"Das Schicksal hat viel Humor" Ein Provinztheater. Adriana, die Regisseurin, und Sissele, die Souffleuse, geraten bei den Proben zu einer Mozart-Oper heftig aneinander. Denn Sissele verfolgt ein Ziel, das gar nichts mit dem Theater zu tun hat, aber sehr viel mit Adriana: Jahrzehntelang hat sie vergeblich nach ihren Verwandten gesucht, die nach dem Zweiten Weltkrieg in alle Winde zerstreut wurden. Sie ist überzeugt, nur Adriana kann ihr jetzt noch helfen! Mit hinreißender Tragikomik erzählt dieser Roman von den Absurditäten des Theateralltags und der abenteuerlichen Reise dieser beiden Frauen. Von einer unverhofften Familienzusammenführung und davon, wie sich unvergessliche Geschichten des 20. Jahrhunderts mit jenen der Nachgeborenen verbinden.
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»Hat man einmal mit der Lektüre begonnen, fesselt einen dieses individuelle Schicksal einer deutschen Jüdin.« Lucille Schäfer literaturkritik.de 20200826
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2018Halb Liebesarie, halb Kaddisch
Zuerst erzählt Adriana Altaras vom Aberwitz des Musiktheaterlebens. Dann erscheint "Die jüdische Souffleuse". Eine Reise zu Stätten des Holocaust beginnt.
Von Ursula Scheer
Kann es tolldreister durcheinandergehen als auf diesen Opernproben? Das Ensemble zerstritten, die Intendantin alkoholkrank, der Dirigent abwesend, die Diva verstummt - Adriana Altaras, die als ihre eigene Ich-Erzählerin wieder einmal mitten ins Geschehen springt, glaubt schon jeglichen Wahnsinn erlebt zu haben als Regisseurin an deutschen Bühnen. Munter kämpft sie sich durch den Musiktheateraberwitz in der Provinz, Mozarts "Entführung aus dem Serail" steht auf dem Programm. Doch dann betritt Susanne die Szene, eine Frau wie ein Geist, fast durchscheinend, nuschelnd und von nervtötender Präsenz: die jüdische Souffleuse. Und bringt alles durcheinander. Oder etwas in Ordnung?
Wie eine Klette heftet sich die seltsame Person an die Regisseurin, mischt sich ein, ruft an, steht vor der Haustür, schläft im Gästezimmer, sitzt mit im Auto - was ist das nur für ein Menschenkind? Eine Meschuggene? Oder gar ein Dybbuk, eine dieser armen Seelen, die Körper von Lebenden besetzen und die man oft nur loswird, indem man ihnen hilft? Nichts davon und doch beides und Schlimmeres. Susanne oder Sissele, wie sie eigentlich heißt, offenbart sich als aus Kanada remigrierte Tochter eines Auschwitz-Überlebenden auf der Suche nach ihrer Familie. In Adriana Altaras hofft sie eine Verbündete zu finden, mit der sie aufbrechen kann ins Archiv der Erinnerung und zu Stätten des Grauens wie den ehemaligen Lagern Mauthausen und Theresienstadt.
Es gehört schon eine gehörige Portion erzählerische Chuzpe dazu, über dem Abgrund der Schoa ein derart barock überdrehtes, zugleich mutwillig unglaubwürdiges und furchtlos realitätsgesättigtes Stück Literatur aufzuführen, wie Adriana Altaras es in ihrem Roman "Die jüdische Souffleuse" tut. Dass es sich bei dieser Geschichte zwischen Liebesarien und Kaddisch um einen Roman handelt, macht die Jongleurin mit Erlebtem und Erdachtem gleich zu Beginn unmissverständlich deutlich: Einige Figuren hätten Vor- und Urbilder in der Realität, heißt es, "doch ihre Beschreibungen und Handlungen sind fiktiv".
Darf sie das, ein Holocaustopfer erdichten wie Sisseles Vater, der im "Sonderkommando" von Auschwitz zum Mittäter gemacht, gebrochen und als Gewalttäter zurückgelassen wird? Darf sie an Ausrufezeichen aufgehängte und mit jüdischen Witzen geschmückte Girlanden um den Nullpunkt der Menschlichkeit winden und Firlefanz aus Theatercapricen? Die Diskussion über Fiktionalisierung, wenn es um die Vernichtung der Juden geht, kann sich auch an diesem Roman neu entzünden. Aber natürlich darf Adriana Altaras, was sie tut, nicht weil die Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin Jüdin ist oder in Steven Spielbergs Shoa Foundation als Interviewerin wirkt, sondern weil es ihr um Wahrhaftigkeit geht, nicht um Effekthascherei.
"Die jüdische Souffleuse" erzählt mit Witz und Wärme von den Schatten der Vergangenheit, der auch die zweite und dritte Generation der Nachgeborenen nicht entkommen. Der Holocaust bleibt das Gravitationszentrum, in dessen Bann sie stehen. "Dieses Zentrum ist es, das die Trauer und das Glück, die Geschichten, Geheimnisse, Familienmythen speist", bekennt Adriana Altaras und führt es mit Blick auf ihre Söhne ganz nebenbei vor. "Es ist meine künstlerische DNA. Es füttert alle meine Arbeiten", heißt es weiter - und bestimmt, was sie in Opern von Mozart, Rossini oder Offenbach sieht.
Schon in ihrem Erstling und Bestseller "Titos Brille", der von ihren Eltern und deren Kampf als jugoslawische Partisanen gegen die Faschisten handelt, gingen die Dybbuks um. Adriana Altaras erzählt nicht einfach nur Geschichten, sie lässt sie durch sich hindurchgehen und verhilft ihnen zu neuem Leben. Auch Sissele wirkt wie ein Dybbuk auf die Erzählerin. Da ist es nur konsequent, dass nicht die Souffleuse mit ihrer erschütternden Lebensgeschichte (eine Kindheit im Lager für Displaced Persons, danach auf zwei Kontinenten in Pflegefamilien) oder deren Vater die wichtigste Person im Roman ist, sondern Adriana Altaras selbst. Sie schreibt konsequent aus der Ich-Perspektive, fest verankert in der eigenen Biographie. Wie beim Vorsprechen für ihre erste Theaterrolle, das sie beschreibt, reist sie mit Gepäck: Aus dem mit Familiengeschichten vom Balkan, aus Italien, Deutschland und Israel gefüllten Koffer zieht sie die Requisiten, dass einem der Atem stockt.
Dieses Mal erleben wir sie dabei, wie sie Künstler aus aller Welt und einen seltsam philosemitischen Intendanten orchestriert und nebenbei, wie wir alle, die täglichen Horrormeldungen von Terror, Flucht und Vertreibung wegsteckt. Nach der Premierenparty stehen Debatten über den Rechtsruck in Europa und den Niedergang der SPD an - und dann kommt Sissele. Lästig erscheint diese Personifikation der Vergangenheit zunächst, dann ebnet sie den Weg zum Glück einer unverhofften Familienzusammenführung. Später, in einer warmen isländischen Quelle wie in einem Abklingbecken, steigt die Erkenntnis auf, dass wir nicht auf einer Insel der Seligen leben und leider, wenn wir auf einer solchen festsitzen, nicht viel mit dem Frieden anzufangen wissen. Aber auch eine Frage blubbert an die Oberfläche: Wie es wohl wäre, wenn Adriana Altaras einmal beiseiteträte und den Dybbuks allein die Bühne überließe.
Adriana Altaras: "Die jüdische Souffleuse".
Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 208 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zuerst erzählt Adriana Altaras vom Aberwitz des Musiktheaterlebens. Dann erscheint "Die jüdische Souffleuse". Eine Reise zu Stätten des Holocaust beginnt.
Von Ursula Scheer
Kann es tolldreister durcheinandergehen als auf diesen Opernproben? Das Ensemble zerstritten, die Intendantin alkoholkrank, der Dirigent abwesend, die Diva verstummt - Adriana Altaras, die als ihre eigene Ich-Erzählerin wieder einmal mitten ins Geschehen springt, glaubt schon jeglichen Wahnsinn erlebt zu haben als Regisseurin an deutschen Bühnen. Munter kämpft sie sich durch den Musiktheateraberwitz in der Provinz, Mozarts "Entführung aus dem Serail" steht auf dem Programm. Doch dann betritt Susanne die Szene, eine Frau wie ein Geist, fast durchscheinend, nuschelnd und von nervtötender Präsenz: die jüdische Souffleuse. Und bringt alles durcheinander. Oder etwas in Ordnung?
Wie eine Klette heftet sich die seltsame Person an die Regisseurin, mischt sich ein, ruft an, steht vor der Haustür, schläft im Gästezimmer, sitzt mit im Auto - was ist das nur für ein Menschenkind? Eine Meschuggene? Oder gar ein Dybbuk, eine dieser armen Seelen, die Körper von Lebenden besetzen und die man oft nur loswird, indem man ihnen hilft? Nichts davon und doch beides und Schlimmeres. Susanne oder Sissele, wie sie eigentlich heißt, offenbart sich als aus Kanada remigrierte Tochter eines Auschwitz-Überlebenden auf der Suche nach ihrer Familie. In Adriana Altaras hofft sie eine Verbündete zu finden, mit der sie aufbrechen kann ins Archiv der Erinnerung und zu Stätten des Grauens wie den ehemaligen Lagern Mauthausen und Theresienstadt.
Es gehört schon eine gehörige Portion erzählerische Chuzpe dazu, über dem Abgrund der Schoa ein derart barock überdrehtes, zugleich mutwillig unglaubwürdiges und furchtlos realitätsgesättigtes Stück Literatur aufzuführen, wie Adriana Altaras es in ihrem Roman "Die jüdische Souffleuse" tut. Dass es sich bei dieser Geschichte zwischen Liebesarien und Kaddisch um einen Roman handelt, macht die Jongleurin mit Erlebtem und Erdachtem gleich zu Beginn unmissverständlich deutlich: Einige Figuren hätten Vor- und Urbilder in der Realität, heißt es, "doch ihre Beschreibungen und Handlungen sind fiktiv".
Darf sie das, ein Holocaustopfer erdichten wie Sisseles Vater, der im "Sonderkommando" von Auschwitz zum Mittäter gemacht, gebrochen und als Gewalttäter zurückgelassen wird? Darf sie an Ausrufezeichen aufgehängte und mit jüdischen Witzen geschmückte Girlanden um den Nullpunkt der Menschlichkeit winden und Firlefanz aus Theatercapricen? Die Diskussion über Fiktionalisierung, wenn es um die Vernichtung der Juden geht, kann sich auch an diesem Roman neu entzünden. Aber natürlich darf Adriana Altaras, was sie tut, nicht weil die Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin Jüdin ist oder in Steven Spielbergs Shoa Foundation als Interviewerin wirkt, sondern weil es ihr um Wahrhaftigkeit geht, nicht um Effekthascherei.
"Die jüdische Souffleuse" erzählt mit Witz und Wärme von den Schatten der Vergangenheit, der auch die zweite und dritte Generation der Nachgeborenen nicht entkommen. Der Holocaust bleibt das Gravitationszentrum, in dessen Bann sie stehen. "Dieses Zentrum ist es, das die Trauer und das Glück, die Geschichten, Geheimnisse, Familienmythen speist", bekennt Adriana Altaras und führt es mit Blick auf ihre Söhne ganz nebenbei vor. "Es ist meine künstlerische DNA. Es füttert alle meine Arbeiten", heißt es weiter - und bestimmt, was sie in Opern von Mozart, Rossini oder Offenbach sieht.
Schon in ihrem Erstling und Bestseller "Titos Brille", der von ihren Eltern und deren Kampf als jugoslawische Partisanen gegen die Faschisten handelt, gingen die Dybbuks um. Adriana Altaras erzählt nicht einfach nur Geschichten, sie lässt sie durch sich hindurchgehen und verhilft ihnen zu neuem Leben. Auch Sissele wirkt wie ein Dybbuk auf die Erzählerin. Da ist es nur konsequent, dass nicht die Souffleuse mit ihrer erschütternden Lebensgeschichte (eine Kindheit im Lager für Displaced Persons, danach auf zwei Kontinenten in Pflegefamilien) oder deren Vater die wichtigste Person im Roman ist, sondern Adriana Altaras selbst. Sie schreibt konsequent aus der Ich-Perspektive, fest verankert in der eigenen Biographie. Wie beim Vorsprechen für ihre erste Theaterrolle, das sie beschreibt, reist sie mit Gepäck: Aus dem mit Familiengeschichten vom Balkan, aus Italien, Deutschland und Israel gefüllten Koffer zieht sie die Requisiten, dass einem der Atem stockt.
Dieses Mal erleben wir sie dabei, wie sie Künstler aus aller Welt und einen seltsam philosemitischen Intendanten orchestriert und nebenbei, wie wir alle, die täglichen Horrormeldungen von Terror, Flucht und Vertreibung wegsteckt. Nach der Premierenparty stehen Debatten über den Rechtsruck in Europa und den Niedergang der SPD an - und dann kommt Sissele. Lästig erscheint diese Personifikation der Vergangenheit zunächst, dann ebnet sie den Weg zum Glück einer unverhofften Familienzusammenführung. Später, in einer warmen isländischen Quelle wie in einem Abklingbecken, steigt die Erkenntnis auf, dass wir nicht auf einer Insel der Seligen leben und leider, wenn wir auf einer solchen festsitzen, nicht viel mit dem Frieden anzufangen wissen. Aber auch eine Frage blubbert an die Oberfläche: Wie es wohl wäre, wenn Adriana Altaras einmal beiseiteträte und den Dybbuks allein die Bühne überließe.
Adriana Altaras: "Die jüdische Souffleuse".
Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 208 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2018„Nicht sie weint,
sondern ich“
Adriana Altaras erinnert sich
doch in „Die jüdische Souffleuse“
Erinnerung ist ganz toll für alle, die dabei nichts riskieren, kein Ins-Schlingern-Kommen wegen irgendwelcher Gefühle, keine größere Ablenkung vom Alltag, nichts, was zu viel Platz einnähme oder unerklärliches Verhalten auslösen könnte. Insofern ist es völlig logisch, dass Adriana, die Ich-Erzählerin dieses Romans, absolut keine Lust darauf hat. „Schließlich hatte ich in jahrelangen Sitzungen bei Frau Dr. Luise gelernt, dass der Holocaust nicht mehr das Grundthema meines Lebens sein sollte.“
Diese Adriana ist so etwas wie die gesampelte Version der echten Berliner Autorin und Regisseurin Adriana Altaras. In dem von Regina Schilling verfilmten autobiografischen Buch Titos Brille erzählte sie von ihrer jüdischen Familie, von den kommunistischen Eltern, beide ehemalige Partisanen, die Mutter hat das KZ überlebt. Titos Brille war eine Erinnerungs- und Selbsterforschungsreise, die vielleicht vor allem deshalb gut ankam, weil sie witzig und ironisch – also zugänglich – mit dem Todtraurigen umging. Regina Schilling habe es einmal so beschrieben, sagte Altaras in einem Interview, „dass ich den Leuten die Scham wegnehme, die Angst vor den Juden“.
Witzig ist die Erzählerin Adriana immer noch, aber diesmal weigert sie sich, zurückzuschauen. Sie hat nur auf eines Lust, auf Oper und Theater, das ist ihr Beruf, den sie als Regie-Wanderarbeiterin in deutschen Provinzstädten ausübt, „in denen es aussieht, als wären die Alliierten erst am Vormittag abgezogen“. Mozarts „Entführung aus dem Serail“ soll inszeniert werden, das ist aus vielen Gründen ein Wahnsinnsunternehmen. Der Leser darf sich amüsieren, wenn die Erzählerin Verzweiflung mit Crémant bekämpft oder den Kontakt mit dem Ensemble aufnimmt: „In meinem letzten Opernhaus kam der Chor größtenteils aus der Ukraine, sage ich, hier also aus Bulgarien. Hat einer von euch das restliche Dorf nachgeholt? Mein Scherz kommt mäßig an, also wende ich mich den Koreanern zu.“ Zur Burleske gehört, dass der Intendant zwanghaft jüdische Witze erzählt.
Adriana Altaras schreibt wie ein Wasserfall, aber das ist ein Kniff, um ein wenig Chaos zu stiften. In Wahrheit ist „Die jüdische Souffleuse“ eine geradezu klassisch gebaute Geschichte, nicht einmal die captatio benevolentiae fehlt, das in der Rhetorik vorgeschriebene Werben um Aufmerksamkeit, bevor die Story beginnt. Allerdings handelt es sich dabei um ein großes Haareraufen. Die Erzählerin Adriana will gar nicht mehr erzählen. Sie hat genug, Schluss, aus, nur ein einziges Mal noch will sie es hier tun, als Gefälligkeit für einen Freund. „Nein, nein, nein“ wäre als Titel für dieses Buch sicher ebenfalls gerechtfertigt gewesen, nur würde natürlich kein Verleger ein Buch so nennen. Und außerdem heißt hier, sorry Leute, Nein eben nicht Nein.
Denn da gibt es jemanden, der keine Weigerung zulässt: Die Souffleuse Susanne, die lieber jiddisch Sissele genannt werden möchte und beim Frühstück Prosecco trinkt, fordert Aufmerksamkeit. Wenn Frauen um die Sechzig noch so eine Figur hätten, dürfe man ihnen kein Wort glauben, findet Adrianas Freundin Nora. Sissele bringt Adriana dazu, sich ihre Geschichte anzuhören, das ganze Elend eines kleinen Mädchens im Holocaust, bis das große Heulen kommt, nämlich bei Adriana: „Nicht sie weint, sondern ich“. Aber den Job, Sissele bei der Suche nach ihrer Familie zu helfen, lehnt sie ab. Beleidigt wie ein kapriziöses Gespenst verschwindet Sissele erst mal.
Man hätte es ahnen können. Denn mitten in der grollenden Vorrede des Buches ist doch plötzlich vom großen gottsuchenden Existenzialisten Isaac Bashevis Singer die Rede, Idol der Erzählerin – geboren 1902 als Sohn eines Rabbiners in Leoncin, Polen, gestorben 1991 als Literaturnobelpreisträger in Surfside, Florida. Fast beiläufig fällt der Name, aber natürlich verbindet er alles, was danach kommt, mit dem Grundthema der Romane und Erzählungen Singers – jener versehrten von Osten weit nach Westen verschlagenen Exilantengeneration, die niemals nur in der Gegenwart leben kann.
Dramaqueen Adriana hilft Sissele natürlich doch noch, die sich fortan als ihre Souffleuse der Erinnerung erweist. Sie gehen auf die Reise, sie forschen in Theresienstadt und Mauthausen. Und erstaunlicherweise gibt es ein Happy End. Oder?
Hinter Adriana Altaras Fähigkeit, mit Todtraurigem witzig umzugehen, steht etwas Fragendes: Ist es für die Nachgeborenen möglich, für sich selbst zu leben und den Holocaust mit seinen Folgen hinter sich zu lassen? Im Theater vielleicht? Oder auf Island, wo Sissele, Robbi aus Israel und die Erzählerin dank einer wahrhaft opernhaften Wendung am Ende festsitzen? Es gibt dort heiße Quellen. Wale. Schnee. „Wir waren ein bisschen verloren, aber nicht unglücklich“, heißt es im Buch. Es ist – und das muss man wohl als vorläufige Bilanz lesen – keine eindeutige Antwort.
CLAUDIA TIESCHKY
Adriana Altaras: Die jüdische Souffleuse. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 202 Seiten, 20 Euro.
Die nach Westen verschlagene
Exilantengeneration, die nie
in der Gegenwart leben kann
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
sondern ich“
Adriana Altaras erinnert sich
doch in „Die jüdische Souffleuse“
Erinnerung ist ganz toll für alle, die dabei nichts riskieren, kein Ins-Schlingern-Kommen wegen irgendwelcher Gefühle, keine größere Ablenkung vom Alltag, nichts, was zu viel Platz einnähme oder unerklärliches Verhalten auslösen könnte. Insofern ist es völlig logisch, dass Adriana, die Ich-Erzählerin dieses Romans, absolut keine Lust darauf hat. „Schließlich hatte ich in jahrelangen Sitzungen bei Frau Dr. Luise gelernt, dass der Holocaust nicht mehr das Grundthema meines Lebens sein sollte.“
Diese Adriana ist so etwas wie die gesampelte Version der echten Berliner Autorin und Regisseurin Adriana Altaras. In dem von Regina Schilling verfilmten autobiografischen Buch Titos Brille erzählte sie von ihrer jüdischen Familie, von den kommunistischen Eltern, beide ehemalige Partisanen, die Mutter hat das KZ überlebt. Titos Brille war eine Erinnerungs- und Selbsterforschungsreise, die vielleicht vor allem deshalb gut ankam, weil sie witzig und ironisch – also zugänglich – mit dem Todtraurigen umging. Regina Schilling habe es einmal so beschrieben, sagte Altaras in einem Interview, „dass ich den Leuten die Scham wegnehme, die Angst vor den Juden“.
Witzig ist die Erzählerin Adriana immer noch, aber diesmal weigert sie sich, zurückzuschauen. Sie hat nur auf eines Lust, auf Oper und Theater, das ist ihr Beruf, den sie als Regie-Wanderarbeiterin in deutschen Provinzstädten ausübt, „in denen es aussieht, als wären die Alliierten erst am Vormittag abgezogen“. Mozarts „Entführung aus dem Serail“ soll inszeniert werden, das ist aus vielen Gründen ein Wahnsinnsunternehmen. Der Leser darf sich amüsieren, wenn die Erzählerin Verzweiflung mit Crémant bekämpft oder den Kontakt mit dem Ensemble aufnimmt: „In meinem letzten Opernhaus kam der Chor größtenteils aus der Ukraine, sage ich, hier also aus Bulgarien. Hat einer von euch das restliche Dorf nachgeholt? Mein Scherz kommt mäßig an, also wende ich mich den Koreanern zu.“ Zur Burleske gehört, dass der Intendant zwanghaft jüdische Witze erzählt.
Adriana Altaras schreibt wie ein Wasserfall, aber das ist ein Kniff, um ein wenig Chaos zu stiften. In Wahrheit ist „Die jüdische Souffleuse“ eine geradezu klassisch gebaute Geschichte, nicht einmal die captatio benevolentiae fehlt, das in der Rhetorik vorgeschriebene Werben um Aufmerksamkeit, bevor die Story beginnt. Allerdings handelt es sich dabei um ein großes Haareraufen. Die Erzählerin Adriana will gar nicht mehr erzählen. Sie hat genug, Schluss, aus, nur ein einziges Mal noch will sie es hier tun, als Gefälligkeit für einen Freund. „Nein, nein, nein“ wäre als Titel für dieses Buch sicher ebenfalls gerechtfertigt gewesen, nur würde natürlich kein Verleger ein Buch so nennen. Und außerdem heißt hier, sorry Leute, Nein eben nicht Nein.
Denn da gibt es jemanden, der keine Weigerung zulässt: Die Souffleuse Susanne, die lieber jiddisch Sissele genannt werden möchte und beim Frühstück Prosecco trinkt, fordert Aufmerksamkeit. Wenn Frauen um die Sechzig noch so eine Figur hätten, dürfe man ihnen kein Wort glauben, findet Adrianas Freundin Nora. Sissele bringt Adriana dazu, sich ihre Geschichte anzuhören, das ganze Elend eines kleinen Mädchens im Holocaust, bis das große Heulen kommt, nämlich bei Adriana: „Nicht sie weint, sondern ich“. Aber den Job, Sissele bei der Suche nach ihrer Familie zu helfen, lehnt sie ab. Beleidigt wie ein kapriziöses Gespenst verschwindet Sissele erst mal.
Man hätte es ahnen können. Denn mitten in der grollenden Vorrede des Buches ist doch plötzlich vom großen gottsuchenden Existenzialisten Isaac Bashevis Singer die Rede, Idol der Erzählerin – geboren 1902 als Sohn eines Rabbiners in Leoncin, Polen, gestorben 1991 als Literaturnobelpreisträger in Surfside, Florida. Fast beiläufig fällt der Name, aber natürlich verbindet er alles, was danach kommt, mit dem Grundthema der Romane und Erzählungen Singers – jener versehrten von Osten weit nach Westen verschlagenen Exilantengeneration, die niemals nur in der Gegenwart leben kann.
Dramaqueen Adriana hilft Sissele natürlich doch noch, die sich fortan als ihre Souffleuse der Erinnerung erweist. Sie gehen auf die Reise, sie forschen in Theresienstadt und Mauthausen. Und erstaunlicherweise gibt es ein Happy End. Oder?
Hinter Adriana Altaras Fähigkeit, mit Todtraurigem witzig umzugehen, steht etwas Fragendes: Ist es für die Nachgeborenen möglich, für sich selbst zu leben und den Holocaust mit seinen Folgen hinter sich zu lassen? Im Theater vielleicht? Oder auf Island, wo Sissele, Robbi aus Israel und die Erzählerin dank einer wahrhaft opernhaften Wendung am Ende festsitzen? Es gibt dort heiße Quellen. Wale. Schnee. „Wir waren ein bisschen verloren, aber nicht unglücklich“, heißt es im Buch. Es ist – und das muss man wohl als vorläufige Bilanz lesen – keine eindeutige Antwort.
CLAUDIA TIESCHKY
Adriana Altaras: Die jüdische Souffleuse. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 202 Seiten, 20 Euro.
Die nach Westen verschlagene
Exilantengeneration, die nie
in der Gegenwart leben kann
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Hier ist alles echt - so echt wie eine Geschichte aus dem wahren Leben eben sein kann, bemerkt Rezensentin Shirin Sojtrawalla. Die Erzählerin mache auch gar kein Geheimnis daraus, dass zwischen ihr und der Autorin einige fundamentale Gemeinsamkeiten bestehen. So heißt sie nicht nur Adriana Altaras, sondern arbeitet wie diese auch als Regisseurin an der Oper, erklärt Sojtrawalla. In ihrem typisch aufgedrehten "Altaras-Ton" reflektiert die Erzählerin ihre Arbeit in diesem Betrieb, den sie durchaus kritisch, jedoch auch mit viel Witz und Zuneigung beschreibt, so die Rezensentin. Doch die eigenen Erfahrungen mit und an der Oper bilden nur das Gerüst oder den Ausgleich für die sehr viel düsterere Geschichte der "jüdischen Souffleuse", lesen wir. Deren Anliegen ist es, mit Hilfe der Autorin Altaras ihre eigene Vergangenheit und die ihres Vaters aufzuarbeiten. Um den Lesern mit dieser beklemmenden Geschichte nicht zu viel aufzulasten, mischt sie jedoch immer wieder "launige Bemerkungen" und Anekdoten unter. Das Chaos der Erzählebenen, welches dabei entsteht, findet Sojtrawalla zwar nicht gerade elegant, aber eben "turbulent" und echt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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