Als Henni Binneweis 1902 das Licht der Welt erblickt, herrscht Wilhelm II. noch über Preußen und Kaiserreich. Die Frauen tragen Krinoline und arbeiten am heimischen Herd. Und ein Mädchen, das im Hinterhof einer Mietskaserne am Prenzlauer Berg aufwächst, sollte nicht zu viel vom Leben erwarten. Aber Henni wird an ihrem vierten Geburtstag geweissagt, dass sie zu Höherem "jeborn" sei, und daran glaubt sie fortan felsenfest. Im Jahr 1914 geht es so richtig los: Der Kaiser erklärt den Serben den Krieg. Das allein ist schon ein Abenteuer. Vor allem aber zerstört der Weltkrieg die alte Ordnung, und eine neue ist nicht in Sicht. Inmitten der revolutionären Tumulte schlägt Henni sich geschickt durch den Alltag. Und weil sie so kess wie hübsch ist, tanzt sie sich schon bald durch die rauschhaften Nächte und hinauf auf die Bühnen der Varietés, wo es munter drunter und drüber geht. Auch zu Hause am Prenzl- berg bleibt kein Stein auf dem anderen. Mama Binneweis ist Jüdin, was nun immer häufiger zur Sprache kommt, die Familie droht zu zerbrechen. Und plötzlich ändert sich auch für Henni alles. Doch Henni wäre nicht Henni, nähme sie nicht den Kampf auf gegen das, was sich unaufhaltsam zu einem bedrohlichen Sturm zusammenbraut.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2020Jettchen wollte hoch hinaus, hoch hinaus, hoch hinaus
Die Ungnade der leichten Verführbarkeit, mit Berlinismen abgeschmeckt: Tim Krohns historischer Roman "Die heilige Henni der Hinterhöfe"
Nicht Johanna, sondern Henriette, keine Schlacht-, sondern Hinterhöfe, dafür eventuell viel Heiligkeit: Nach dem Attentat von Sarajevo hegt die damals zwölfjährige Henni eine Menge schmonzettiger Aufopferungsphantasien zur Rettung von Herzogin Sophie. Denn dass die arme Frau, eine Mutter noch dazu, den Tod gefunden hat, empört sie weit mehr als manch Prager Bedienerin der Umstand, dass man ihr "den Ferdinand erschlagen" hat.
In neidvoll-lebendigen Farben malt sich Henni das Schicksal der drei Waisen "in einem finsteren, leeren Schloss in Böhmen" aus, gerät mit praktischen Fragen wie der, ob Adelskinder auf piksenden Rosshaarmatratzen schlafen, aber rasch an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft, so dass sie sich mit Todesszenarien für sich und ihren älteren Bruder Kuddl in den Schlaf träumt. Das Morbide soll ihre Leidenschaft bleiben. Nach dem Tod einer Nachbarin spielt sie "schwindsüchtig, denn darin steckte wenigstens eine Ahnung von Größe. Aber richtig wahre Größe war es noch nicht."
Die will sie jedoch partout erreichen, schließlich sei sie zu Höherem geboren, das hatte ihr an ihrem vierten Geburtstag ein Feuerwehrmann "prophezeit", der sie von einem Klettergerüst gerettet hatte.
Es kommt, wie es kommen muss. Erster Weltkrieg, Hunger und Kälte, Abdankung, Republiksausrufung und Kapp-Putsch. Der Krieg ist ein Abenteuer, in der Schule gibt es kältefrei. Nachplappern statt Bildung. Der Sohn vom Optiker malt irgendwann Hakenkreuze aufs Pflaster. "Dit is jejen die Juden, weil die Juden, die sind dran schuld." Woran genau, hat der Dreikäsehoch vergessen oder nie gewusst, doch als Henni seinem Vater davon erzählt, schlägt er ihm "die Nase blutig, denn sie waren ja selber Juden".
Bert Brecht und Georg Hermann, Irmgard Keun und Claire Waldoff, Heinrich Zille und Mascha Kaléko - Tim Krohn hat in seinem neuen Roman Literarisches und Biographisches gewitzt verquirlt, das Ganze teils und durchaus knorke mit Berlinismen abgeschmeckt und so jenen humorvollen Ton gefunden, für den die Stadt einst berühmt war, um den es heute aber nicht immer bestens bestellt ist. Für den letzten Pfiff hat der Verlag mit der Gestaltung gesorgt.
Henni, dieses Mädchen aus dem Prenzlauer Proletariat, hat das Herz natürlich auf dem rechten Fleck. Das bewahrt sie nicht davor, zu Kriegsbeginn einen Nachbarn zu denunzieren. Es bewahrt sie aber vor Kaltschnäuzigkeit und Naserümpfen. Ihr Faible für Kitsch verbindet sich mit Tatkraft, so dass sie, die oft selbst nicht genug zu essen hat, Lebensmittel für andere besorgt. Wenn eine Nachbarin zehnjährige Mädchen an zahlungskräftige Herren vermittelt, will Henni aber nicht über Patriarchat und Pädophilie diskutieren, sondern sich ihr Vergnügen an Flatterzungen beiderlei Geschlechts bewahren - und wird Nackttänzerin. Hedonismus und Heiligkeit gehen bei ihr wunderbar zusammen.
Krohns Roman ist literarisch vielleicht nicht durchweg originell, aber er ist plastisch und jenseits aller essayistischen Thesenhaftigkeit. Ein Roman eben, kein moralischer Leitartikel. Nur am Ende, da schert er ein wenig aus, wenn Kuddl seine Schwester aufklärt über die drohende Gefahr, die von den Nationalen ausgeht, die sich die Konflikte zwischen Kommunisten und Sozis so gut zunutze zu machen wissen; wenn er darauf hinweist, dass auch der eigene Vater möglicherweise für diese Hakenkreuzschmierer arbeitet, und das, obwohl ihre Mutter doch Jüdin ist.
Bis dahin ist Krohn nie Gefahr gelaufen, der Verharmlosung aufzusitzen. Zum Finale vertraut er seinem eigenen Ton nicht mehr. Schade. Da muss dann Henni hoch hinaus, aufs Dach nämlich, und sich in einem buchstäblich flammenden Plädoyer als "gute deutsche Jüdin" bekennen, bevor es heißt: "Dann trat sie ab." Ein "Unjlückstag", ohne Frage, weshalb auch lieber Ringelnatzens Vater Georg Bötticher in Paraphrase das letzte Wort haben soll: "Lang über Lesen nachjedacht ... / Auch was: Was rausjekriegt schliesslich."
CHRISTIANE PÖHLMANN
Tim Krohn:
"Die heilige Henni der
Hinterhöfe". Roman.
Kampa Verlag, Zürich 2020. 256 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Ungnade der leichten Verführbarkeit, mit Berlinismen abgeschmeckt: Tim Krohns historischer Roman "Die heilige Henni der Hinterhöfe"
Nicht Johanna, sondern Henriette, keine Schlacht-, sondern Hinterhöfe, dafür eventuell viel Heiligkeit: Nach dem Attentat von Sarajevo hegt die damals zwölfjährige Henni eine Menge schmonzettiger Aufopferungsphantasien zur Rettung von Herzogin Sophie. Denn dass die arme Frau, eine Mutter noch dazu, den Tod gefunden hat, empört sie weit mehr als manch Prager Bedienerin der Umstand, dass man ihr "den Ferdinand erschlagen" hat.
In neidvoll-lebendigen Farben malt sich Henni das Schicksal der drei Waisen "in einem finsteren, leeren Schloss in Böhmen" aus, gerät mit praktischen Fragen wie der, ob Adelskinder auf piksenden Rosshaarmatratzen schlafen, aber rasch an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft, so dass sie sich mit Todesszenarien für sich und ihren älteren Bruder Kuddl in den Schlaf träumt. Das Morbide soll ihre Leidenschaft bleiben. Nach dem Tod einer Nachbarin spielt sie "schwindsüchtig, denn darin steckte wenigstens eine Ahnung von Größe. Aber richtig wahre Größe war es noch nicht."
Die will sie jedoch partout erreichen, schließlich sei sie zu Höherem geboren, das hatte ihr an ihrem vierten Geburtstag ein Feuerwehrmann "prophezeit", der sie von einem Klettergerüst gerettet hatte.
Es kommt, wie es kommen muss. Erster Weltkrieg, Hunger und Kälte, Abdankung, Republiksausrufung und Kapp-Putsch. Der Krieg ist ein Abenteuer, in der Schule gibt es kältefrei. Nachplappern statt Bildung. Der Sohn vom Optiker malt irgendwann Hakenkreuze aufs Pflaster. "Dit is jejen die Juden, weil die Juden, die sind dran schuld." Woran genau, hat der Dreikäsehoch vergessen oder nie gewusst, doch als Henni seinem Vater davon erzählt, schlägt er ihm "die Nase blutig, denn sie waren ja selber Juden".
Bert Brecht und Georg Hermann, Irmgard Keun und Claire Waldoff, Heinrich Zille und Mascha Kaléko - Tim Krohn hat in seinem neuen Roman Literarisches und Biographisches gewitzt verquirlt, das Ganze teils und durchaus knorke mit Berlinismen abgeschmeckt und so jenen humorvollen Ton gefunden, für den die Stadt einst berühmt war, um den es heute aber nicht immer bestens bestellt ist. Für den letzten Pfiff hat der Verlag mit der Gestaltung gesorgt.
Henni, dieses Mädchen aus dem Prenzlauer Proletariat, hat das Herz natürlich auf dem rechten Fleck. Das bewahrt sie nicht davor, zu Kriegsbeginn einen Nachbarn zu denunzieren. Es bewahrt sie aber vor Kaltschnäuzigkeit und Naserümpfen. Ihr Faible für Kitsch verbindet sich mit Tatkraft, so dass sie, die oft selbst nicht genug zu essen hat, Lebensmittel für andere besorgt. Wenn eine Nachbarin zehnjährige Mädchen an zahlungskräftige Herren vermittelt, will Henni aber nicht über Patriarchat und Pädophilie diskutieren, sondern sich ihr Vergnügen an Flatterzungen beiderlei Geschlechts bewahren - und wird Nackttänzerin. Hedonismus und Heiligkeit gehen bei ihr wunderbar zusammen.
Krohns Roman ist literarisch vielleicht nicht durchweg originell, aber er ist plastisch und jenseits aller essayistischen Thesenhaftigkeit. Ein Roman eben, kein moralischer Leitartikel. Nur am Ende, da schert er ein wenig aus, wenn Kuddl seine Schwester aufklärt über die drohende Gefahr, die von den Nationalen ausgeht, die sich die Konflikte zwischen Kommunisten und Sozis so gut zunutze zu machen wissen; wenn er darauf hinweist, dass auch der eigene Vater möglicherweise für diese Hakenkreuzschmierer arbeitet, und das, obwohl ihre Mutter doch Jüdin ist.
Bis dahin ist Krohn nie Gefahr gelaufen, der Verharmlosung aufzusitzen. Zum Finale vertraut er seinem eigenen Ton nicht mehr. Schade. Da muss dann Henni hoch hinaus, aufs Dach nämlich, und sich in einem buchstäblich flammenden Plädoyer als "gute deutsche Jüdin" bekennen, bevor es heißt: "Dann trat sie ab." Ein "Unjlückstag", ohne Frage, weshalb auch lieber Ringelnatzens Vater Georg Bötticher in Paraphrase das letzte Wort haben soll: "Lang über Lesen nachjedacht ... / Auch was: Was rausjekriegt schliesslich."
CHRISTIANE PÖHLMANN
Tim Krohn:
"Die heilige Henni der
Hinterhöfe". Roman.
Kampa Verlag, Zürich 2020. 256 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Christiane Pöhlmann folgt Tim Krohns couragierter jüdischer Protagonistin Henni durch das Zwischenkriegs-Berlin der Hinterhöfe und Nackttänzerinnen. Wie der Autor Literarisches von Keun bis Zille und Biografisches zu einem Milieu-Panorama verwebt, mit Berlinismen würzt und nicht immer originell, wie Pöhlmann zugibt, aber plastisch und ohne große Thesen zum Finale führt, findet die Rezensentin knorke, auch wenn Krohn am Ende ein wenig den Ton verliert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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