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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Virginia Woolfs Roman "Die Jahre" · Von Ingeborg Harms
Es gibt eine spezifisch britische Melancholie, die das Gegenteil des Idealismus ist. Sie markiert die Schnittstelle zwischen exzessiver Selbstbeobachtung und gesellschaftlicher Geschmeidigkeit. In ihr lagert sich das verhinderte Ausdrucksbedürfnis des Individuums ab: Überschwengliche Emotionen, ironische Aperçus, subversive Impulse, alles, was einen neuen Anfang machen möchte, wird in ihrem Element gebrochen und auf unheimliche Weise in reflexiven Arabesken stillgestellt. T. S. Eliots 1917 entstandenes Gedicht "The Love Song of J. Alfred Prufrock" führt vor, wie poetisch solche subjektive Dekadenz sein kann.
Virginia Woolf hat mit ihrem Generationenroman "Die Jahre", der jetzt in neuer Übersetzung auf deutsch erschienen ist, eine Anatomie dieser Melancholie geschrieben. Das 1937 erschienene, sich in elf Kapiteln über mehr als fünfzig Jahre erstreckende Buch schildert anhand der Familie Pargiter eine in leeren Umgangsformen stagnierende Oberschicht und das Unvermögen ihrer Kinder, trotz klarsichtiger Selbsteinschätzung aus den Konventionen auszubrechen. "Die Jahre" sind aus einem Essay zur Lage schreibender Frauen entstanden, der sich zunächst in einen Essay-Roman mit alternierenden theoretischen und fiktionalen Kapiteln verwandelte, um schließlich nach massiven Streichungen zu einem reinen Roman zu werden. Die Euphorie, die Woolf zu Beginn der dreißiger Jahre bei der Konzeption des Buches empfand, mündete gegen Ende der Arbeit in starke Zweifel. Das faktenreiche Gesellschaftspanorama gab den optimistischen Überschuß nicht her, den die Autorin sich von ihrem Röntgenbild erwartet hatte. Die Stärken des Buches liegen in der Lyrik der Entsagung, während die Kräfte, die für eine Befreiung aus dem petrifizierten Alltag sprechen, blaß und wenig überzeugend bleiben.
Der Roman beginnt 1880 mit einem Besuch Colonel Abel Pargiters bei seiner Geliebten, einer Frau der Arbeiterklasse, die in schäbigen Verhältnissen lebt. Der Besuch ist freudlos und verhuscht, Geld wechselt die Hände, beide spielen ihre Rollen schlecht. Die Szene wechselt, und Pargiter betritt den häuslichen Salon, in dem seine vier Töchter und einer seiner drei Söhne beim Tee versammelt sind. Die Atmosphäre ist auf Strindbergsche Art gedrückt, zum despotischen Vater gehört eine bettlägerige Mutter im ersten Stock: Pargiters "Frau lag im Sterben; starb aber nicht".
Die Töchter gehen auf unterschiedliche Weise mit ihrem Schicksal um. Eleanor, die Älteste, widmet ihr Leben nach dem schließlich doch eintreffenden Tod der Mutter der väterlichen Haushaltsführung. Delia wünscht ungeduldig das Ende der Mutter herbei, das ihr den Zugang zum Heiratsmarkt eröffnet. Nur die kindliche Rose wartet nicht auf künftige Freuden, sondern stiehlt sich an der Amme vorbei auf die Straße. In der Dunkelheit begegnet sie einem Exhibitionisten und vermag das traumatische Erlebnis niemandem mitzuteilen.
Roses späteres Leben als ihr Äußeres vernachlässigende Suffragette ist Folge dieses unverarbeiteten Schocks. "Was für ein schreckliches Leben Kinder haben!" bemerkt ihr Bruder Martin dreißig Jahre später. "Ja", antwortet Rose: "Und sie können keinem etwas davon erzählen." Ihrem Tagebuch zufolge beabsichtigte Woolf, einen Roman über "das sexuelle Leben der Frauen" zu schreiben. Doch dieses Leben ist im vollendeten Werk nur ex negativo vorhanden. Eleanor opfert ihre Jugend einer inzestuösen Vaterliebe, ihre Schwestern heiraten wie ihre Cousine Kitty respektable Kandidaten.
Leidenschaft flackert als vage Möglichkeit auf, als die junge, in Oxford lebende Kitty einmal eine befreundete Professorenfamilie besucht. Bei den Robsons hängen "billige Spitzenvorhänge" an den Fenstern, und die Hausfrau zeigt den mit einer Inschrift versehenen "riesigen silbernen Präsentierteller" mit derselben Geste vor, die Kittys Mutter verwendet, wenn sie auf den häuslichen Gainsborough hinweist. Der Sohn der Dobsons hat eben den Hühnerstall repariert und betritt mit Holzspänen im Haar die Küche. Noch als alte Frau denkt Kitty bei einem Opernbesuch sehnsüchtig an diesen Moment und beseelt Wagners Siegfried mit der Erinnerung an den naturwüchsigen Nachbarssohn, dem sie nie näher gekommen war. "Die ist eine Wucht", läßt der in individuelle Perspektiven zersplitterte Roman den jungen Robson denken, "aber mein Gott, hat die vielleicht Allüren!"
In diesem Buch wird viel geredet, aber wenig mitgeteilt. Die Sprache dekoriert den Umgang, aber sie hat nicht mehr Konsequenz als ein Vorhangstoff. Unaufhörlich werden Sätze begonnen und nicht weitergeführt oder rücksichtslos unterbrochen. Sobald jemand zu einem Geständnis anhebt, verabschiedet sich der Gesprächspartner, der Teekessel pfeift oder es klopft an der Tür. Die Sensibilität der Menschen und Dinge konzentriert sich auf die Verhinderung der Intimität. Der Austausch bleibt vage, ornamental, Pirouetten drehend. "Wir denken alle dasselbe", heißt es einmal, "nur sagen wir es nicht."
Das kompensatorische Selbstgespräch der Figuren nimmt nicht selten wahnhafte Formen an, fortwährend tauchen Gestalten auf, die laut mit sich selber reden. Das überschießende Kommunikationsbedürfnis äußert sich in sinnlichen Metaphern, die den Alltag mit phantastischen Girlanden schmücken. "Das Alter mußte endlose Alleen besitzen, die sich in seiner Dunkelheit immer weiter und weiter erstrecken", denkt Eleanors Nichte Peggy angesichts ihrer in Reminiszenzen versunkenen Tante. Der Eintritt ihres Vaters bei einer Abendgesellschaft löst in Peggy ein "direktes, spontanes Gefühl" aus, das sie genauer untersucht: "Seine Schuhe hatten immer eine merkwürdige Wirkung auf sie. Teils etwas Sexuelles, teils Mitleid, dachte sie. Kann man es Liebe, nennen?" Als jemand Peggy eine lange Geschichte erzählt, kann sie sich kaum darauf konzentrieren. Die Worte durchstoßen "immer wieder die Oberfläche ihrer Gedanken wie Ruder, die in Wasser tauchen".
Als 1917 deutsche Bomber über London kreisen, findet Woolf für die soziale Maschinerie der Gesprächsverhinderung eine weitreichende Analogie: "Die Deutschen . . .", sagt sie auf dem Weg in den Luftschutzkeller. "Sie hatte das Gefühl, ein entsetzlicher Langweiler hätte eine interessante Unterhaltung unterbrochen." Der Alarm stört ein Abendessen bei Eleanors Cousine Sara, die sich um den Preis der Armut aus familiären Verstrickungen befreit hat. Unter den Gästen befindet sich ein homosexueller Sozialist, mit dem Eleanor über die Zukunft spricht: "Wann werden wir abenteuerlich leben", möchte sie ihn fragen, "in Gänze, nicht wie Krüppel in einer Höhle?" Der Freimut des Gesprächs verwandelt das Interieur, läßt es seine viktorianische Patina ablegen: "Die Dinge schienen ihre Häute verloren zu haben; von einer oberflächlichen Härte befreit zu sein; selbst der Sessel mit den vergoldeten Klauen, auf den ihr Blick fiel, sah porös aus; er schien eine Wärme auszustrahlen, einen Glanz, als sie ihn betrachtete."
Der Sessel verweist auf Eleanors Vater, dessen Hand durch eine Kriegsverletzung in Indien zur Klaue geworden ist. In die Verkrüppelungen strömt Leben, die Höhle erhellt sich, doch der Luftangriff zerstört den Moment der Erlösung. Er ist eine andere Form des Krieges, der lange vorher schon im zivilen Leben herrschte und dessen Reformierung schmerzhaft unterbricht. Die Episode ist im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg zu sehen, der während der Arbeit an den "Jahren" ausbrach. Es sind seine Einschnitte, die dem Romanprojekt die Flügel stutzten und aus dem geplanten Aufstieg aus den kalten Flammen der viktorianischen Hölle einen Abstieg ins brennende London machten. "Die Jahre", schreibt die amerikanische Kritikerin Jane Marcus, "sind romantisch, Wagnerianisch, an der Struktur des Rings orientiert und bewegen sich in einer an Dante erinnernden Abwärtsspirale. Sie sind Virginia Woolfs Götterdämmerung, in der die alte Ordnung zusammenbricht, ohne daß eine neue zu erkennen wäre."
Das Buch endet in der "Gegenwart". Auf einem Familienfest kommen alle Pargiters zusammen. Die greise Eleanor schläft einen Augenblick lang schnarchend im Stuhl ein und wacht mit einem intensiven Glücksgefühl wieder auf. Erfüllung findet sie paradoxerweise in den kleinen Abwesenheiten, nicht in der Gegenwart, unter ihren Nächsten: "Es muß ein anderes Leben geben, dachte sie, als sie sich gereizt in den Sessel zurücksinken ließ. Nicht in Träumen; sondern hier und jetzt, in diesem Zimmer, mit lebendigen Menschen. Sie hatte das Gefühl am Rand eines Abgrunds zu stehen, mit nach hinten wehenden Haaren."
Aus dem Zwang zu Diskretion und Verschwiegenheit ist eine Droge geworden, das Innere ist viel reicher als die Außenwelt und nicht mehr mit ihr zu vermitteln. Gegen den süßen Traum setzt Woolf als letzte Szene den Auftritt der Hauswartskinder, die in einem unentschlüsselbaren Slang ein kollektives Lied vortragen: "Es lag etwas Gräßliches in dem Geräusch, das sie gemacht hatten. Es war so schrill, so mißtönend und so bedeutungslos." Der Abgrund, an dem Eleanor steht, ist der Abgrund der Jahre, die ihre Ringe um die Gegenwart legen. Und der Roman, der so didaktisch mit der Geschichte umzugehen trachtet, stürzt sich schließlich in ihn hinein, um einer Gegenwart zu entkommen, die frei von Tradition, unbelastet jung und völlig kulturlos ist.
Nach den in lyrischer Prosa dahinfließenden "Wellen" hat Virginia Woolf ein Epos moderner Stoiker geschrieben, die zwischen der Unfähigkeit, in den Schoß der Familie zurückzukehren und dem Unwillen, sich der Zukunft zu öffnen, erstarren. "Pargiter" läßt sich mit "Vergipser" übersetzen. Der Medusablick der Autorin bannt die wahre Natur der Familie auf dem Klimax der Erzählung: "Die Gruppe im Fenster, die Männer in ihrer schwarzweißen Abendgarderobe, die Frauen in Karmesinrot, Gold und Silber, hatten einen Augenblick lang etwas Statueskes, als wären sie in Stein gemeißelt. Ihre Kleider fielen in steifen, gehauenen Falten." Die elf, in Epochensprüngen prozessierenden Kapitel des Buches gleichen diesem Faltenwurf, und die letzte Falte schließt lückenlos an die erste.
Virginia Woolf: "Die Jahre". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Walitzek. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 415 S., geb., 49,80 DM.
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