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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Roland Gerste entwirft ein Panorama der Medizin zwischen 1840 und 1914
Gerade erst konnte die medizinische Forschung einen ungewöhnlichen Erfolg verzeichnen. Nur ein Jahr nachdem ein neuartiges Virus seinen Zug um die Welt angetreten hat, standen erste Impfstoffe bereit. Und damit nicht genug: Eine zukunftsweisende Impfstofftechnik feierte Premiere, die auch für die Therapie von Krebs- oder Autoimmunerkrankungen große Chancen birgt. Doch kaum einer würde behaupten, unsere heutige Gesellschaft blicke zufrieden und voller Optimismus auf das bisher Erreichte.
Der Kontrast könnte kaum größer sein zu der Epoche, die der Arzt und Historiker Ronald D. Gerste in den Blick nimmt: das "Goldene Zeitalter der Medizin" zwischen 1840 und 1914, dessen Geschichte er als "Saga von Hoffnung, Zukunftsglaube und Triumphen" erzählt, wie der Autor jüngst im Interview erklärte. Wer sich von Gerste mit auf die Reise in die Vergangenheit nehmen lässt, versteht, warum in jenen Jahren viele Menschen vom Fortschritt ihrer Zeit überzeugt waren. In dreiundzwanzig Kapiteln entsteht ein anschauliches Panorama davon, wie die damalige Medizin ihrer Vision einer "Heilung der Welt" näherkam.
Der Leser schaut den Protagonisten quasi über die Schulter, beobachtet, wie diese nach Lösungen suchten und Hypothesen testeten, erlebt mit, welche Widerstände und Misserfolge sie dabei zu überwinden hatten - und wie sich die Welt der Kranken dadurch veränderte. Besonders greifbar wird das im Kapitel über die Entdeckung des Chloroforms, mit dem die lebensbedrohlichen Schmerzen einer Operation endlich betäubt werden konnten. Ebenso eindrucksvoll berichtet Gerste über die Erkenntnis von Ignaz Philipp Semmelweis, dass die ungewaschenen Hände der Geburtsmediziner den jungen Müttern den Tod brachten - und der doch lange kein Gehör fand. Auch weniger bekannte Kapitel der Medizingeschichte schlägt Gerste auf, etwa darüber, wie das Kokain als Lokalanästhetikum von Carl Koller "entdeckt" wurde; zum Ärger Sigmund Freuds übrigens, der Koller auf dessen Wirkung zuerst hingewiesen hatte.
Die meisten Kapitel kreisen jedoch um bekannte Figuren der Medizingeschichte. Und dies sind in Gerstes Geschichte Männer. Einzig Florence Nightingale hat einen Gastauftritt. Doch ist die Dominanz der Männer nicht nur Folge einer im Buch getroffenen Auswahl. Tatsächlich gab es seinerzeit nur wenige bedeutende Medizinerinnen, weil die Berechtigung zum Medizinstudium in vielen Ländern der westlichen Welt im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts erstritten werden musste.
Doch zumindest eine, die keine Ärztin, sondern Physikerin und Chemikerin war, hätte hier ihren Platz finden sollen: Marie Curie trug mit ihrer radiologischen Forschung wesentlich dazu bei, dass die Mitglieder der "Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie" auf ihrer Jahresversammlung im Mai 1913 von einem nie dagewesenen Enthusiasmus ob der neu eröffneten Möglichkeiten der Krebstherapie erfasst wurden. Dieser "Strahlentaumel" wäre eine wichtige Ergänzung zu den "Strahlenbildern" des Wilhelm Conrad Röntgen gewesen, denen Gerste ein Kapitel widmet.
Dennoch ist Gerstes Rückschau keine Fortsetzung alter Heldengeschichte von den großen Entdeckern und Erfindern. Der Autor weiß, dass Produktion und Verbreitung medizinischen Wissens von gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, von technischen Entwicklungen und medialen Kommunikationsmöglichkeiten abhängig sind. Darum bettet er die Medizingeschichte in das "Zeitgemälde einer auf so vielen Gebieten fortschrittsgläubigen Epoche" ein. So erfahren wir, wie mit der neu erfundenen Daguerreotypie die im Mikroskop sichtbar gewordene Welt der Krankheitserreger dokumentiert wurde und sich zugleich Vorstellungen von Objektivität veränderten. Oder wie die Eisenbahn nicht nur das Leben beschleunigte und das Raumempfinden veränderte, sondern mit der "railway spine" ein neues Krankheitsbild schuf, über dessen mögliche psychische Verursachung jahrzehntelang diskutiert wurde.
Zudem kontrastiert Gerste die hochgestimmte, "zuversichtlich vorwärtsblickende Lebensauffassung" (Ferdinand Sauerbruch) jener Zeit mit ihren dunklen Seiten: Imperialismus, Kolonialismus, Militarismus und Antisemitismus. Insofern reiht sich das Buch ein in die gegenwärtige Kontroverse um die Bewertung des Deutschen Kaiserreiches zwischen progressiven Reformbestrebungen und autoritären sowie nationalistischen Strukturen.
Doch in einer Hinsicht greift das entworfene Panorama zu kurz: Die Medizin steht bei Gerste immer auf der Seite des Fortschritts. Sie versucht zu lindern und zu heilen, was Bakterien und Krieg an Leiden verursachen. Schlimmstenfalls stehen dem medizinischen Fortschritt Borniertheit, Konkurrenzneid oder nationalistische und antisemitische Vorurteile im Weg. Die der damaligen Fortschrittsgläubigkeit inhärente Inhumanität bleibt dagegen ausgeblendet. Manche Mediziner dieser Epoche zögerten nicht, Menschen zum Objekt gefährlicher Versuche zu machen.
Albert Neisser etwa, Breslauer Dermatologieprofessor und Entdecker des Gonorrhoe-Erregers, wollte 1892 überprüfen, ob das Serum syphiliskranker Personen ansteckend war, und spritzte es acht zum Teil minderjährigen Patientinnen, die als Prostituierte arbeiteten - ohne deren Zustimmung. Vier von ihnen erkrankten an Syphilis. Immerhin führte das Vorgehen Neissers zu einer öffentlichen Diskussion, in deren Folge Menschenversuche ohne Einwilligung verboten wurden.
Daraufhin suchte sich Robert Koch, dessen Beitrag zur Bakteriologie Gerste würdigt, seine Versuchspersonen außerhalb Deutschlands. Auf Einladung der britischen Kolonialverwaltung testete er von 1905 an auf den Sese-Inseln im Viktoriasee Wirkung und Dosierung des arsenhaltigen Atoxyl als Mittel gegen die Schlafkrankheit. Auf Wohlbefinden, Gesundheit und Leben seiner afrikanischen Forschungssubjekte, die sich den schmerzhaften Experimenten durch Flucht zu entziehen suchten, nahm er keine Rücksicht.
Ging es hier wirklich um die Heilung "der Welt"? Zweifellos war es eine Zeit beeindruckender Entdeckungen und großer Visionen, und diese Geschichte erzählt Ronald Gerste souverän und detailfreudig. Doch die Rücksichtslosigkeit und Selektivität, mit der das Ziel einer Heilung der Welt oft verfolgt wurde, gehört auch zu dieser Geschichte.
BETTINA HITZER
Ronald D. Gerste:
"Die Heilung der Welt".
Das Goldene Zeitalter der Medizin 1840-1914.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 400 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
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