchtigen, eigenwilligen Mannes, zu dem der Verstorbene mehr und mehr wird.
Die Nähe des Erzählers zur Biographie seines Autors ist unverkennbar. Fioretos wurde 1960 in Stockholm als Sohn eines griechischen Vaters und einer österreichischen Mutter geboren. Zugleich aber ist die Frage nach der biographischen Verankerung marginal, weil es etwas anderes ist, das dieses Buch ausmacht: Es erzählt über die Lebens-, Denk- und Gefühlsräume, die Eltern durch ihre physische und emotionale Präsenz, durch ihre Liebe, ihren Kindern schaffen. Und Fioretos gelingt es, diese Erfahrung im Erzählen unmittelbar sinnlich werden zu lassen. "Der Handteller eines ausländischen Vaters ist größer als der Himmel über euch", heißt es an einer Stelle, und sogleich schaut man aus der Perspektive eines Kindes, für das Geborgenheit und väterliche Stärke unverrückbar und fraglos sind. Womöglich ist diese Verwurzelung noch intensiver, wenn das Kind, wie in diesem Fall, immer auch die Erfahrung von Fremdheit, die Spuren der Migration in sich trägt.
Der Vater ist bei Fioretos stets der "ausländische Vater", ein Vater, der sich nicht nur physiognomisch, sondern auch habituell von denen der Mitschüler unterscheidet, der auf der einen Seite mit unhinterfragter, bisweilen egozentrischer Autorität über das Leben seiner Frau und der vier Kinder bestimmt, immer wieder Umzüge anordnet, aber auf der anderen Seite bereits auf das Kind für Momente täppisch oder hilflos wirkt, wenn sich etwa seine Sprache improvisierend durchs Schwedische schlängelt. Die Kunst von Fioretos' Erzählen besteht darin, dass er diesen immerzu maßlosen, kraftstrotzenden Vater in kleine Prosastücke bannt, ohne ihn seiner Kraft, seiner Unfassbarkeit zu berauben.
Vorangestellt ist dem Buch kein Zitat, sondern ein kleines Bild: das Emblem einer Streichholzschachtel - ein stilisierter Knabe, der einer Sonne entgegenläuft, die als Kreis mit Zackenkranz in der linken oberen Ecke des Bildes leuchtet, halb abgeschnitten. Tatsächlich scheint es eher, als liefe der Junge rückwärts, mit geschlossenen Augen. Nicht nur den Titel seines Buches hat Fioretos aus diesem Bild geschöpft, auch das Prinzip des zugleich vorwärts und rückwärts schreitenden Erzählens. Und nicht zuletzt ist auch die kleine Form, die Fioretos für sein Erzählen wählt, dem Wesen dieser Schachtel verwandt. Dass Erinnerungen wie Streichhölzer seien, sagt der Sohn in einem imaginären Dialog mit dem Vater. "Sie flammen auf, spenden für einen Moment Licht, erlöschen." Der Vater widerspricht: "Danke, aber nein danke. Erinnerungen müssen wie Reibflächen behandelt werden."
Fioretos schafft beides. Doch was dem Sohn mit diesem Buch gelingt, das leistete zu Lebzeiten die Frau des Verstorbenen, die Mutter des Erzählers. Und so sind es zwei ihrer Sätze, die das Buch von Fioretos rahmen: "Jetzt ist es passiert", sagt sie, als sie ihrem Sohn am Telefon den Tod des Vaters mitteilen muss. "Ich glaube", sagt sie leise zu ihrem Mann, "es ist so weit, du wirst Vater." Das ist der letzte Satz dieses ebenso melancholischen wie unbändig witzigen Buches.
WIEBKE POROMBKA
Aris Fioretos: "Die halbe Sonne". Ein Buch über einen Vater.
Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Carl Hanser Verlag, München 2013. 192 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aris Fioretos lässt mit "Die halbe Sonne" seinen verstorbenen Vater zu neuem Leben auferstehen.
Wenn "Ein Buch über einen Vater", wie es im Untertitel heißt, mit einem Anruf auf dem Handy des Sohnes beginnt, wenn plötzlich mit traumähnlicher Überdeutlichkeit das Zerstäuben einer Fontäne im Teich des Parks wahrgenommen wird, die über das Wasser gleitenden Enten, wenn der Augenblick in einer Endlosschleife gefangen scheint, dann muss nicht gesondert ausgesprochen werden, welche Mitteilung der Sohn soeben erhalten hat.
"Die halbe Sonne" von Aris Fioretos beginnt mit einer Zäsur, mit dem Tod des Vaters, und dieser Tod ist es auch, der das Schreiben initiiert. Als der Sohn wenige Tage nach der Todesmeldung die Kapelle betritt, in der der Leichnam des Vaters aufgebahrt ist, scheint die verstreichende Zeit, scheinen die einzelnen Momente noch immer wie etwas Fremdes in sein Bewusstsein vorzustoßen. Alles ist verlangsamt, und zugleich läuft und funktioniert die Welt draußen auf eine beängstigende Weise weiter, während die innere stillzustehen scheint.
Der Sohn beginnt zu notieren, was er sieht, zählt Ziegelsteine, Kerzenständer, Belüftungsventile, erstellt ein Verzeichnis der Dinge, die er wahrnimmt während dieser letzten Begegnung. Ein Versuch, diesen Moment nicht ins Vergessen entgleiten zu lassen, gleichermaßen natürlich auch der Versuch, das Leben nach diesem Einschnitt neu zu ordnen.
Das Notieren ist nur der Anfang des Schreibens. Nach und nach - in Prosaminiaturen und kleinen Szenen, mitunter sind es auch kürzeste Dramolette oder knappe, vermeintlich ernsthafte, aber zugleich fabelhaft alberne Thesenkataloge über das Wesen des Verstorbenen - denkt sich der Sohn zurück zum Vater, fügt dessen Bild mit jedem Textabschnitt ein Stückchen hinzu, setzt ihn aus Erinnerungen gleichsam wieder zusammen. In seinen letzten Lebensjahren verfiel der Vater zusehends, Parkinson und Demenz lösten Körper wie Geist immer mehr auf. Der letzte Sturz fesselte ihn als Querschnittsgelähmten ans Bett, die mageren Ellenbogen wie ungelenke Flügel vom Körper abstehend.
Aris Fioretos erzählt nun die Geschichte des Vaters rückwärts, er beginnt mit dem Tod und tastet und denkt sich Schritt für Schritt vor, lässt den Vater vitaler werden, hebt den Verfall auf, verwandelt den Vater in einen jungen Mann zurück, bis hin zu jenem Moment, in dem er zum Vater wird: den Moment der Geburt des Sohnes, des Erzählers. Fioretos baut sich, wie er es nennt, einen "Paparat".
Dass der Sohn diesen Paparat bauen, dass er das Buch schreiben muss, ist der unausgesprochene Wunsch des Vaters selbst. In dessen Regal hat der Sohn ein Buch entdeckt, nur ein einziger Satz darin ist unterstrichen: "Es war einmal ein Vater." Und so lässt der Sohn ihn entstehen: einen griechischen Vater von vier Kindern, einen Arzt, der in Schweden lebt, weil er als junger Mann seine Heimat verlassen musste, aus politischen Gründen, wie es zunächst den Eindruck hat. Der wahre Grund für die Flucht bleibt lange im Vagen und enthüllt sich erst gegen Ende als die eigentliche Tragik des wuchtigen, eigenwilligen Mannes, zu dem der Verstorbene mehr und mehr wird.
Die Nähe des Erzählers zur Biographie seines Autors ist unverkennbar. Fioretos wurde 1960 in Stockholm als Sohn eines griechischen Vaters und einer österreichischen Mutter geboren. Zugleich aber ist die Frage nach der biographischen Verankerung marginal, weil es etwas anderes ist, das dieses Buch ausmacht: Es erzählt über die Lebens-, Denk- und Gefühlsräume, die Eltern durch ihre physische und emotionale Präsenz, durch ihre Liebe, ihren Kindern schaffen. Und Fioretos gelingt es, diese Erfahrung im Erzählen unmittelbar sinnlich werden zu lassen. "Der Handteller eines ausländischen Vaters ist größer als der Himmel über euch", heißt es an einer Stelle, und sogleich schaut man aus der Perspektive eines Kindes, für das Geborgenheit und väterliche Stärke unverrückbar und fraglos sind. Womöglich ist diese Verwurzelung noch intensiver, wenn das Kind, wie in diesem Fall, immer auch die Erfahrung von Fremdheit, die Spuren der Migration in sich trägt.
Der Vater ist bei Fioretos stets der "ausländische Vater", ein Vater, der sich nicht nur physiognomisch, sondern auch habituell von denen der Mitschüler unterscheidet, der auf der einen Seite mit unhinterfragter, bisweilen egozentrischer Autorität über das Leben seiner Frau und der vier Kinder bestimmt, immer wieder Umzüge anordnet, aber auf der anderen Seite bereits auf das Kind für Momente täppisch oder hilflos wirkt, wenn sich etwa seine Sprache improvisierend durchs Schwedische schlängelt. Die Kunst von Fioretos' Erzählen besteht darin, dass er diesen immerzu maßlosen, kraftstrotzenden Vater in kleine Prosastücke bannt, ohne ihn seiner Kraft, seiner Unfassbarkeit zu berauben.
Vorangestellt ist dem Buch kein Zitat, sondern ein kleines Bild: das Emblem einer Streichholzschachtel - ein stilisierter Knabe, der einer Sonne entgegenläuft, die als Kreis mit Zackenkranz in der linken oberen Ecke des Bildes leuchtet, halb abgeschnitten. Tatsächlich scheint es eher, als liefe der Junge rückwärts, mit geschlossenen Augen. Nicht nur den Titel seines Buches hat Fioretos aus diesem Bild geschöpft, auch das Prinzip des zugleich vorwärts und rückwärts schreitenden Erzählens. Und nicht zuletzt ist auch die kleine Form, die Fioretos für sein Erzählen wählt, dem Wesen dieser Schachtel verwandt. Dass Erinnerungen wie Streichhölzer seien, sagt der Sohn in einem imaginären Dialog mit dem Vater. "Sie flammen auf, spenden für einen Moment Licht, erlöschen." Der Vater widerspricht: "Danke, aber nein danke. Erinnerungen müssen wie Reibflächen behandelt werden."
Fioretos schafft beides. Doch was dem Sohn mit diesem Buch gelingt, das leistete zu Lebzeiten die Frau des Verstorbenen, die Mutter des Erzählers. Und so sind es zwei ihrer Sätze, die das Buch von Fioretos rahmen: "Jetzt ist es passiert", sagt sie, als sie ihrem Sohn am Telefon den Tod des Vaters mitteilen muss. "Ich glaube", sagt sie leise zu ihrem Mann, "es ist so weit, du wirst Vater." Das ist der letzte Satz dieses ebenso melancholischen wie unbändig witzigen Buches.
WIEBKE POROMBKA
Aris Fioretos: "Die halbe Sonne". Ein Buch über einen Vater.
Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Carl Hanser Verlag, München 2013. 192 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Aris Fioretos' 'Die halbe Sonne' ist ein hinreißender Lobgesang auf seinen Vater." Ursula März, Die Zeit, 16.05.13
"Fioretos ist ein mit allen Wassern gewaschener Autor, der seine Spurensuche formal so geschickt aufbaut, dass daraus etwas höchst Literarisches wird." Ulrich Rüdenauer, Die Tageszeitung, 18./19./20.05.13
"Wie in allen vorangegangenen Büchern tritt hier ein überaus eleganter Wort- und Zeichenspieler auf den Plan." Jutta Person, Süddeutsche Zeitung, 31.05.2013
"Mehr Worte braucht der wie stets stilistisch blendende und verblüffend einfallsreiche Aris Fioretos nicht." Katrin Hillgruber, Der Tagesspiegel, 01.06.2013
"Fioretos ist ein mit allen Wassern gewaschener Autor, der seine Spurensuche formal so geschickt aufbaut, dass daraus etwas höchst Literarisches wird." Ulrich Rüdenauer, Die Tageszeitung, 18./19./20.05.13
"Wie in allen vorangegangenen Büchern tritt hier ein überaus eleganter Wort- und Zeichenspieler auf den Plan." Jutta Person, Süddeutsche Zeitung, 31.05.2013
"Mehr Worte braucht der wie stets stilistisch blendende und verblüffend einfallsreiche Aris Fioretos nicht." Katrin Hillgruber, Der Tagesspiegel, 01.06.2013