Die Literaturgeschichte der 70er Jahre, faszinierend und facettenreich als Zeit- und Gesellschaftsgeschichte erzählt. Helmut Böttiger zeichnet ein differenziertes, bunt schillerndes Bild der politischen, kulturellen und literarischen Prozesse dieses Jahrzehnts zwischen Aufbruch und Desillusionierung. Mit Peter Schneiders Erzählung »Lenz« diagnostiziert Helmut Böttiger der Literatur am Beginn der siebziger Jahre eine "plötzliche Verunsicherung". Er spürt ihren Wurzeln und Konsequenzen in den Werken der wichtigen Autorinnen und Autoren nach. Hermann Peter Piwitt, Bernward Vesper, Christoph Meckel stehen ihm für die Auseinandersetzungen mit den Nazi-Vätern. Ein anderes Kapitel widmet sich einem neuen Ton, den Autorinnen wie Karin Struck und Verena Stefan in die Literatur gebracht haben. An Nicolas Born und Rolf Dieter Brinkmann erkennt er symptomatische Sprechweisen in der Lyrik dieser Jahre. In einzelnen Kapiteln setzt Böttiger sich mit literaturhistorischen Zusammenhängen, den individuellen Korrespondenzen und Unterschieden einzelner Werke auseinander, sie sind gewidmet: Ingeborg Bachmann, Peter Handke, Wolf Biermann, Franz Fühmann, Christa Wolf, Fritz Rudolf Fries, Peter Weiss, Manfred Esser, Guntram Vesper, Peter Rühmkorf, Thomas Bernhard, Uwe Johnson, Arno Schmidt, Wilhelm Genazino, Eckhard Henscheid und Jörg Fauser sowie den Nobelpreisträgern Heinrich Böll und Günter Grass. Ein Kapitel widmet sich den neu entstandenen (und oft bald eingegangenen) Alternativzeitschriften, Verlagen und Buchhandlungen, ein anderes speziell dem Wagenbach-Rotbuch-Komplex.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Oliver Pfohlmann stürzt sich dank Helmut Böttiger noch einmal auf die Literatur der Siebziger. Was waren das für Zeiten, als Studenten für einen Raubdruck der "Dialektik der Aufklärung" Schlange standen oder in WGs leidenschaftlich über Ich und Emotionen, über Büchner, Bachmann, Braun, Brinkmann oder Born diskutiert wurde, seufzt der Kritiker. Noch einmal bricht Pfohlmann mit Peter Handke, den Böttiger neben weiteren für den Band interviewte, beim Anblick eines Schnittlauchs in Tränen aus oder lässt sich anregen, mal wieder Böll und Fichte zu lesen. Dass Böttiger auf Zuschreibungen wie "Neue Subjektivität", "Neue Innerlichkeit" oder "Neue Empfindsamkeit" nicht viel gibt, findet der Rezensent begrüßenswert. Und dass der Autor österreichische und Schweizer Schriftsteller nur am Rande betrachtet, kann Pfohlmann angesichts dieses lehrreichen, kurzweiligen, schlicht: "furiosen" Epochenporträts auch verschmerzen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2021VON SZ-AUTOREN
Helmut Böttiger
über die Siebziger
Die Parole vom „Tod der Literatur“ aus dem Jahr 1968 löste in den Siebzigern eine wilde Blütezeit der Literatur aus. Neue Zeitschriften spielten mit den Grenzen zwischen Hoch- und Subkultur. Eine radikale Politisierung begann. Peter Schneiders Erzählung „Lenz“ wirkte wie ein Fanal. Rolf Dieter Brinkmann und Nicolas Born mischten die Grauzonen des deutschen Alltags auf. Der Feminismus hatte etwa mit Verena Stefans „Häutungen“ erste Bestseller. Christoph Meckel und Bernward Vesper wandten sich den Nazivätern zu. Zeitgleich aber entstanden mit den großen Epochenromanen von Uwe Johnson, Peter Weiss und Ingeborg Bachmann Monumente eines neuen ästhetischen Bewusstseins. Parallel zum optimistischen Lebensgefühl der Willy-Brandt-Jahre erlebte auch die DDR atmosphärische Lockerungen, bis die Biermann-Ausbürgerung 1976 und die Kanzlerschaft Helmut Schmidts neue Akzente setzten. Böttiger sieht die Phase zwischen 1968 und 1981/82 als eine eigene Epoche, als eine Zwischenzeit mit unterschiedlichsten Suchbewegungen.
Helmut Böttiger: Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur. Wallstein Verlag, Göttingen. 473 Seiten, 32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Helmut Böttiger
über die Siebziger
Die Parole vom „Tod der Literatur“ aus dem Jahr 1968 löste in den Siebzigern eine wilde Blütezeit der Literatur aus. Neue Zeitschriften spielten mit den Grenzen zwischen Hoch- und Subkultur. Eine radikale Politisierung begann. Peter Schneiders Erzählung „Lenz“ wirkte wie ein Fanal. Rolf Dieter Brinkmann und Nicolas Born mischten die Grauzonen des deutschen Alltags auf. Der Feminismus hatte etwa mit Verena Stefans „Häutungen“ erste Bestseller. Christoph Meckel und Bernward Vesper wandten sich den Nazivätern zu. Zeitgleich aber entstanden mit den großen Epochenromanen von Uwe Johnson, Peter Weiss und Ingeborg Bachmann Monumente eines neuen ästhetischen Bewusstseins. Parallel zum optimistischen Lebensgefühl der Willy-Brandt-Jahre erlebte auch die DDR atmosphärische Lockerungen, bis die Biermann-Ausbürgerung 1976 und die Kanzlerschaft Helmut Schmidts neue Akzente setzten. Böttiger sieht die Phase zwischen 1968 und 1981/82 als eine eigene Epoche, als eine Zwischenzeit mit unterschiedlichsten Suchbewegungen.
Helmut Böttiger: Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur. Wallstein Verlag, Göttingen. 473 Seiten, 32 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.11.2021Von der Unheimlichkeit der Zeit
Helmut Böttiger bündelt in "Die Jahre der wahren Empfindung" Versuche über die deutsche Literatur der Siebzigerjahre zu einem Epochenporträt.
Am Schluss seines Buches über die deutsche Literatur der Siebzigerjahre bedankt sich Helmut Böttiger bei den "Protagonisten und Kennern" jener Zeit, mit denen er Gespräche geführt hat. Er nennt unter anderen Klaus Wagenbach, Wilhelm Genazino, Peter Handke und Günter Grass. Böttigers Beschreibung der Siebzigerjahre ist inspiriert von seiner persönlichen Nähe zu den Autoren und Mitgestaltern der Literatur in diesem Jahrzehnt. Das Buch ist episodenhaft in Kapitel gegliedert. Der Autor informiert den Leser über Christoph Meckels Verhältnis zu seinem Vater, über die Beziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, die Freundschaft zwischen Sarah Kirsch und Christa Wolf, aber auch über Bücher wie Arno Schmidts "Zettel's Traum", Uwe Johnsons "Jahrestage" oder Peter Weiss' "Die Ästhetik des Widerstands".
Böttigers Stärke ist das Autorenporträt, die Charakterisierung des Schriftstellers vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte, die Differenz zwischen Erfahrung und Ausdruck. Er beschreibt, wie Uwe Johnson das "Puddingattentat" der Kommune 1 literarisch in seinem Werk "Jahrestage" verarbeitet. Böttiger zeigt den Unterschied zwischen dem Bild, das die Literatur von dem Autor vermittelt, und der realen Person. Er schildert eine Lesung von Jörg Fauser 1977 in Weikersheim. Fauser "wirkte wie ein x-beliebiger Sparkassenangestellter oder Versicherungsvertreter", seine Zuhörer waren "diverse langhaarige Männer und Frauen in Batikkleidern". Helmut Böttiger, 1956 geboren, beschreibt eine Zeit, die er bewusst wahrgenommen, in der sich seine literarische Sozialisation vollzogen hat.
Wenn er sein Buch "Die Jahre der wahren Empfindung" nennt, könnte man annehmen, dass im Zentrum seiner Arbeit eine ästhetische Kategorie steht, nämlich die "Neue Subjektivität". Einerseits ist der Titel angelehnt an Hubert Fichtes Projekt einer "Geschichte der Empfindlichkeit", andererseits macht Böttiger den Zusammenhang von privater und kollektiver Vergangenheit deutlich. Die Siebzigerjahre sind für ihn ein öffentliches Jahrzehnt, die "wahre Empfindung" ist ein politisches Gefühl. Die Spaltung des Wagenbach Verlags und die damit verbundene Entstehung des Rotbuch Verlags haben für ihn große Bedeutung. Am Ende seines Buchs schreibt er: "Die siebziger Jahre begannen 1968, und sie endeten vermutlich im Jahr 1981. Zu diesem Zeitpunkt erschien 'Paare, Passanten' von Botho Strauß." Böttiger sieht in den Siebzigerjahren eher die Kontinuitäten zum vorhergehenden Jahrzehnt. Wenn er also über Heiner Müller, Peter Weiss oder Fritz Rudolf Fries schreibt, geht es auch um Leben und Werk dieser Autoren vor den Siebzigerjahren.
Der Untertitel des Buches lautet: "Die 70er - eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur". Böttigers Zugriff auf das Thema ist intuitiv, die Ansammlung der Themen wirkt selbst wild. Vergessene Autoren wie Manfred Esser oder Jürgen Theobaldy stehen neben Thomas Bernhard oder Peter Handke, Buchhandlungen und Veranstaltungsorte werden erwähnt, die nur noch Zeitgenossen bekannt sein dürften. Das Buch ist keine Literaturgeschichte, eher ein Panorama, ein Katalog, eine lineare Lektüre ist nicht notwendig, man kann sich am Inhaltsverzeichnis orientieren, jene Kapitel lesen, die von Interesse sind. Der Band ist eine Ansammlung von Essays, von denen jeder einzelne lesenswert ist.
Die Summe der einzelnen Texte ermöglicht jedoch nur schwer einen Überblick über die deutsche Literatur der Siebzigerjahre. Häufig stellt sich bei den Fundstücken die Frage, ob sie repräsentativ sind für die Zeit. Wie Marcel Reich-Ranicki sich um Peter Rühmkorf bemüht, um ihn als Autor für die F.A.Z. zu gewinnen, wie Rühmkorf Forderungen stellt, sich verweigert, sich aber der Öffentlichkeit doch nicht entziehen kann, ist eine Episode, die man sich auch zu anderen Zeiten vorstellen kann. Das Verhältnis zwischen Thomas Bernhard und Siegfried Unseld wird von Helmut Böttiger anschaulich beschrieben, ist aber kein Phänomen, das den Charakter der Siebzigerjahre aufschlüsselt. Bei Peter Weiss kann man sich fragen, ob sein Buch "Abschied von den Eltern" von 1961 durch die Thematisierung seiner privaten Problematik mehr in die Siebzigerjahre passt als "Die Ästhetik des Widerstands".
Nachzutragen wären Autoren, die für das subjektive Schreiben in dem von Helmut Böttiger gewählten Zeitraum von Bedeutung sind, zum Beispiel Paul Nizon mit seinem Buch "Das Jahr der Liebe" von 1981, in dem er seinen Umzug nach Paris beschreibt. Hartmut Geerkens "Obduktionsprotokoll" von 1975 stellt eine Mischung aus vorgefundenen Materialien und direkten Selbstaussagen dar, eine Kombination aus Autobiographie und Zitat, wobei die Zitate relevant sind für die Situation des schreibenden Subjekts. Jürgen Becker, Helmut Heißenbüttel, Friederike Mayröcker oder auch Ernst Jandl verlagern ihre literarische Tätigkeit von der methodischen Arbeit mit dem Material der Sprache hin zur direkten Artikulation von Erfahrungen und Emotionen.
Alexander Kluge veröffentlicht 1977 den Band "Neue Geschichten - Hefte 1-18", in dem vermehrt Texte über seine Familie zu finden sind. Der Untertitel, "Unheimlichkeit der Zeit", bezieht sich auf die gesellschaftliche Stimmung der Siebzigerjahre. Herbert Achternbusch hat mit "Die Alexanderschlacht" von 1971 und "Die Stunde des Todes" von 1975 Bücher geschrieben, in denen seine privaten Erfahrungen im Zentrum stehen. Ernst Jünger veröffentlicht die ersten beiden Bände seines Tagebuchprojekts "Siebzig verweht" 1980 und 1981.
Auch Böttiger beschäftigt sich mit dem Thema der Innerlichkeit wie im Text über den Schweizer Fritz Zorn, der eigentlich Fritz Angst hieß und in seinem Buch "Mars", das 1977 postum erschien, die eigene Krebserkrankung auf seinen familiären und kulturellen Hintergrund zurückführte. Handke ist ein langes Kapitel gewidmet; sein Buch "Wunschloses Unglück" über den Suizid seiner Mutter, so Böttiger, sei exemplarisch für die "Neue Subjektivität". THOMAS COMBRINK.
Helmut Böttiger: "Die Jahre der wahren Empfindung". Die 70er - eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 437 S., 37 Abb., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Helmut Böttiger bündelt in "Die Jahre der wahren Empfindung" Versuche über die deutsche Literatur der Siebzigerjahre zu einem Epochenporträt.
Am Schluss seines Buches über die deutsche Literatur der Siebzigerjahre bedankt sich Helmut Böttiger bei den "Protagonisten und Kennern" jener Zeit, mit denen er Gespräche geführt hat. Er nennt unter anderen Klaus Wagenbach, Wilhelm Genazino, Peter Handke und Günter Grass. Böttigers Beschreibung der Siebzigerjahre ist inspiriert von seiner persönlichen Nähe zu den Autoren und Mitgestaltern der Literatur in diesem Jahrzehnt. Das Buch ist episodenhaft in Kapitel gegliedert. Der Autor informiert den Leser über Christoph Meckels Verhältnis zu seinem Vater, über die Beziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, die Freundschaft zwischen Sarah Kirsch und Christa Wolf, aber auch über Bücher wie Arno Schmidts "Zettel's Traum", Uwe Johnsons "Jahrestage" oder Peter Weiss' "Die Ästhetik des Widerstands".
Böttigers Stärke ist das Autorenporträt, die Charakterisierung des Schriftstellers vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte, die Differenz zwischen Erfahrung und Ausdruck. Er beschreibt, wie Uwe Johnson das "Puddingattentat" der Kommune 1 literarisch in seinem Werk "Jahrestage" verarbeitet. Böttiger zeigt den Unterschied zwischen dem Bild, das die Literatur von dem Autor vermittelt, und der realen Person. Er schildert eine Lesung von Jörg Fauser 1977 in Weikersheim. Fauser "wirkte wie ein x-beliebiger Sparkassenangestellter oder Versicherungsvertreter", seine Zuhörer waren "diverse langhaarige Männer und Frauen in Batikkleidern". Helmut Böttiger, 1956 geboren, beschreibt eine Zeit, die er bewusst wahrgenommen, in der sich seine literarische Sozialisation vollzogen hat.
Wenn er sein Buch "Die Jahre der wahren Empfindung" nennt, könnte man annehmen, dass im Zentrum seiner Arbeit eine ästhetische Kategorie steht, nämlich die "Neue Subjektivität". Einerseits ist der Titel angelehnt an Hubert Fichtes Projekt einer "Geschichte der Empfindlichkeit", andererseits macht Böttiger den Zusammenhang von privater und kollektiver Vergangenheit deutlich. Die Siebzigerjahre sind für ihn ein öffentliches Jahrzehnt, die "wahre Empfindung" ist ein politisches Gefühl. Die Spaltung des Wagenbach Verlags und die damit verbundene Entstehung des Rotbuch Verlags haben für ihn große Bedeutung. Am Ende seines Buchs schreibt er: "Die siebziger Jahre begannen 1968, und sie endeten vermutlich im Jahr 1981. Zu diesem Zeitpunkt erschien 'Paare, Passanten' von Botho Strauß." Böttiger sieht in den Siebzigerjahren eher die Kontinuitäten zum vorhergehenden Jahrzehnt. Wenn er also über Heiner Müller, Peter Weiss oder Fritz Rudolf Fries schreibt, geht es auch um Leben und Werk dieser Autoren vor den Siebzigerjahren.
Der Untertitel des Buches lautet: "Die 70er - eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur". Böttigers Zugriff auf das Thema ist intuitiv, die Ansammlung der Themen wirkt selbst wild. Vergessene Autoren wie Manfred Esser oder Jürgen Theobaldy stehen neben Thomas Bernhard oder Peter Handke, Buchhandlungen und Veranstaltungsorte werden erwähnt, die nur noch Zeitgenossen bekannt sein dürften. Das Buch ist keine Literaturgeschichte, eher ein Panorama, ein Katalog, eine lineare Lektüre ist nicht notwendig, man kann sich am Inhaltsverzeichnis orientieren, jene Kapitel lesen, die von Interesse sind. Der Band ist eine Ansammlung von Essays, von denen jeder einzelne lesenswert ist.
Die Summe der einzelnen Texte ermöglicht jedoch nur schwer einen Überblick über die deutsche Literatur der Siebzigerjahre. Häufig stellt sich bei den Fundstücken die Frage, ob sie repräsentativ sind für die Zeit. Wie Marcel Reich-Ranicki sich um Peter Rühmkorf bemüht, um ihn als Autor für die F.A.Z. zu gewinnen, wie Rühmkorf Forderungen stellt, sich verweigert, sich aber der Öffentlichkeit doch nicht entziehen kann, ist eine Episode, die man sich auch zu anderen Zeiten vorstellen kann. Das Verhältnis zwischen Thomas Bernhard und Siegfried Unseld wird von Helmut Böttiger anschaulich beschrieben, ist aber kein Phänomen, das den Charakter der Siebzigerjahre aufschlüsselt. Bei Peter Weiss kann man sich fragen, ob sein Buch "Abschied von den Eltern" von 1961 durch die Thematisierung seiner privaten Problematik mehr in die Siebzigerjahre passt als "Die Ästhetik des Widerstands".
Nachzutragen wären Autoren, die für das subjektive Schreiben in dem von Helmut Böttiger gewählten Zeitraum von Bedeutung sind, zum Beispiel Paul Nizon mit seinem Buch "Das Jahr der Liebe" von 1981, in dem er seinen Umzug nach Paris beschreibt. Hartmut Geerkens "Obduktionsprotokoll" von 1975 stellt eine Mischung aus vorgefundenen Materialien und direkten Selbstaussagen dar, eine Kombination aus Autobiographie und Zitat, wobei die Zitate relevant sind für die Situation des schreibenden Subjekts. Jürgen Becker, Helmut Heißenbüttel, Friederike Mayröcker oder auch Ernst Jandl verlagern ihre literarische Tätigkeit von der methodischen Arbeit mit dem Material der Sprache hin zur direkten Artikulation von Erfahrungen und Emotionen.
Alexander Kluge veröffentlicht 1977 den Band "Neue Geschichten - Hefte 1-18", in dem vermehrt Texte über seine Familie zu finden sind. Der Untertitel, "Unheimlichkeit der Zeit", bezieht sich auf die gesellschaftliche Stimmung der Siebzigerjahre. Herbert Achternbusch hat mit "Die Alexanderschlacht" von 1971 und "Die Stunde des Todes" von 1975 Bücher geschrieben, in denen seine privaten Erfahrungen im Zentrum stehen. Ernst Jünger veröffentlicht die ersten beiden Bände seines Tagebuchprojekts "Siebzig verweht" 1980 und 1981.
Auch Böttiger beschäftigt sich mit dem Thema der Innerlichkeit wie im Text über den Schweizer Fritz Zorn, der eigentlich Fritz Angst hieß und in seinem Buch "Mars", das 1977 postum erschien, die eigene Krebserkrankung auf seinen familiären und kulturellen Hintergrund zurückführte. Handke ist ein langes Kapitel gewidmet; sein Buch "Wunschloses Unglück" über den Suizid seiner Mutter, so Böttiger, sei exemplarisch für die "Neue Subjektivität". THOMAS COMBRINK.
Helmut Böttiger: "Die Jahre der wahren Empfindung". Die 70er - eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 437 S., 37 Abb., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Das Verhältnis von Anekdote und Analyse stimmt, der Anspruch ist nie überzogen.« (Hubert Winkels, DIE ZEIT, 30.09.2021) »Böttiger (...) ist ein glänzender Chronist.« (Michael Braun, SR2, 27.10.2021) »Ein Glanzstück in Böttigers Studie ist die subtile Darstellung der Entwicklung Peter Handkes und seiner Freundschaft mit dem grundverschiedenen Lyriker Nicolas Born.« (Michael Braun, Badische Zeitung, 09.11.2021) »Böttigers Stärke ist das Autorenportrait, die Charakterisierung des Schriftstellers vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte, die Differenz zwischen Erfahrung und Ausdruck.« (Thomas Combrink, FAZ, 13.11.2021) »Der Band ist eine Ansammlung von Essays, von denen jeder einzelne lesenswert ist.« (Thomas Combrink, FAZ, 13.11.2021) »Diese Zeitreise kann (...) getrost noch ein wenig weitergehen.« (Philipp Haibach, der Freitag, 21.10.2021) »furios geschriebene(s) Epochenportrait« (Oliver Pfohlmann, taz, 14.12.2021) »Die Literatur der 1970er wirkt in Böttigers Darstellung in vielem überraschend modern und gegenwärtig und lädt zu Wiederentdeckungen ein« (Oliver Pfohlmann, taz, 14.12.2021) »ein faszinierendes Portrait« (Anja Höfer, SWR2 Lesenswert, 19.12.2021) »ein sehr lebendiges und tiefenscharf ausgeleuchtetes literarisches Zeitbild jenes spannenden und turbulenten Jahrzehnts« (Eberhard Falcke, SWR2 Lesenswert, 19.12.2021) »ein grandioses Buch« (Paul Jandl, NZZ, 19.10.2021) »Eine begeisternde und augenöffnende Rückschau!« (Dierk Wolters, Frankfurter Neue Presse, 26.02.2022) »Böttiger, der seit vielen Jahren das Feld der Jahren das Feld der Gegenwartsliteratur sondiert, ist ein glänzender Chronist.« (Michael Braun, Die Rheinpfalz, 14.12.2021) »überaus kundige, blendend formulierte 70er-Jahre-Literaturgeschichte« (Frank Schäfer, Neues Deutschland, 19./20.3.22) »ein Liebhaberbuch für Leser« (Cornelia Geissler, Berliner Zeitung, 07.01.2022) »Böttigers Werk (...) hat (...) aus vier Jahrzehnten Distanz den größeren und besseren Überblick.« (Kurt Bartsch, Blog des Literaturhaus Wien, Januar 2022) »Insgesamt nimmt sich Böttiger mit seinem Fokus auf die siebziger Jahre einem blinden Fleck der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts an. Eine vergleichbare monografische Literaturgeschichte findet sich bis dato nicht.« (Fabienne Steeger, 54Books, 25.04.2022) »Dieses Buch hat das Potenzial, einen Sog zu entwickeln und nach der Lektüre noch lange nachzuhallen.« (Günter Rinke, literaturkritik.de, 03.03.2022) »Böttigers Schlaglichter fangen ein, was die 70er Jahre literarisch ausmachte. Eine begeisternde und augenöffnende Rückschau.« (Dierk Wolters, Gießener Allgemeine Zeitung, 19.02.2022) »literaturhistorisch[es] Mosaik, das uns eine bereits entlegene Zeit wieder vor Augen bringt« (Hanjo Kesting, Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte, 5/2022) »äußerst anregende Darstellung der 'wilde(n) Blütezeit der deutschen Literatur' der 70er Jahre« (Sabine Lueken, Junge Welt, 29.09.2022)