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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Grenze zwischen Vernunft und Unvernunft ist fließend: Philipp Sterzer erklärt, warum Menschen häufig irrational handeln, zur Selbsttäuschung neigen und Überzeugungen vertreten, die eindeutig falsch sind.
Warum sind viele Menschen von Dingen überzeugt, die nachweislich nicht stimmen? Wieso ignorieren vernünftige Zeitgenossen in Diskussionen immer wieder Fakten und stichhaltige Argumente? Wer das erörtern will, begibt sich auf unwegsames Gelände, denn Erklärungen haben Soziologen und Philosophen, Psychologen und Kulturtheoretiker in petto. Philipp Sterzer, von Haus aus Neurowissenschaftler und Psychiater, macht es sich in seinem Buch über die "Illusion der Vernunft" nicht leicht mit einer Antwort. Genau genommen, gibt es die eine Antwort augenscheinlich auch nicht, weswegen er eine Reihe von Thesen, Interpretationen und Befunden anbietet.
Stellen wir uns nur einmal zwei Frauen vor, die davon überzeugt sind, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Die eine hat sich umfassend informiert, wissenschaftliche Analysen zum Thema durchgearbeitet, Fernsehdokumentationen geschaut und Vorlesungen von Spezialisten besucht. Nach der Recherche steht für sie fest: Wir tragen wahrscheinlich erheblich zur Erderwärmung bei. Die andere hält nicht viel von Statistiken, meint aber zu wissen, dass in einer vom Wunsch nach Profitmaximierung getriebenen Welt das Klima zwangsläufig leiden muss. Zynisch und menschenverachtend findet sie die Lebensweise im Westen, und ihr Bauchgefühl ist eindeutig: Wer die Globalisierung zu weit treibt, wird den Preis in Form von erhöhten Temperaturen dafür zahlen.
Das Beispiel veranschaulicht, dass selbst Leute, die gemeinsam eine wissenschaftlich weitgehend gesicherte Meinung vertreten, die sich mithin nicht über den Wahrheitsgehalt ihrer Überzeugung streiten würden, erhebliche Unterschiede beim Grad der eigenen Rationalität aufweisen können. Im Gegensatz zu den beiden Frauen, die sich gut verstehen dürften, gäbe es gewiss Auseinandersetzungen zwischen, sagen wir, einem Astrophysiker und einem Verschwörungstheoretiker, der sicher ist, dass die amerikanische Flagge, die Neil Armstrong und Buzz Aldrin 1969 im Mondboden befestigt hatten, flatterte - obwohl es dort windstill sein müsste. Scheinbar klarer Fall: Die Astronauten sind nicht ins All geflogen, sondern in einem Hollywoodstudio gewesen. Derartige Mutmaßungen sollte man nicht als Nischenphänomen abtun, denn Umfragen zufolge glaubt ungefähr die Hälfte aller Amerikaner an mindestens eine Verschwörungstheorie.
Während solche Dauerzweifler darauf pochen, nicht nur nicht irrational, sondern eben ganz besonders rational zu sein, verhalten sich viele rationale Menschen im Alltag oft irrational: Man denke an den Talisman, ohne den man nicht ins Flugzeug steigt, oder den Fußballer, der sich vorm Elfmeterschuss bekreuzigt. Religiöser Glaube etwa bezieht einen nicht unerheblichen Teil seiner Wucht aus jener Nichtfalsifizierbarkeit, die ihn erscheinen lässt, als sei er über alle Zweifel erhaben.
Warum aber sind Überzeugungen oder Handlungen, die man außerhalb eines nachvollziehbaren Vernunftrahmens verorten muss, so verbreitet und kein exklusives Symptom eines Wahns? Laut Sterzer ist die Grenze zwischen Sachlichkeit und Unvernunft fließend. Es gebe nicht einmal einen klaren Unterschied zwischen "'normalen' und krankhaft veränderten Prozessen im Gehirn". Vielmehr müsse man es als eine grundlegende Eigenschaft von Menschen betrachten, sich eigene Welten zu bauen, um anschließend an einmal etablierten Anschauungen festzuhalten.
Weltbilder wiederum entstehen entweder, weil wir uns auf "Grundlage der verfügbaren Evidenz" eine Vorstellung machen oder weil wir Ansichten von Eltern, Lehrern, Freunden oder Gurus übernehmen. Manchen Überzeugungen hänge man an, weil sie die Zugehörigkeit zu einer Gruppe garantieren, weswegen Sterzer sie als "Standortmarkierungen" bezeichnet. Sie gestatten "Rückschlüsse darauf, wo wir stehen und wer wir sind". Ist etwa ein Amerikaner der Meinung, dass der Klimawandel menschengemacht und die Evolutionstheorie wahr ist, wird er mit großer Wahrscheinlichkeit regelmäßig die Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei wählen.
Was die Psychologie aus dem Bereich der Selbsttäuschungen kennt - wir sehen etwa Gesichter in Wolken- oder Felsformationen -, verdankt sich dem Drang unseres Gehirns, überall bedeutungsvolle Muster auszumachen. Sterzer handelt eine ganze Reihe von kognitiven Verzerrungen ab, die bei der Urteilsbildung wichtig sind. Neues gibt es dabei nicht zu lernen, gleichwohl bietet die Liste einen guten Überblick. Da ist etwa der Halo-Effekt, der darin besteht, dass man ohne Notwendigkeit von einer Eigenschaft einer Person auf weitere Eigenschaften schließt, der Mitläufereffekt (wir folgen den Überzeugungen erfolgreicher Menschen), das emotionale Schlussfolgern (Intuition vor Fakten), der konzeptionelle Konservatismus (wir halten an Überzeugungen selbst dann fest, wenn man uns mit Informationen versorgt, die ihnen widersprechen), die Bestätigungstendenz (man sucht nach jenen Hinweisen und Auskünften, die eine bereits ausgebildete Überzeugung untermauern, etwa in Filterblasen).
Besonders aufschlussreich ist unsere Ignoranz gegenüber solchen Phänomenen. In einer Studie aus den Vereinigten Staaten gaben fünfundachtzig Prozent der Teilnehmer an, nicht so deutlich von Verzerrungen beeinflusst zu werden wie der "Durchschnittsamerikaner". Dieses Ergebnis legt eine "selbstwertdienliche Verzerrung mitsamt Verzerrungsblindheit nahe und widerlegt damit direkt die Selbsteinschätzung der Befragten". Mit anderen Worten: Die meisten halten sich für rationaler als den Rest - was schon als Ausweis der eigenen Irrationalität gewertet werden darf.
Sterzer bezeichnet das Gehirn als "Vorhersagemaschine", weil es ein "inneres Modell der Welt" unterhalte, das sich aus angeeignetem Wissen zusammensetzt. Mit Hilfe dieses Modells würden laufend Hypothesen aufgestellt, um "eingehende Sinnesdaten vorherzusagen". So mache das Gehirn etwa beim Tennisspielen Annahmen über die Strategie des Gegners: "Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird er wieder genau diesen Vorhanddiagonalball spielen. Ich habe nämlich schon oft mit ihm gespielt und weiß, dass sein Spiel nicht besonders variantenreich ist." Erst kommt also die Vorhersage, dann folgt die Wahrnehmung. Abweichungen von Prognosen nutze das Gehirn, um das Modell der Welt zu optimieren.
Eine schwerwiegende, mit Wahnsymptomen einhergehende Form der Irrationalität ist die Schizophrenie. Dieses Leiden, so hebt Sterzer hervor, sei polygenetisch, das heißt, nicht ein einzelnes verändertes Gen führt zur Erkrankung, sondern die Gefahr zu erkranken steigt mit der Anzahl der geerbten Genvarianten. Nur warum haben sich im Laufe der Evolution des Menschen Varianten durchgesetzt, die mit einem Risiko für eine so massive Störung assoziiert sind? Sterzer schreibt, solche Veranlagungen könnten zu früheren Zeiten adaptiv gewesen sein: "Für unsere Vorfahren, die in kleinen sozialen Gruppen zusammenlebten und mit feindlichen Gruppen um knappe Ressourcen konkurrierten, könnten ein Hang zu Misstrauen und paranoide Züge einen Überlebensvorteil bedeutet haben. Man war dadurch eher auf der Hut, erkannte Bedrohungen schneller."
Zudem sei es möglich, dass man psychotisches Erleben einst als Kommunikation mit den Geistern gedeutet habe, was dem Erkrankten den Status eines Schamanen eingebracht haben könnte. Sterzer spricht hier von einem "Erklärungsansatz"; überhaupt markiert er Hypothesen stets genauso gründlich wie gesicherte Erkenntnisse. Auch ob sich, wie vielfach diskutiert wird, die Risikovarianten für Schizophrenie durchgesetzt haben, weil sie Kreativität begünstigen, ist nicht vollständig geklärt. Doch sogar im Bereich der Spekulation folgt man dem Autor gerne, nicht zuletzt deshalb, weil er gar nicht erst versucht, als streng nüchterner Experte Eindruck zu machen. Er räumt lieber die eigene Irrationalität ein und führt so überzeugend durch sein Forschungsfeld, dass auch dem besonnensten Leser aufgeht, wie unvernünftig er häufig ist. KAI SPANKE
Philipp Sterzer: "Die Illusion der Vernunft". Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten.
Ullstein Verlag, Berlin 2022. 320 S., Abb., geb., 23,99 Euro.
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