In seinem großen europäischen Roman spannt Robert Menasse einen weiten Bogen zwischen den Zeiten, den Nationen, dem Unausweichlichen und der Ironie des Schicksals, zwischen kleinlicher Bürokratie und großen Gefühlen.
Fenia Xenopoulou, Beamtin in der Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommission, steht vor einer schwierigen Aufgabe. Sie soll das Image der Kommission aufpolieren. Aber wie? Sie beauftragt den Referenten Martin Susman, eine Idee zu entwickeln. Die Idee nimmt Gestalt an – die Gestalt eines Gespensts aus der Geschichte, das für Unruhe in den EU-Institutionen sorgt. David de Vriend dämmert in einem Altenheim gegenüber dem Brüsseler Friedhof seinem Tod entgegen. Als Kind ist er von einem Deportationszug gesprungen, der seine Eltern in den Tod führte. Nun soll er bezeugen, was er im Begriff ist zu vergessen. Auch Kommissar Brunfaut steht vor einer schwierigen Aufgabe. Er muss aus politischen Gründen einen Mordfall auf sich beruhen lassen - »zu den Akten legen« wäre zu viel gesagt, denn die sind unauffindbar.
Fenia Xenopoulou, Beamtin in der Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommission, steht vor einer schwierigen Aufgabe. Sie soll das Image der Kommission aufpolieren. Aber wie? Sie beauftragt den Referenten Martin Susman, eine Idee zu entwickeln. Die Idee nimmt Gestalt an – die Gestalt eines Gespensts aus der Geschichte, das für Unruhe in den EU-Institutionen sorgt. David de Vriend dämmert in einem Altenheim gegenüber dem Brüsseler Friedhof seinem Tod entgegen. Als Kind ist er von einem Deportationszug gesprungen, der seine Eltern in den Tod führte. Nun soll er bezeugen, was er im Begriff ist zu vergessen. Auch Kommissar Brunfaut steht vor einer schwierigen Aufgabe. Er muss aus politischen Gründen einen Mordfall auf sich beruhen lassen - »zu den Akten legen« wäre zu viel gesagt, denn die sind unauffindbar.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.03.2018Dem Autor ist nicht wohl
Robert Menasse hat in Brüssel seinen EU-Roman „Die Hauptstadt“ vorgestellt
Es ist nicht so, als läge im überfüllten Saal der Hessischen Landesvertretung in Brüs-sel das Absurde der Situation nicht ohnehin schon in der Luft, aber Robert Menasse geht auf Nummer sicher. Vor der Lesung aus seinem EU-Roman „Die Hauptstadt“ zieht Menasse das Handy aus der Tasche und sagt: „Bevor ich lese, ersuche ich Sie um Erlaubnis, von Ihnen ein Foto machen zu dürfen.“ Um sodann sein Mobiltelefon auf das zu richten, was er eine „qualifizierte Öffentlichkeit“ nennt. Für den Facebook-Account, wie er mitteilt. Wenn Menasse in die „Hauptstadt“ kommt, um vor Beamten, Diplomaten, Lobbyisten und EU-Abgeordneten zu lesen, dann dürfen sich beide Seiten geschmeichelt fühlen. „Eine Liebeserklärung an die EU-Kommission“ nennt Martin Selmayr, jener kürzlich unter umstrittenen Umständen zum Generalsekretär aufgestiegene und die Phantasie vieler EU-Beobachter ungeheuer anregende Machtmensch, das Buch, von dem der Suhrkamp-Verlag mittlerweile 300 000 Exemplare und 25 Übersetzungslizenzen verkauft hat. Den Erfolg des mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Romans hätten die im Saal Versammelten wohl am wenigsten vorausgesagt. Ihrem Ruf als gesichtslose Bürokraten sind die Brüsseler Beamten zuweilen resigniert, manchmal zurecht ergeben. Umso dankbarer sind sie Menasse. Es sei ihm darum gegangen, die EU als „menschengemachtes Projekt“ zu schildern mit Typen, die Abgründe haben könnten, mal „biestig“, mal solidarisch.
Der Zufall will es, dass Selmayr, der schon vor längerer Zeit zugesagt hatte, nun an der Seite Menasses erstmals seit seiner Beförderung vom mächtigen Kabinettschef des Kommissionspräsidenten zum noch mächtigeren Generalsekretär Rede und Antwort stehen muss zum Aufruhr um seine Person. Er sucht, zunächst nicht ungeschickt, Zuflucht in Menasses Schrift. „Man traut der Kommission alles zu. Das gehört auch zu dem, was Menasse schreibt über das Image der Kommission“, verkündet Selmayr. Es verhalte sich in seinem Fall so wie beim von Menasse geschilderten Verbot der Homöopathie durch die EU-Kommission: „Stimmt nicht. Ist nichts dran, aber die gesamte Kommunikationsabteilung der Kommission macht drei Wochen lang nichts anderes, als das Gerücht zu beseitigen.“ Da wolle jemand die Kommission schlecht aussehen lassen, erläutert Selmayr, und legt ein paar Fährten - zu den Gegnern der Griechenland-Rettung, nach Polen, nach Ungarn. Schon bei Menasse stehe ja: „Das schlechte Image der Kommission ist gut für England.“
Dem Autor ist nicht wohl dabei. Er will ja eigentlich etwas anderes. Er sucht Verbündete gegen das, was er für elenden Pragmatismus hält. Für ein Europa, aus dem die Nationalstaaten endlich wegsterben. Keine Vereinigten Staaten von Europa, sondern einfach den Staat Europa. „Vereinigte Staaten ist Vintage, EU ist Avantgarde“, sagt er. Und wo, wenn nicht hier, verspricht das Applaus?
DANIEL BRÖSSLER
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Robert Menasse hat in Brüssel seinen EU-Roman „Die Hauptstadt“ vorgestellt
Es ist nicht so, als läge im überfüllten Saal der Hessischen Landesvertretung in Brüs-sel das Absurde der Situation nicht ohnehin schon in der Luft, aber Robert Menasse geht auf Nummer sicher. Vor der Lesung aus seinem EU-Roman „Die Hauptstadt“ zieht Menasse das Handy aus der Tasche und sagt: „Bevor ich lese, ersuche ich Sie um Erlaubnis, von Ihnen ein Foto machen zu dürfen.“ Um sodann sein Mobiltelefon auf das zu richten, was er eine „qualifizierte Öffentlichkeit“ nennt. Für den Facebook-Account, wie er mitteilt. Wenn Menasse in die „Hauptstadt“ kommt, um vor Beamten, Diplomaten, Lobbyisten und EU-Abgeordneten zu lesen, dann dürfen sich beide Seiten geschmeichelt fühlen. „Eine Liebeserklärung an die EU-Kommission“ nennt Martin Selmayr, jener kürzlich unter umstrittenen Umständen zum Generalsekretär aufgestiegene und die Phantasie vieler EU-Beobachter ungeheuer anregende Machtmensch, das Buch, von dem der Suhrkamp-Verlag mittlerweile 300 000 Exemplare und 25 Übersetzungslizenzen verkauft hat. Den Erfolg des mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Romans hätten die im Saal Versammelten wohl am wenigsten vorausgesagt. Ihrem Ruf als gesichtslose Bürokraten sind die Brüsseler Beamten zuweilen resigniert, manchmal zurecht ergeben. Umso dankbarer sind sie Menasse. Es sei ihm darum gegangen, die EU als „menschengemachtes Projekt“ zu schildern mit Typen, die Abgründe haben könnten, mal „biestig“, mal solidarisch.
Der Zufall will es, dass Selmayr, der schon vor längerer Zeit zugesagt hatte, nun an der Seite Menasses erstmals seit seiner Beförderung vom mächtigen Kabinettschef des Kommissionspräsidenten zum noch mächtigeren Generalsekretär Rede und Antwort stehen muss zum Aufruhr um seine Person. Er sucht, zunächst nicht ungeschickt, Zuflucht in Menasses Schrift. „Man traut der Kommission alles zu. Das gehört auch zu dem, was Menasse schreibt über das Image der Kommission“, verkündet Selmayr. Es verhalte sich in seinem Fall so wie beim von Menasse geschilderten Verbot der Homöopathie durch die EU-Kommission: „Stimmt nicht. Ist nichts dran, aber die gesamte Kommunikationsabteilung der Kommission macht drei Wochen lang nichts anderes, als das Gerücht zu beseitigen.“ Da wolle jemand die Kommission schlecht aussehen lassen, erläutert Selmayr, und legt ein paar Fährten - zu den Gegnern der Griechenland-Rettung, nach Polen, nach Ungarn. Schon bei Menasse stehe ja: „Das schlechte Image der Kommission ist gut für England.“
Dem Autor ist nicht wohl dabei. Er will ja eigentlich etwas anderes. Er sucht Verbündete gegen das, was er für elenden Pragmatismus hält. Für ein Europa, aus dem die Nationalstaaten endlich wegsterben. Keine Vereinigten Staaten von Europa, sondern einfach den Staat Europa. „Vereinigte Staaten ist Vintage, EU ist Avantgarde“, sagt er. Und wo, wenn nicht hier, verspricht das Applaus?
DANIEL BRÖSSLER
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2017Die Leiden des Kulturbeamten Susman
Man kann auch zu viel Schwein haben: Robert Menasse beschert in seinem Roman "Die Hauptstadt" der Europäischen Kommission ihr literarisches Debüt.
Mit seinem Buch "Die Hauptstadt" begründet der 1954 in Wien geborene Erzähler und Essayist Robert Menasse ein neues Genre der deutschsprachigen Literatur: den Europa-Roman. Deutsche Romane aus europäischem Geist oder mit europäischer Wirkung: Das hat es seit Goethes "Werther" allemal gegeben. Nicht aber ein Erzählen aus dem Inneren der europäischen Institutionen, die als Folge der Römischen Verträge von 1957 immerhin schon sechzig Jahre lang existieren. Ihr Debüt kommt also spät.
Eine Hauptfigur hat "Die Hauptstadt" nicht, dafür eine Reihe relativ gleichrangiger Protagonisten, deren Auftritte an Robert Altmans Kinoklassiker "Short Cuts" erinnern: Sie wechseln sich episodisch ab, begegnen sich bisweilen rein zufällig oder aus beruflicher Notwendigkeit, reichen den Erzählstab dann an eine schon bekannte Person zurück oder geben ihn an eine neue weiter. Einer der Protagonisten heißt Martin Susman, ist Österreicher, etwa Mitte vierzig, wohnhaft in Brüssel. Beruf? "Er war", so stellt ihn der anonyme Erzähler vor, "Beamter der Europäischen Kommission, Generaldirektion ,Kultur und Bildung', zugeteilt der Direktion C ,Kommunikation', und leitete die Abteilung EAC-C-2 ,Programm und Maßnahmen Kultur'." Im Zweifel geht in diesem Roman Genauigkeit vor Seele. Weshalb das Benennen von Susmans Tätigkeit auch nicht pedantisch ist, sondern präzis.
Man muss sich überdies an Abkürzungen gewöhnen wie "DG Agri" (Directorate-General for Agriculture and Rural Development), man muss sich damit abfinden, dass es permanent um "Bullet-Points" geht, also die Stichworte einer Entscheidungsvorlage, des Öfteren auch um den oder das "Badge", die Ansteckplakette für den privilegierten Zugang zu Veranstaltungen, sprich: Events. Erstaunlich dabei: Man gewöhnt sich rasch daran. Die größte Leistung des Romans besteht darin, das Funktionieren eines vielsprachigen und multinationalen Gesamtapparats so zu schildern, dass wir, die Leser, teilnehmendes Interesse an ihm gewinnen. Und das tun wir - auch dank Menasses Gebrauch des Globalidioms.
"Die Hauptstadt" spielt in der unmittelbaren Gegenwart. Dem islamistischen Terroranschlag auf die U-Bahn-Station Maelbeek im März 2016 fallen auch Figuren des Romans zum Opfer, über das Brexit-Votum vom Juni jenes Jahres wird diskutiert. Handwerklich klug ist der Verzicht, die aktuellen Kommissare ebenso wenig beim Namen zu nennen wie den Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, der im Roman als anonyme Allgegenwart über den Brüsseler Wassern schwebt und über dessen Lieblingsbuch man spekulieren darf. Umso plastischer und glaubwürdiger treten die Spitzenbeamten einiger Ressorts und Mitarbeiter als fiktive Charaktere auf, reale Bezüge schließt das nicht aus. In Brüssel könnte es bald zum Dechiffrierspiel werden, wer denn wer sei in Menasses Roman.
Der Teilapparat Kultur, in dem Martin Susman wirkt, gilt als Stiefkind der Kommission. Gleichwohl fühlen sich Susman und seine Kollegen aus Tschechien oder Zypern wie in einer "Arche Noah": Verschonte sind sie auf dem tosenden Meer der Großadministration. Der aktuelle Auftrag, der auf sie zukommt, verspricht zudem unverhofftes Renommee. Es geht um das "Big Jubilee Project". Je nach Gründungsdatum der frühen EWG oder der späteren EG gerechnet, wird "die Kommission in drei Jahren sechzig, im anderen Fall in zwei Jahren fünfzig". Das will gefeiert sein. Aber wie?
Mehrfach ist in Menasses Roman die Rede von Robert Musils Jahrhundertprosa "Der Mann ohne Eigenschaften". Dort - handelnd im Wien des Jahres 1913 - wird ebenfalls ein großes Jubiläum vorbereitet: die siebzigjährige Thronbesteigung des Kaisers Franz Joseph I., die 1918 festlich zu begehen wäre. Gesucht wird nach einer übergreifenden Idee, die, im Brüsseler Jargon von heute, vier "Bullet-Points" zu berücksichtigen hat: "Friedenskaiser, europäischer Markstein, wahres Österreich und Besitz und Bildung". Zudem gilt es, die Superiorität Franz Josephs über den deutschen Kaiser Wilhelm II. zu bekräftigen, der 1918 erst auf eine dreißigjährige Regentschaft würde zurückblicken können. Weshalb denn auch die Wiener Suche nach der Zentralidee unter dem Stichwort "Parallelaktion" firmiert.
Absichtsvoll spielt Menasses "Jubilee Project" mit Musils "Parallelaktion". Das spricht für kühnen Erzählermut, wird aber zur Hybris des Romans. Musils sublime Kunst besteht darin, die große Idee als leere Hülse zu schildern - und die Suche nach ihr in einen Gesellschaftsreigen voller Sentiment und Satire zu verwandeln. Bei Menasse ist es der Kulturbeamte Susman, der die Idee für das nahende Jubiläum findet: "Auschwitz als Geburtsort der Europäischen Kommission", denn: "Nie wieder - das ist Europa!" Deshalb gelte es jetzt, die Überlebenden der Vernichtungslager "ins Zentrum der Feierlichkeit" zu stellen.
In Menasses bis dato fünf Romanen seit 1988, zumal in den beiden besten - "Selige Zeiten, brüchige Welt" (1991) und "Die Vertreibung aus der Hölle" (2001) -, findet sich als Erzählkern die emphatische Verbindung zwischen einer dramatisch ernsten, nicht selten tragisch oder geschichtskatastrophal zugespitzten Handlung und einem eher kolloquialen, ja saloppen Stil, der sich mit Vorliebe situationskomischer Elemente bedient und im Slapstick ganz zu sich selbst kommt. Diese Synthese sucht auch das neue Buch. Die Schilderung des Brüsseler Beamtenmilieus bereitet dabei keine Schwierigkeiten, im Gegenteil: Sie gelingt ungemein.
Um Susmans Idee nicht nur zeithistorisch, sondern auch erzählerisch zu plausibilisieren, entfaltet Menasse eine beeindruckende Konstruktionsenergie. Ein Strang seiner Short Cuts rekapituliert die Geschichte des belgischen Auschwitz-Überlebenden David de Vriend, eines inzwischen hochbetagten Lehrers, der im Seniorenheim unweit der europäischen Institutionen eine letzte Bleibe findet. Einen vollständigen Lebenslauf erhält auch Alois Erhart, das Wiener Kind eines Hitlersoldaten und jetzt ein emeritierter Wirtschaftsprofessor. Er wird gegen Ende des Romans den Mitgliedern des ",New Pact for Europe'-Think-Tanks" die Leviten lesen, dabei das Ende der Nationalstaaten und das Entstehen einer europäischen Republik fordern - und er wird das Areal um das Lager von Auschwitz als Sitz einer neu zu gründenden europäischen Hauptstadt reklamieren.
Man muss mit Menasse nicht darüber rechten, ob Auschwitz, das deutsche Verbrechen, der Ort für das Begründen und Befestigen einer emphatisch europäischen Zukunft sein kann und sein sollte, auch nicht darüber, ob die fast vollständige Gleichsetzung der europäischen Nationalstaaten mit verderblichem Nationalismus haltbar ist. Der Roman postuliert beides und vertritt dabei Menasses geschichtspolitische Sorgen und Wünsche. Kritisch rechten allerdings lässt sich darüber, ob Menasse seine Figuren, zumal Susman und Erhart, nicht mit zu viel Botschaft befrachtet, sie ob ihrer oft seitenlangen Herleitungen und Analysen zu Papiermonstern aufbläst und damit verkleinert. Dass er dies tut, wird zur Hybris der "Hauptstadt".
Im "Mann ohne Eigenschaften" gibt es luzide Kapitel über den Prostituiertenmörder und Psychiatriehäftling Moosbrugger. Menasses Parallelgeschichte dazu handelt vom polnischen Profikiller Oswiecki und seinem Gegenspieler, dem Brüsseler Kommissar Brunfaut. Gestrickt wird daraus eine Verschwörungsfama, in die sich unter Führung des Vatikans die Geheimdienste des Westens verstricken. Bei aller Fabulierfreude, die sich in diesen Passagen findet: Das kann Dan Brown besser, also ein bisschen weniger haarsträubend.
Bleibt der Slapstick. Dafür zuständig ist im neuen Roman zuallererst ein Schwein, "ein verdrecktes, aber eindeutig rosa Hausschwein". Im Prolog rennt es irrlichternd durch Brüssels Zentrum. Das hat skurrilen Witz, zudem ermöglicht es dem Erzähler, wie nebenbei einige für das weitere Geschehen wichtige Figuren vorzustellen. Aber das rastlose Vieh hetzt munter weiter bis ans Ende des Epilogs. Es gibt zu viel Schwein in diesem Roman - zum rennenden Brüssel-Gag gesellen sich "der größte österreichische Schweineproduktionsbetrieb", "das Schwein als Querschnittsmaterie" und schier endlose Schweinefleisch-Verhandlungen mit China.
Im Essay "Der Europäische Landbote" von 2012, einem fulminanten Plädoyer für die Kompetenz und die Vernunft der wohlfeil "vielgeschmähten EU-Bürokratie", hat sich Robert Menasse die Frage gestellt, ob die Europäische Kommission überhaupt "romanfähig" sei. Seine Antwort, ein entschiedenes Ja, ist der Roman "Die Hauptstadt". Den Reichtum, die Energie und den Furor des Buches respektvoll rühmend, bleibt, aufs Ganze gelesen, am Ende aber doch ein entschiedenes Jein. Susmans Idee für das "Jubilee Project" versickert übrigens in den Intrigen der Kommission.
JOCHEN HIEBER
Robert Menasse: "Die Hauptstadt". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 458 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Man kann auch zu viel Schwein haben: Robert Menasse beschert in seinem Roman "Die Hauptstadt" der Europäischen Kommission ihr literarisches Debüt.
Mit seinem Buch "Die Hauptstadt" begründet der 1954 in Wien geborene Erzähler und Essayist Robert Menasse ein neues Genre der deutschsprachigen Literatur: den Europa-Roman. Deutsche Romane aus europäischem Geist oder mit europäischer Wirkung: Das hat es seit Goethes "Werther" allemal gegeben. Nicht aber ein Erzählen aus dem Inneren der europäischen Institutionen, die als Folge der Römischen Verträge von 1957 immerhin schon sechzig Jahre lang existieren. Ihr Debüt kommt also spät.
Eine Hauptfigur hat "Die Hauptstadt" nicht, dafür eine Reihe relativ gleichrangiger Protagonisten, deren Auftritte an Robert Altmans Kinoklassiker "Short Cuts" erinnern: Sie wechseln sich episodisch ab, begegnen sich bisweilen rein zufällig oder aus beruflicher Notwendigkeit, reichen den Erzählstab dann an eine schon bekannte Person zurück oder geben ihn an eine neue weiter. Einer der Protagonisten heißt Martin Susman, ist Österreicher, etwa Mitte vierzig, wohnhaft in Brüssel. Beruf? "Er war", so stellt ihn der anonyme Erzähler vor, "Beamter der Europäischen Kommission, Generaldirektion ,Kultur und Bildung', zugeteilt der Direktion C ,Kommunikation', und leitete die Abteilung EAC-C-2 ,Programm und Maßnahmen Kultur'." Im Zweifel geht in diesem Roman Genauigkeit vor Seele. Weshalb das Benennen von Susmans Tätigkeit auch nicht pedantisch ist, sondern präzis.
Man muss sich überdies an Abkürzungen gewöhnen wie "DG Agri" (Directorate-General for Agriculture and Rural Development), man muss sich damit abfinden, dass es permanent um "Bullet-Points" geht, also die Stichworte einer Entscheidungsvorlage, des Öfteren auch um den oder das "Badge", die Ansteckplakette für den privilegierten Zugang zu Veranstaltungen, sprich: Events. Erstaunlich dabei: Man gewöhnt sich rasch daran. Die größte Leistung des Romans besteht darin, das Funktionieren eines vielsprachigen und multinationalen Gesamtapparats so zu schildern, dass wir, die Leser, teilnehmendes Interesse an ihm gewinnen. Und das tun wir - auch dank Menasses Gebrauch des Globalidioms.
"Die Hauptstadt" spielt in der unmittelbaren Gegenwart. Dem islamistischen Terroranschlag auf die U-Bahn-Station Maelbeek im März 2016 fallen auch Figuren des Romans zum Opfer, über das Brexit-Votum vom Juni jenes Jahres wird diskutiert. Handwerklich klug ist der Verzicht, die aktuellen Kommissare ebenso wenig beim Namen zu nennen wie den Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, der im Roman als anonyme Allgegenwart über den Brüsseler Wassern schwebt und über dessen Lieblingsbuch man spekulieren darf. Umso plastischer und glaubwürdiger treten die Spitzenbeamten einiger Ressorts und Mitarbeiter als fiktive Charaktere auf, reale Bezüge schließt das nicht aus. In Brüssel könnte es bald zum Dechiffrierspiel werden, wer denn wer sei in Menasses Roman.
Der Teilapparat Kultur, in dem Martin Susman wirkt, gilt als Stiefkind der Kommission. Gleichwohl fühlen sich Susman und seine Kollegen aus Tschechien oder Zypern wie in einer "Arche Noah": Verschonte sind sie auf dem tosenden Meer der Großadministration. Der aktuelle Auftrag, der auf sie zukommt, verspricht zudem unverhofftes Renommee. Es geht um das "Big Jubilee Project". Je nach Gründungsdatum der frühen EWG oder der späteren EG gerechnet, wird "die Kommission in drei Jahren sechzig, im anderen Fall in zwei Jahren fünfzig". Das will gefeiert sein. Aber wie?
Mehrfach ist in Menasses Roman die Rede von Robert Musils Jahrhundertprosa "Der Mann ohne Eigenschaften". Dort - handelnd im Wien des Jahres 1913 - wird ebenfalls ein großes Jubiläum vorbereitet: die siebzigjährige Thronbesteigung des Kaisers Franz Joseph I., die 1918 festlich zu begehen wäre. Gesucht wird nach einer übergreifenden Idee, die, im Brüsseler Jargon von heute, vier "Bullet-Points" zu berücksichtigen hat: "Friedenskaiser, europäischer Markstein, wahres Österreich und Besitz und Bildung". Zudem gilt es, die Superiorität Franz Josephs über den deutschen Kaiser Wilhelm II. zu bekräftigen, der 1918 erst auf eine dreißigjährige Regentschaft würde zurückblicken können. Weshalb denn auch die Wiener Suche nach der Zentralidee unter dem Stichwort "Parallelaktion" firmiert.
Absichtsvoll spielt Menasses "Jubilee Project" mit Musils "Parallelaktion". Das spricht für kühnen Erzählermut, wird aber zur Hybris des Romans. Musils sublime Kunst besteht darin, die große Idee als leere Hülse zu schildern - und die Suche nach ihr in einen Gesellschaftsreigen voller Sentiment und Satire zu verwandeln. Bei Menasse ist es der Kulturbeamte Susman, der die Idee für das nahende Jubiläum findet: "Auschwitz als Geburtsort der Europäischen Kommission", denn: "Nie wieder - das ist Europa!" Deshalb gelte es jetzt, die Überlebenden der Vernichtungslager "ins Zentrum der Feierlichkeit" zu stellen.
In Menasses bis dato fünf Romanen seit 1988, zumal in den beiden besten - "Selige Zeiten, brüchige Welt" (1991) und "Die Vertreibung aus der Hölle" (2001) -, findet sich als Erzählkern die emphatische Verbindung zwischen einer dramatisch ernsten, nicht selten tragisch oder geschichtskatastrophal zugespitzten Handlung und einem eher kolloquialen, ja saloppen Stil, der sich mit Vorliebe situationskomischer Elemente bedient und im Slapstick ganz zu sich selbst kommt. Diese Synthese sucht auch das neue Buch. Die Schilderung des Brüsseler Beamtenmilieus bereitet dabei keine Schwierigkeiten, im Gegenteil: Sie gelingt ungemein.
Um Susmans Idee nicht nur zeithistorisch, sondern auch erzählerisch zu plausibilisieren, entfaltet Menasse eine beeindruckende Konstruktionsenergie. Ein Strang seiner Short Cuts rekapituliert die Geschichte des belgischen Auschwitz-Überlebenden David de Vriend, eines inzwischen hochbetagten Lehrers, der im Seniorenheim unweit der europäischen Institutionen eine letzte Bleibe findet. Einen vollständigen Lebenslauf erhält auch Alois Erhart, das Wiener Kind eines Hitlersoldaten und jetzt ein emeritierter Wirtschaftsprofessor. Er wird gegen Ende des Romans den Mitgliedern des ",New Pact for Europe'-Think-Tanks" die Leviten lesen, dabei das Ende der Nationalstaaten und das Entstehen einer europäischen Republik fordern - und er wird das Areal um das Lager von Auschwitz als Sitz einer neu zu gründenden europäischen Hauptstadt reklamieren.
Man muss mit Menasse nicht darüber rechten, ob Auschwitz, das deutsche Verbrechen, der Ort für das Begründen und Befestigen einer emphatisch europäischen Zukunft sein kann und sein sollte, auch nicht darüber, ob die fast vollständige Gleichsetzung der europäischen Nationalstaaten mit verderblichem Nationalismus haltbar ist. Der Roman postuliert beides und vertritt dabei Menasses geschichtspolitische Sorgen und Wünsche. Kritisch rechten allerdings lässt sich darüber, ob Menasse seine Figuren, zumal Susman und Erhart, nicht mit zu viel Botschaft befrachtet, sie ob ihrer oft seitenlangen Herleitungen und Analysen zu Papiermonstern aufbläst und damit verkleinert. Dass er dies tut, wird zur Hybris der "Hauptstadt".
Im "Mann ohne Eigenschaften" gibt es luzide Kapitel über den Prostituiertenmörder und Psychiatriehäftling Moosbrugger. Menasses Parallelgeschichte dazu handelt vom polnischen Profikiller Oswiecki und seinem Gegenspieler, dem Brüsseler Kommissar Brunfaut. Gestrickt wird daraus eine Verschwörungsfama, in die sich unter Führung des Vatikans die Geheimdienste des Westens verstricken. Bei aller Fabulierfreude, die sich in diesen Passagen findet: Das kann Dan Brown besser, also ein bisschen weniger haarsträubend.
Bleibt der Slapstick. Dafür zuständig ist im neuen Roman zuallererst ein Schwein, "ein verdrecktes, aber eindeutig rosa Hausschwein". Im Prolog rennt es irrlichternd durch Brüssels Zentrum. Das hat skurrilen Witz, zudem ermöglicht es dem Erzähler, wie nebenbei einige für das weitere Geschehen wichtige Figuren vorzustellen. Aber das rastlose Vieh hetzt munter weiter bis ans Ende des Epilogs. Es gibt zu viel Schwein in diesem Roman - zum rennenden Brüssel-Gag gesellen sich "der größte österreichische Schweineproduktionsbetrieb", "das Schwein als Querschnittsmaterie" und schier endlose Schweinefleisch-Verhandlungen mit China.
Im Essay "Der Europäische Landbote" von 2012, einem fulminanten Plädoyer für die Kompetenz und die Vernunft der wohlfeil "vielgeschmähten EU-Bürokratie", hat sich Robert Menasse die Frage gestellt, ob die Europäische Kommission überhaupt "romanfähig" sei. Seine Antwort, ein entschiedenes Ja, ist der Roman "Die Hauptstadt". Den Reichtum, die Energie und den Furor des Buches respektvoll rühmend, bleibt, aufs Ganze gelesen, am Ende aber doch ein entschiedenes Jein. Susmans Idee für das "Jubilee Project" versickert übrigens in den Intrigen der Kommission.
JOCHEN HIEBER
Robert Menasse: "Die Hauptstadt". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 458 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Paul Jandl fühlt sich mit Robert Menasses neuem Roman an Musils "Mann ohne Eigenschaften" erinnert. Hier wie da werden die Verhältnisse in ihrer Gefährlichkeit aufgedeckt, bei Menasse ist das vor allem die EU-Wirklichkeit im Abgleich mit ihren Möglichkeiten, erklärt Jandl. Dass Menasse Europa als Thema urbar gemacht hat, findet der Rezensent bemerkenswert, zumal der Autor hier geradezu einen Krimi um die europäische Fleischindustrie entwirft, wie Jandl feststellt. Geschichte und Gegenwart, Tragik und Komik, Hoffnung und Scheitern haben darin gleichermaßen ihren Platz, meint Jandl, ohne dass der Autor es allzu parodistisch oder milieuhaft angehen lässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Eine grandiose ... Liebeserklärung an Europa und gleichzeitig eine blendend recherchierte Innenansicht über die Arbeit der Europäischen Kommission.« Denis Scheck Der Tagesspiegel 20171217