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Mit sich ist man immer in bunter Gesellschaft: Bernhard Kegel führt in seinem Buch über die Mikroben mustergültig zu Kernfragen der neuen Biologie.
Versuche, "das" Prinzip organischen Lebens anzugeben, verführen häufig zu ehrgeizigen Narrativen, die alle Phänomene einem einzigen Konzept zu unterwerfen trachten. Das kann zwar erkenntnisfördernden Wert haben - man denke nur an Richard Dawkins egoistische Gene oder James Lovelocks Gaia-Hypothese -, aber es besteht auch die Gefahr, weit über das Ziel hinauszuschießen. Bernhard Kegel tritt laut Verlag in seinem neuen Buch mit dem nicht gerade bescheidenen Anspruch an, ein "atemberaubend neues Bild" der Welt zu offenbaren - ein Bild, das endlich der Bedeutung der Mikroben vollständig gerecht wird. Erfreulicherweise geht es dem Autor aber nicht darum, irgendjemanden zur einzig richtigen Lehre zu bekehren. Denn die Biologie hat, wie Bernhard Kegel völlig richtig erkennt, in den vergangenen dreißig Jahren eine Entwicklung durchgemacht, die es kaum noch erlaubt, solche allumfassenden Narrative überzeugend zu formulieren: Die inzwischen gewaltige Menge an Daten, die vor allem von neuen molekularbiologische Methoden erzeugt werden, hat dazu geführt, dass die Theorie kaum mehr mithalten kann.
Der Autor beschränkt sich folgerichtig darauf, vor allem die aktuellen Entwicklungen verstehbar zu machen, und vermeidet es, zu schnell Theorien anzubieten. Die Vorstellung, das Leben auf der Erde bestehe aus einer Ansammlung wohldefinierter und abgegrenzter Individuen - die allerdings höchst komplex vernetzt interagieren -, ist ein grundlegendes Konzept der Biologie. Kegels zeigt nun, gestützt auf neueste Erkenntnisse im Schnittbereich von Ökologie, Medizin, Mikrobiologie und Molekularbiologie, dass die geläufigen Vorstellungen von organismischer Individualität überprüft werden müssen.
Kegel beginnt seine Darstellung mit einem Besuch am Roten Meer, wo er Wissenschaftler bei der Erforschung von Korallenriffen beobachtet. Dieses Beispiel dient dazu, neue Perspektiven auf das Zusammenleben von Viel- und Einzellern zu eröffnen. Steinkorallen sind zu Riffbaumeistern nur mit der Hilfe von Dinoflagellaten geworden. Diese Einzeller leben im Innern von Polypenzellen und versorgen ihr Wirtstier mit photosynthetisch erzeugter Energie. Sowohl Polyp als auch Dinoflagellat sind wiederum von Cyanobakterien abhängig, die Stickstoffverbindungen liefern. Eine Koralle ist daher mehr als nur ein einziges Tier - zudem leben neben Dinoflagellaten und Cyanobakterien noch zahlreiche andere Mikroben, Pilze und Algen in den Hohlräumen der Kalkskelette oder im Schleimmantel.
Kegel bringt dafür den 1993 von Lynn Margulies geprägten Begriff "Holobiont" ins Spiel. Alle Lebewesen leben beständig mit zahlreichen symbiontischen, mutualistischen oder parasitischen Organismen zusammen. Dieser Begriff soll auch verdeutlichen, dass eine holobiontische Gemeinschaft mehr als ein Ökosystem ist. Wie das Beispiel der Korallenbleiche zeigt, kann das Verschwinden oder das Ersetzen eines der Partner katastrophale Folgen haben. Natürliche Ökosysteme sind dagegen weitaus widerstandsfähiger gegen Verluste einzelner Komponenten. In den folgenden Kapiteln beschreibt Kegel die Rolle von Mikroben in der Frühgeschichte der Erde und kehrt dann wieder zur Vergesellschaftung vielzelliger Organismen mit einzelligen Mikroben zurück. An einigen Fallbeispielen veranschaulicht er, wie vielfältig dieses Miteinander ist und dass auf Seiten der Wirte nahezu jeder Aspekt ihrer Biologie berührt sein kann.
Was also üblicherweise als Individuum bezeichnet wird, ist eigentlich eine ineinander verschachtelte Struktur verschiedener Lebewesen: Menschen beherbergen zahllose Mikroben im Darm, in der Mundhöhle oder auf der Haut, und diese Mikroben sind wiederum Wirte für Unmengen von Viren, die im Genom von Mikroben und Mensch deutliche Spuren hinterlassen. Wo setzt Evolution nun an? Sind etwa Holobionten, und nicht Gene, Einheiten der Evolution? Solche Fragen werden noch heftig erörtert, und ein Konsens scheint noch in weiter Ferne. Die Biologie erlebt gerade eine wahrhaft turbulente Phase, und Bernhard Kegels Buch ist ein ohne Einschränkungen zu empfehlender Führer durch diese aufregenden Zeiten.
THOMAS WEBER
Bernhard Kegel: "Die Herrscher der Welt". Wie Mikroben unser Leben bestimmen.
Dumont Verlag, Köln 2015. 382 S., geb., 22,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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