Jim Sams hat eine Verwandlung durchgemacht. In seinem früheren Leben wurde er entweder ignoriert oder gehasst, doch jetzt ist er auf einmal der mächtigste Mann Großbritanniens – und seine Mission ist es, den Willen des Volkes in die Tat umzusetzen. Er ist wild entschlossen, sich von nichts und niemandem aufhalten zu lassen: weder von der Opposition noch von den Abweichlern in seiner eigenen Partei. Und noch nicht mal von den Regeln der parlamentarischen Demokratie. Die aberwitzige, kafkaeske Politsatire des großen britischen Erzählers.
»Ian McEwan gilt als einer der besten britischen Autoren der Gegenwart.« Thomas David / Stern Stern
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2019Warum zerreißen Sie
Ihr Land?
Ian McEwans Brexit-Satire „Die Kakerlake“ kommt von
Herzen – und ist doch ein Rohrkrepierer
VON ALEXANDER MENDEN
Als der insektoide Protagonist von Ian McEwans Erzählung „Die Kakerlake“ eines Morgens aus unruhigen Träumen erwacht, merkt er, dass er über Nacht zu einem Menschen mutiert ist. Um das Offensichtliche gleich auszusprechen: Ja, „Die Kakerlake“ ist ein Pastiche auf Franz Kafkas „Die Verwandlung“. Die Verwandlungsrichtung wird einfach umgedreht, und der Verwandelte heißt in Anlehnung an Gregor Samsa sogar Jim Sams.
Er ist, wie sich schnell herausstellt, Premierminister des Vereinigten Königreichs und fühlt sich in dieser Rolle rasch extrem wohl. Sams feuert hier einen Berater, leitet dort eine Kabinettssitzung (die Minister sind mehrheitlich ebenfalls verwandelte Kakerlaken) und hat rasch seine politischen Feinde ausgemacht, die sogenannten Vordreher.
Die Vordreher bekämpfen das von Sams’ Regierung vertretene politische Programm, den „Reversalismus“, ein Wirtschaftssystem, das den Geldfluss umkehrt: Angestellte zahlen am Ende des Monats ihrem Arbeitgeber Lohn, wer viel ausgibt, wird besonders wohlhabend. Wie zu erwarten, isoliert Großbritannien sich zunehmend global. Nur ein instabiler, twitterbesessener US-Präsident – wohl ebenfalls ein Kakerlaken-Upgrade – verspricht seine Unterstützung.
Ian McEwan hat nie einen Hehl aus seiner tiefen Abneigung gegen den Brexit und die regierende Tory-Partei gemacht, und diese schmale Brexit-Satire, denn nichts anderes ist „Die Kakerlake“, kommt unverkennbar von Herzen. McEwan ersetzt durch die schwachsinnige Philosophie des Reversalismus den Brexit als Ursache der nationalen Spaltung, herbeigeführt in einem Referendum, in dem sich eine Allianz „aus armen Arbeitern und den alten Menschen aller Gesellschaftsschichten“ als Reversalisten-Mehrheit herauskristallisierte. Die Vordreher stehen für die Remainer-Fraktion, die Reversalisten für die Brexiteers.
Ian McEwan ist nicht der erste britische Autor, der sich in gesellschaftssatirischer Absicht dem Brexit nähert; Jonathan Coe etwa hat es jüngst in seinem Roman „Little England“ mit einer breit angelegten, eher analytischen Bestandsaufnahme versucht. Dass McEwan selbst sich nach wie vor klug zu Fragen der Gegenwart zu äußern weiß, bewies er in diesem Jahr mit seiner hochrelevanten KI-Story „Maschinen wie ich“. Sein Ansatz in „Die Kakerlake“ ist allerdings weit rabiater, man könnte auch sagen: weit platter.
Zunächst einmal fehlen jene Aspekte, die Kafkas Erzählung wirkungsvoll und bei allem Surrealismus nachvollziehbar machen – wie reagiert, kommuniziert, überlebt ein Mensch, der plötzlich ein Insekt ist? Abgesehen von der Verachtung für Boris Johnson, die aus der alles andere als unproblematischen Gleichsetzung mit einem ekelerregenden Tier spricht, bleibt die Verwandlung ein schaler Gag: Politiker, die uns allen dermaßen schaden, können tief drinnen keine Menschen sein. Mehr holt McEwan aus der absurden Ausgangssituation kaum heraus. Übrigens gestaltet der Autor die Pseudonyme, die er den schlimmsten Brexit-Kakerlaken zugewiesen hat, bewusst leicht durchschaubar – so ist Minister Trevor Gott, ein Wesen mit „ausdruckslosem Blick“, offenkundig Michael Gove nachempfunden.
„Vor kaum vierzig Jahren waren wir in dieser Stadt noch eine Randgruppe, Zielscheibe von Spott und Hohn“, proklamiert Sams in einer Grundsatzrede. „Aber wir sind unseren Prinzipien treu geblieben, und langsam zuerst, dann mit wachsendem Tempo, hat unsere Denkungsart um sich gegriffen. Von unserem Leitgedanken sind wir nie abgerückt: Wir haben immer im Eigeninteresse gehandelt.“
Diese stolze Selbstbezichtigung belegt, wie fehlgeleitet Ian McEwans Ansatz ist. Ein offenes Bekenntnis zur Selbstsucht ist das genaue Gegenteil der tatsächlichen Eigenwahrnehmung der Tories. Vielmehr hat gerade deren eklatanter Mangel an Selbstreflexion, ihr klassengesteuertes Anspruchsdenken, zur gegenwärtigen Katastrophe geführt.
Angela Merkel, sagte McEwan kürzlich, sei für ihn eine „Heldin der offenen Gesellschaft“. Wenig überraschend also, dass er Merkel bei einem Vieraugengespräch mit dem Kakerlaken-Premier die so vernünftige wie verzweifelte Frage in den Mund legt: „Warum, zu welchem Zweck, zerreißen Sie Ihr Land. Warum behelligen Sie Ihre besten Freunde mit diesen Forderungen und führen sich auf, als seien wir Ihre Feinde? Warum?“ Sams kann darauf nur „weil“ („because“) erwidern. Eine Antwort, aus der sowohl die Hohlheit der Brexit-Agenda spricht, als auch McEwans eigene Ratlosigkeit angesichts der absehbaren Folgen.
Inhaltlich dürfte McEwan bei den meisten seiner Leser offene Türen einrennen. So leicht es aber fällt, seiner Grundhaltung zuzustimmen, so schwer ist es, dem Buch Humor oder Schärfe abzutrotzen. Bisher, das beweist auch dieser Rohrkrepierer, hohnlacht der groteske, delirierende Akt nationaler Selbstverstümmelung namens Brexit jeder Satire. Diese Funktion übernimmt derzeit die Realität gleich mit.
Ian McEwan: Die Kakerlake. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes Verlag, Zürich 2019. 144 Seiten, 19 Euro.
Die Verwandlung in ein
ekelerregendes Tier
bleibt ein schaler Gag
Der Mensch, heißt es, sei ein politisches Tier: Boris Johnson im Wahlkampf.
Foto: Andrew Parsons / i-Images / laif
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ihr Land?
Ian McEwans Brexit-Satire „Die Kakerlake“ kommt von
Herzen – und ist doch ein Rohrkrepierer
VON ALEXANDER MENDEN
Als der insektoide Protagonist von Ian McEwans Erzählung „Die Kakerlake“ eines Morgens aus unruhigen Träumen erwacht, merkt er, dass er über Nacht zu einem Menschen mutiert ist. Um das Offensichtliche gleich auszusprechen: Ja, „Die Kakerlake“ ist ein Pastiche auf Franz Kafkas „Die Verwandlung“. Die Verwandlungsrichtung wird einfach umgedreht, und der Verwandelte heißt in Anlehnung an Gregor Samsa sogar Jim Sams.
Er ist, wie sich schnell herausstellt, Premierminister des Vereinigten Königreichs und fühlt sich in dieser Rolle rasch extrem wohl. Sams feuert hier einen Berater, leitet dort eine Kabinettssitzung (die Minister sind mehrheitlich ebenfalls verwandelte Kakerlaken) und hat rasch seine politischen Feinde ausgemacht, die sogenannten Vordreher.
Die Vordreher bekämpfen das von Sams’ Regierung vertretene politische Programm, den „Reversalismus“, ein Wirtschaftssystem, das den Geldfluss umkehrt: Angestellte zahlen am Ende des Monats ihrem Arbeitgeber Lohn, wer viel ausgibt, wird besonders wohlhabend. Wie zu erwarten, isoliert Großbritannien sich zunehmend global. Nur ein instabiler, twitterbesessener US-Präsident – wohl ebenfalls ein Kakerlaken-Upgrade – verspricht seine Unterstützung.
Ian McEwan hat nie einen Hehl aus seiner tiefen Abneigung gegen den Brexit und die regierende Tory-Partei gemacht, und diese schmale Brexit-Satire, denn nichts anderes ist „Die Kakerlake“, kommt unverkennbar von Herzen. McEwan ersetzt durch die schwachsinnige Philosophie des Reversalismus den Brexit als Ursache der nationalen Spaltung, herbeigeführt in einem Referendum, in dem sich eine Allianz „aus armen Arbeitern und den alten Menschen aller Gesellschaftsschichten“ als Reversalisten-Mehrheit herauskristallisierte. Die Vordreher stehen für die Remainer-Fraktion, die Reversalisten für die Brexiteers.
Ian McEwan ist nicht der erste britische Autor, der sich in gesellschaftssatirischer Absicht dem Brexit nähert; Jonathan Coe etwa hat es jüngst in seinem Roman „Little England“ mit einer breit angelegten, eher analytischen Bestandsaufnahme versucht. Dass McEwan selbst sich nach wie vor klug zu Fragen der Gegenwart zu äußern weiß, bewies er in diesem Jahr mit seiner hochrelevanten KI-Story „Maschinen wie ich“. Sein Ansatz in „Die Kakerlake“ ist allerdings weit rabiater, man könnte auch sagen: weit platter.
Zunächst einmal fehlen jene Aspekte, die Kafkas Erzählung wirkungsvoll und bei allem Surrealismus nachvollziehbar machen – wie reagiert, kommuniziert, überlebt ein Mensch, der plötzlich ein Insekt ist? Abgesehen von der Verachtung für Boris Johnson, die aus der alles andere als unproblematischen Gleichsetzung mit einem ekelerregenden Tier spricht, bleibt die Verwandlung ein schaler Gag: Politiker, die uns allen dermaßen schaden, können tief drinnen keine Menschen sein. Mehr holt McEwan aus der absurden Ausgangssituation kaum heraus. Übrigens gestaltet der Autor die Pseudonyme, die er den schlimmsten Brexit-Kakerlaken zugewiesen hat, bewusst leicht durchschaubar – so ist Minister Trevor Gott, ein Wesen mit „ausdruckslosem Blick“, offenkundig Michael Gove nachempfunden.
„Vor kaum vierzig Jahren waren wir in dieser Stadt noch eine Randgruppe, Zielscheibe von Spott und Hohn“, proklamiert Sams in einer Grundsatzrede. „Aber wir sind unseren Prinzipien treu geblieben, und langsam zuerst, dann mit wachsendem Tempo, hat unsere Denkungsart um sich gegriffen. Von unserem Leitgedanken sind wir nie abgerückt: Wir haben immer im Eigeninteresse gehandelt.“
Diese stolze Selbstbezichtigung belegt, wie fehlgeleitet Ian McEwans Ansatz ist. Ein offenes Bekenntnis zur Selbstsucht ist das genaue Gegenteil der tatsächlichen Eigenwahrnehmung der Tories. Vielmehr hat gerade deren eklatanter Mangel an Selbstreflexion, ihr klassengesteuertes Anspruchsdenken, zur gegenwärtigen Katastrophe geführt.
Angela Merkel, sagte McEwan kürzlich, sei für ihn eine „Heldin der offenen Gesellschaft“. Wenig überraschend also, dass er Merkel bei einem Vieraugengespräch mit dem Kakerlaken-Premier die so vernünftige wie verzweifelte Frage in den Mund legt: „Warum, zu welchem Zweck, zerreißen Sie Ihr Land. Warum behelligen Sie Ihre besten Freunde mit diesen Forderungen und führen sich auf, als seien wir Ihre Feinde? Warum?“ Sams kann darauf nur „weil“ („because“) erwidern. Eine Antwort, aus der sowohl die Hohlheit der Brexit-Agenda spricht, als auch McEwans eigene Ratlosigkeit angesichts der absehbaren Folgen.
Inhaltlich dürfte McEwan bei den meisten seiner Leser offene Türen einrennen. So leicht es aber fällt, seiner Grundhaltung zuzustimmen, so schwer ist es, dem Buch Humor oder Schärfe abzutrotzen. Bisher, das beweist auch dieser Rohrkrepierer, hohnlacht der groteske, delirierende Akt nationaler Selbstverstümmelung namens Brexit jeder Satire. Diese Funktion übernimmt derzeit die Realität gleich mit.
Ian McEwan: Die Kakerlake. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes Verlag, Zürich 2019. 144 Seiten, 19 Euro.
Die Verwandlung in ein
ekelerregendes Tier
bleibt ein schaler Gag
Der Mensch, heißt es, sei ein politisches Tier: Boris Johnson im Wahlkampf.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Sylvia Staude kann ja verstehen, dass Ian McEwan seinem Zorn auf den Brexit-Irrsinn möglichst rasch Luft machen wollte. Das Ergebnis ist laut Staude jedoch leider eine Satire, der es an Biss fehlt, die mit dem Hammer statt mit dem Florett zuschlägt und Kafkas Erzählung auf Hohn und politischen Spott eindampft (Brexiteers als Kakerlaken, na ja). McEwans Bitterkeit führt sogar dazu, dass seinem Buch die innere Logik abgeht, stellt Staude beinahe erschrocken fest. Kein großer Wurf, findet sie, bloß ein schneller.
© Perlentaucher Medien GmbH
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