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Nationalsozialistische Judenverfolgung im "Protektorat Böhmen und Mähren"
Nach der Annexion des Sudetenlandes besetzte das nationalsozialistische Deutschland am 15. März 1939 das verbliebene tschechische Gebiet der vormaligen Tschechoslowakischen Republik. Mit der Errichtung des sogenannten Protektorats Böhmen und Mähren begann die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung: Nur etwa 14 000 von den dortigen rund 118 000 Juden sollten diese überleben. Wie die Verfolgung im annektierten Gebiet vonstattenging und in welchem Zusammenhang sie mit dem generellen Verlauf und mit der Verschärfung der antijüdischen Politik im Großdeutschen Reich stand, analysiert Wolf Gruner in erschütternden Einzelheiten mit stets vergleichendem Seitenblick auf die Entwicklungen in Deutschland, Österreich und auch Polen.
Zu den zahlreichen neuen Erkenntnissen gehört, dass die Judenverfolgung im Protektorat nicht ausschließlich von Berlin aus gesteuert wurde. Vielmehr gab es eine wechselseitige Dynamik von Maßnahmen der Berliner Reichsregierung, der deutschen Protektoratsbehörde, der tschechischen Regierung in Prag und auf lokaler und regionaler Ebene. Die Konsequenz waren eigenständige Entwicklungen mit einem bis in den Krieg hinein bestehenden breiten Spielraum für individuelles Handeln und daraus resultierender persönlicher Verantwortung deutscher und tschechischer Beamten und Bürger einerseits und fortwährende Radikalisierungen andererseits, weil sich die verschiedenen Akteure gegenseitig mit verschärfenden vermögensrechtlichen und anderen Einzelrestriktionen überboten.
Schon 1939 fror beispielsweise das tschechische Finanzministerium Bankguthaben ein, ehe diese Methode wenige Monate später vom Reichswirtschaftsministerium kopiert wurde; 1940 kam es dann zu Gettoisierungen in einzelnen tschechischen Städten, die oftmals lokalen Ursprungs waren. Zusätzliche Einschränkungen in der Lebensmittelversorgung wurden in rascher Folge von verschiedenen tschechischen Ministerien erlassen, genauso dezentral erfolgten Ausschlüsse von Versicherungen und aus Berufsverbänden. Ein besonders eklatantes Beispiel für eine durch die wechselseitige Dynamik bedingte Eskalation ist die Einführung eines "Judenkennzeichens", für das der Impuls aus der Hauptstadt des Protektorats kam. Früh wurde die Forderung laut, für eine sichtbare Trennung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Tschechen zu sorgen, um jüdischen Widerstand zu brechen und weil ein demonstrativ freundliches Verhalten Juden gegenüber als ein Element des nationalen Widerstands galt. Auf Gehör in Berlin stieß der Gedanke aber erst 1941 in der veränderten politischen Situation nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion. Die Polizeiverordnung, die daraufhin am 19. September des Jahres in Kraft trat, wurde dann jedoch sogleich auf das gesamte Großdeutsche Reich ausgedehnt. Die öffentliche Markierung mit dem gelben Stern und dem in derselben Verordnung verankerten Verbot, ohne Genehmigung den Wohnort zu verlassen, schuf jetzt die Voraussetzung für eine Massendeportation der jüdischen Bevölkerung.
Wolf Gruner belegt seine Analysen akribisch, Jahr um Jahr, durch exakte Daten, die eine Bilanz des Grauens ergeben. Sie führen nicht allein die Geschwindigkeit der demographischen Verzerrungen vor Augen, mit der Überalterung und Verarmung auf die anfangs forcierte Emigration und die Ausschaltung aus der Wirtschaft folgten und sodann Gettoisierung, Zwangsarbeit und Deportationen geschuldet waren. Die Zahlen vermitteln überdies einen Eindruck vom kaum vorstellbaren Ausmaß der Anforderungen, mit der sich die jüdischen Gemeinden konfrontiert sahen. Der auf ihnen lastende immense Druck wird nicht nur am Beispiel Prags geschildert.
Die einzelnen Abteilungen der dortigen Kultusgemeinde, die ab 1940 für alle Gemeinden in Böhmen und Mähren verantwortlich zeichnete, berieten über Auswanderungsmöglichkeiten, organisierten Umschulungsmaßnahmen, mussten nach Mietkündigungen und Beschlagnahmungen für die von "Umsiedlungsaktionen" betroffenen Menschen Wohnraum schaffen und versorgten, mit den zusehends steigenden Kosten kämpfend, die Armen, die wie länger zuvor bereits in Deutschland und Österreich ab 1941 auch im Protektorat aus der staatlichen Wohlfahrt ausgeschlossen waren. Außerdem wurde die Kultusgemeinde zu stets neuen Maßnahmen zur Registrierung gezwungen, die auf Erfassung und Enteignung abzielten. Sie hatte Unterlagen für Hausbesitzübertragungen zu ermitteln und Listen des Immobilienbesitzes in Prag und in der Provinz zu erstellen, schließlich hatten mehrere hundert Zwangsarbeiter in einer eigens eingerichteten "Treuhandstelle" für den Verkauf aufzubereiten, was Zehntausende Deportierte an Eigentum zurücklassen mussten.
Auch die ebenso unermüdlichen wie beherzten Versuche, sich der immer weiter zuziehenden Schlinge zu entziehen, beschreibt Gruner genau. In seine erweiterte Definition von jüdischem Widerstand bezieht er sämtliche individuellen und kollektiven Aktionen gegen die antijüdischen Gesetze und Pläne der tschechischen und deutschen Behörden ein und rückt dadurch die Handlungen jüdischer Gemeindevertreter und das Verhalten Einzelner in ein neues Licht. Beschwerden der Prager Kultusgemeinde gegen die zunehmenden lokalen antijüdischen Maßnahmen wie Synagogen- und Friedhofsbeschädigungen, gegen Bibliotheksbeschlagnahmungen und Hausdurchsuchungen zählt er ebenso dazu wie den Verstoß Einzelner gegen Anordnungen wie Ausgehverbote und Wirtschaftssanktionen, desgleichen Flucht, Fluchthilfe oder Suizid angesichts der Deportationen.
Wie zynisch die verschiedenen Instanzen, angespornt durch den vom NS-Regime vollzogenen zivilisatorischen Dammbruch, gegen die jüdische Bevölkerung vorgingen, wie stark angetrieben von eigenem Vorteilsdenken und wie gnadenlos, davon zeugen auch Abbildungen im Buch wie die Innenaufnahme einer als Möbeldepot zweckentfremdeten Synagoge. Wer sich künftig mit der Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung beschäftigt, wird an Wolf Gruners Studie nicht vorbeikommen.
ANDREA HOPP
Wolf Gruner: Die Judenverfolgung im Protektorat Böhmen und Mähren. Lokale Initiativen, zentrale Entscheidungen, jüdische Antworten 1939-1945. Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 431 S., 34,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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