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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Märchenhaftes aus einem Land namens Warteinweil: Adolf Muschgs Roman "Die japanische Tasche"
Die Schweiz, heißt es in Adolf Muschgs neuem Roman "Die japanische Tasche", droht zu verwalden. Doch man kommt hier gar nicht erst in Versuchung, diese Verwaldung oder so schöne Begriffe wie "Lotterschweiz" politisch zu lesen. "Wald" meint hier vielmehr eine dunkelsilberne Übergangszone, eine uralte Gegend, wie man sie aus Märchen kennt. Abgesägte Buchen verbreiten frischen Holzgeruch. Hier lauert Gefahr. Oder Erkenntnis. Oder Erkenntnis durch Gefahr. Denn genau hier, in diesem zeit- und ortlosen Wald, trifft der Romanheld Beat Schneider, bevor er auf rätselhafte Weise verschwinden wird, auf einen gesprächigen, älteren Herrn, der den Fuß leicht hinter sich herzieht. Muschg-Leser kennen ihn schon: Es ist Emil Gygax alias Sutter, der im Roman "Sutters Glück" (2001) nach dem Selbstmord seiner Frau im Silser See verschwand.
Totgeglaubte Romanfiguren erstehen wieder auf. Äußerst präsente Figuren hingegen lösen sich plötzlich in Luft auf wie im postmodernen Roman. Sogar eine ganze Schulklasse kommt vom Botanisieren nicht mehr zurück. Man sucht sie mit Spezialeinheiten. Aber die Kinder bleiben spurlos verschwunden. Wie man es auch dreht und wendet - es irrlichtert gewaltig in diesem Roman, der ständig mit neuen Geschichten überrascht. Phantastisches und Reales gehen bei Muschg Hand in Hand. Altmodisches mischt sich mit einer Hypermoderne, wo man Pixel unterm Elektronenmikroskop zu Phantomgesichtern zusammensetzt und abenteuerliche Theorien über den Zusammenhang von Materie, Kunst und Leben entwirft. Im Kopf immerzu die Frage: Wo ist Beat Schneider? Tot? Irre geworden? Neu verheiratet auf der Osterinsel oder im Land "Warteinweil"?
Dabei ist der Historiker mit Schwerpunkt Liebe im 18. Jahrhundert mindestens ein Drittel des Romans sehr gegenwärtig. Er sitzt zu Anfang in einem Zug, der wegen eines "Personenschadens" stillsteht. Ein Mann hat sich auf die Gleise gelegt. Der "beinharte Schlag gegen den Unterbau des Triebwagens" ist der düstere Paukenschlag aus dem Totenreich, der den ganzen Roman wie ein Basso continuo begleiten wird. Wildfremde Menschen kommen miteinander ins Gespräch, "wie in der Kutschenzeit", kommentiert Beat Schneider, der selbst irgendwie aus der Zeit gefallen scheint und geduldig Goethe zitiert. Man wartet auf den Abspritzwagen wie auf den Boten aus der Hölle. Nach diesem Erlebnis scheint auch das Leben Beat Schneiders aus dem Gleis gesprungen. Fast so, als hätte der namenlose Tote auf dem Gleis eine Wunde aufgerissen und gezeigt, was Beat Schneiders eigenem Leben mangelt. "Uns fehlt etwas, aber wir haben keinen Namen dafür", gibt Muschg, der im vergangenen Jahr achtzig wurde, als Motto von Georg Büchner mit auf diesen abenteuerlichen Lektüreweg.
Was sich nach dieser Eröffnungsszene entspinnt, vermitteln allein schon die Orte. Da ist eine Münsterburger Stadtrandvilla, Begegnungsort unterschiedlichster Paare, zugleich aber seltsam entrückt, mit ihrem dunklen Mobiliar, dem lodernden Kamin und der Nähe zum Wald. Die Villa ist benannt nach dem sagenträchtigen "Auerhahn", jenem Vogel, der bekanntlich die Liebe bringt. Beat Schneider ist hier - mit acht Jahren Unterbrechung - Mieter des Dachateliers; im Übrigen, erfährt man, in seinem Fach ein ausgewiesener Spezialist für Schäferspiele: Da finden Paare zusammen, trennen sich und vereinen sich wieder in einem überhöhten Idyll. Mit diesem Motiv wird viel gespielt.
Doch wo Liebe ist, droht immer auch deren Ende. Beat Schneiders achtjährige Ehe mit Lou Anne, in Rückblenden mit viel Zartheit nacherzählt, beginnt zwar vielversprechend. Die üppige Analphabetin mit zeichnerischer Hochbegabung, die sie für Architekten wertvoll macht, war pflichtbewusste Hörerin seiner einzigen Vorlesung mit dem Titel "Die Schweiz der Hirten". Danach ging es umstandslos ins Programmkino. Man macht Liebe unter anderem zu Peter Greenaways Film "Z", ohne freilich etwas davon aufzunehmen. Wieder so ein gespiegelter Vorgang: hier Erotik, dort das Vergängliche ("Z" zeigt viele verwesende Tiere). Die im Film thematisierte Entzifferung geheimer Codes verweist schon auf spätere Passagen im Roman. Aber die Ehe endet jäh durch Beat Schneiders ausgelebten Eifersuchtsanfall. Dass Lou Anne sogleich in die Psychiatrie abwandert, ist mehr als tragisch. Damit ist der zweite, dickwandige Ort benannt: das "Burgfried", wo fast in der Manier Robert Walsers die Zeichenkunst Lou Annes geschützt wird, während die Frau mehr und mehr verfällt - vielleicht aber noch Geniales vollbracht hat? Im Dürrenmattschen "Physiker"-Thema, das hier entfernt anklingt, hallt das große Romanthema an, die Idee einer Kulturtheorie, bei der nicht Perfektion, sondern Abweichung für Fortschritt sorgt. Muschgs Figuren sind Schatten solcher archaischer Weiser, die Blindheit oder das Jenseits (Gygax) erst sehend macht.
Von Münsterburg geht es nach Berlin; von Konstanz nach Japan, von wo Lou Anne, die dort bei einem Wettbewerb zum vielsagenden Thema "Mögliche Welten" mitmacht, Beat Schneider schließlich die Tasche mitbringt. Feinstes Segeltuch. Schlicht und schön. Von Schneider sorgsam gehütet. Auf Zugfahrten bettet er darauf seinen Kopf - bis sie eines Tages doch gestohlen wird. Wiederum stößt hier das Verschwinden einen Wirbel an Ereignissen an. Es gibt Fachgespräche über Molekularbiologie oder Schweizer Geschichte; und Fränk, einen durchgeknallten Jugendlichen, der am Vermehrungsverhalten des Fadenwurms wichtige Erkenntnisse für die Krebsforschung gewinnt.
Ja, der Roman ist anstrengend. Auch, weil er Positionen meidet und unter dem Deckmantel hochgedrechselter Dialoge mitunter krude Bezüge herstellt. Männer lassen sich allzu gerne versorgen, Frauen stellen sich bereit. Der weibliche Schoß spielt als Lebensspender eine nicht unwichtige Rolle. Streckenweise ist diese Mischung aus manieriertem Gespräch und anverwandeltem Bildungsstoff trotz satirischer Züge schwer auszuhalten. Dann wieder beglückt "Die japanische Tasche" als Prosa, die sprachlich und konstruktionstechnisch mit seinen vielen Zeitschienen und unerwarteten Verstrebungen aus der Reihe fällt. Die Unfassbarkeit des Todes wird eben auch zur Quelle einer sehr diesseitigen, prallen Literatur. Sie handelt von "letzten Dingen" und einfachen Schönheiten: "Vom Zürisee-Wein beflügelt, war auch im Hinterzimmer seiner Gefühle ein ganz eigener Betrieb ausgebrochen. Immer weniger wollte er die Lotterschweiz nur lesen, immer dringender verlangte ihn, selbst zu lottern." In solchen Momenten nimmt man die Raffinesse des Bauplans mit all seinem aufgeladenen Beiwerk als eine Art moderner Burleske gerne in Kauf.
ANJA HIRSCH
Adolf Muschg: "Die japanische Tasche". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2015. 484 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Adolf Muschg packt mehr in „Die japanische Tasche“ hinein, als seinem Roman guttut
Psychologisch betrachtet, ist das Kind der Vater des Erwachsenen – und auch dessen Mutter, um das Paradox zu ergänzen, mit dem Sigmund Freud den Erkenntnisgrund der Psychoanalyse in der frühkindlichen Erfahrung und dessen Nachleben verankerte. Von zwei von Missbrauch und Elternlosigkeit gebrannten Kindern, die als Erwachsene zueinander finden und sich wieder verlieren, erzählt Adolf Muschg in seinem jüngsten Roman. Er heißt „Die japanische Tasche“, denn alles, was Beat Schneider nach acht Jahren Ehe von Lou Anne bleibt, ist eine Tasche, die sie ihm aus Japan mitgebracht hatte. Bis auch sie verloren geht.
Dabei hatte alles ganz märchenhaft begonnen. Schneider, ein Findling, war in einem Pfarrhaus unter der feenhaften Obhut einer von ihm Alcina genannten Kindsfrau aufgewachsen. In Wirklichkeit ist sie seine leibliche Mutter, aber das bleibt wie so vieles in diesem Roman im Ungefähren. Liebe und Erotik im 18. Jahrhundert sind die Forschungsgebiete des Privatdozenten. Seinen Vorlesungen zufolge barg „Die Schweiz der Hirten“ allerhand späterhin verkümmerte Freuden und Freiheiten: Von seinen Zinnen hätte der Bannerträger aus Gottfried Kellers Seldwyler Männerchor sein Lied anstimmen können: „Da ist die Freude sündenrein. . .“ Der Vers steht als Motto über jenem Kapitel, von dem Schneiders amouröse Begegnungen mit Lou Anne ihren Ausgang nehmen. Die zauberhaften Metamorphosen des Geschlechts in Händels Oper „Alcina“ und die anmutigen Schäferspiele von Shakespeares „Wintermärchen“ haben kreisende Bewegungen auch auf den von Schneider und Lou Anne eingenommenen Logensitzen zur Folge.
„Sündenrein“ ist ob mancher Grenzverwischungen ebenso die Welt der Märchen: „Das Glück der Märchen“, so lässt ein auktorialer Erzähler seinen Helden räsonieren, „ist nicht, etwas besser oder böser zu wissen, sondern ANDERS.“ Gelten sollte dies selbst im Blick auf die unerlöste Gegenwart alter Wunden. „Das Kind soll unverletzet sein“, heißt es mit Paul Gerhardts „Abendlied“ in einem der vielen Zitate aus Märchendichtung, Poesie und Kirchenlied. Gemeint ist die beinahe mit Stummheit geschlagene Lou Anne, die von Kind an sexuell missbraucht wurde und noch bis in die Gegenwart der Erzählung für nicht näher geschilderte Kundendienste zur Verfügung steht. Von der Liebe erhofft sie sich Erlösung von Gewalt, Schlägen und vom Zwang, „süß“ zu sein.
Doch an einem einzigen, von rasender Eifersucht diktierten Schlag in ihr Gesicht zerbricht die Liebe, und mit ihr nicht nur die Ehe, sondern auch die Seele der Kindfrau selbst: Lou Anne gerät in die Mühlen der Psychiatrie und wird sie nie wieder verlassen. Und dem Mann bleibt nichts als die Tasche. Mit der Freudschen Symbolträchtigkeit einer Tasche als Stellvertreterin des mütterlichen Uterus, in dem das schuldbeladene Schneiderlein am liebsten wieder verschwinden möchte, könnte der Leser dieser ein knappes Drittel des Romans einnehmenden Erzählung noch ganz gut leben, ohne dass er auch noch zum Zeugen von Schneiders fortgesetzten Götzendiensten an dem „Zyklopenauge“, der „Öffnung im glühenden Rund“, werden müsste.
Doch hier, bei den noch ausstehenden zwei Dritteln dieses 500-Seiten-Werks, nimmt die Mühe mit diesem Roman aus der Feder eines doch so sprachmächtigen und begnadeten Erzählers ihren Lauf. Ein geschickter Ausgangsplot – der plötzliche Stillstand eines Fernzugs infolge eines „Personenunfalls“ – verschafft dem Autor die Möglichkeit, eine ganze Riege potenziell verfügbarer Romanfiguren auf begrenztem Raum für die Dauer eines Ausnahmezustands zu versammeln, um sich ihrer späterhin wie ein Marionettenspieler nach Gusto zu bedienen. Und später lässt er nach Schneiders vorzeitigem Austritt aus dem Roman einen altgedienten Helden wiederauferstehen, der sich in „Sutters Glück“ (2001) noch im Silser See ertränkt hatte. Dadurch gerät der Roman selbst zum Personenunfall.
Vollkommen überflüssig sind die den Romanfiguren in den Mund gelegten Leitartikel aus verblichenen Feuilletondebatten über Genomsequenzen und die Fortschritte der Molekularbiologie oder über Gaudi und Kurzweil in den Lebenswissenschaften. Mit redseliger Philosophie und Bildungshuberei ist der Roman ohnehin zum Bersten gefüllt. Einen argen Schnitzer leistet Muschg sich dabei gegenüber einer Urszene des modernen Intellekts, nämlich Petrarcas berühmter Besteigung des Mont Ventoux: Oben angekommen soll der römisch-katholische Gipfelstürmer dem reformierten Zürcher Protestanten Adolf Muschg zufolge brav zur Bibel gegriffen haben, während es nach Petrarcas eigenhändiger Überlieferung die „Bekenntnisse“ des heiligen Augustinus waren.
Eine wahre Fülle wunderbarer Kolportagen – auf Zürcher Sitten und Gebräuche, auf ortsansässige Stararchitekten, auf den alemannischen Schriftsteller Wal Bender, alias Martin Walser, auf Berliner Verlage und Konstanzer Historikertage – und eine sprachliche Kunstfertigkeit ohnegleichen können dennoch nicht über die widrigen Folgen eines ausufernden Parlierens hinweghelfen. Auf märchenhafte Weise von aller Ökonomie und allem Pekuniären befreit sind Muschgs Romanhelden. Es dem Märchen nachtun zu wollen, ist für den Haushalt eines Romans freilich fatal: Und so erzählt, redet, sinniert, schwadroniert Muschg wie in einem nicht enden wollenden Selbstgespräch einfach mehr, als auf eine Kuhhaut geht – oder in eine japanische Tasche passt.
VOLKER BREIDECKER
Adolf Muschg: Die japanische Tasche. Roman. Verlag C.H. Beck, München 2015. 484 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Auch die Fülle wunderbarer
Kolportagen sprengt leider den
erzählerischen Rahmen
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Charles Linsmayer, Neue Zürcher Zeitung, 29. November 2015
"Muschg zeigt einmal mehr, mit welcher Raffinesse sich Erzählungen konstruieren lassen."
Caspar Shaller, Die Zeit, 26. November 2015
"Der Roman ist eine kunstvoll komponierte Geschichte von Liebe und Verlust, Heilssuche und Scheitern."
Wolf Scheller, Die Rheinpfalz, 4. November 2015
"So klug verspielt, so gelassen widerborstig wie kaum je verführt uns Muschg in den Irrgarten seines Textes."
Berner Zeitung, 18. September 2015
"Adolf Muschg hat einen brillanten Roman geschrieben über die unstillbare Sehnsucht nach dem Ganzen."
Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 15. September 2015