Ketzer werden gemacht. Das Hochmittelalter hat die Ketzer als ein Mittel erfunden, um Gegner zu religiösen Abweichlern zu stempeln. Sie gehen nicht nur des eigenen Heils verlustig, sondern bedrohen als eine ansteckende Krankheit auch alle übrigen Gläubigen. Nur ihre Vernichtung durch Feuer kann die Epidemie wirkungsvoll beseitigen. Dazu muß man die Ketzer mit einer speziell ausgebildeten Untersuchungseinheit aufspüren, der Inquisition. Bis zur Einrichtung dieses Verfahrens um 1200 und zu seiner Anwendung auf Laien ab 1231 war es ein weiter Weg. Dieses Buch beschreibt die Geschichte der «Ketzer» im Zusammenhang mit einer Religionsgeschichte des Hochmittelalters. Es zeigt, wie sich im religiösen Aufbruch der Zeit der Kreuzzüge und der entstehenden Stadtkultur zahlreiche religiöse Gruppen, Orden und Bewegungen in einer bisher nicht gekannten Vielfalt bildeten. Die Suche nach neuen Leitbildern veränderte die Religion des Mittelalters grundlegend. Auf der anderen Seite schuf eine mächtige religiöse Zentrale neue Normen und entwickelte wirksame Instrumente zu ihrer rücksichtslosen Durchsetzung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.2005In jeder Wahrheit steckt ein Fünkchen Häresie
Der Ketzer als Erfindung des Hochmittelalters: Christoph Auffarth beschreibt den Umgang des Abendlandes mit religiösen Dissidenten
Ketzer haben heute im Abendland keine Konjunktur. In einer Zeit, in der Küng mit dem Papst diniert und selbst Theaterregisseure sich verzweifelt darum bemühen, gegen eine künstlerische Orthodoxie zu verstoßen, während das Publikum sich nur gähnend in den Theatersesseln lümmelt, ist für Häretiker kein Platz mehr. Die Exzentriker tummeln sich zuhauf in der Neuen Mitte, und an den Rändern bleiben die Vertreter einer veralteten Orthodoxie.
Woher kommt dann das ungebrochene Interesse an Ketzern vergangener Zeiten? Oft speist es sich aus einem alten Vorurteil über die Kirche, die fromm tue, aber in ihren staubigen Schränken und kühlen Kellern allerlei Skelette verborgen habe, die es zu entrümpeln gelte. Bisweilen verbindet sich dieses Vorurteil mit der These, die Kirche habe befürchtet, ihr Macht- und Deutungsmonopol zu verlieren, und habe sich darum gegen den freidenkerischen Fortschritt gestemmt. Bei manchem mischt sich schließlich darein die Hoffnung, die Institution der Kleriker habe in ihrem Eifer, Häretisches auszurotten, geheime Überlieferungen und Traditionen übersehen, die uns mit der archaischen Wahrheit versunkener Welten verbinden und die es wiederzuentdecken gelte.
Wer heute über "Ketzer" schreibt, noch dazu unter diesem Titel, muß sich genau überlegen, wie er mit dieser populären Erwartung umgeht. Der Bremer Religionswissenschaftler Christoph Auffarth bedient die Vorurteile nicht. Ketzer, so seine These, seien eine "Erfindung" des Hochmittelalters. Schlüsselfigur ist ihm Papst Gregor VII. (1073 bis 1085), der nicht nur einer der Protagonisten im Investiturstreit ist, sondern entscheidend zu einer "fundamentalen Veränderung der Religion des Mittelalters" beigetragen habe. Vor Gregor sei das Christentum eine "Symbiose von Heilserwerbern und Lebensunterhaltern", von Priestern und Mönchen auf der einen und Laien auf der anderen Seite gewesen.
Mit Gregor habe sich die Kirche in eine "Körperschaft ausschließlich der Priester und Mönche" verwandelt, die "dem Papst in Rom zum Gehorsam verpflichtet" gewesen seien. Dem Papsttum dieser Zeit sei es um eine "Professionalisierung der Religion" mit Rom als Mittelpunkt gegangen, und man habe sich von lokalen Fürsten unabhängig machen wollen: Aus der dezentralen Kirche der Bischöfe wurde die romzentrierte Papstkirche. Gleichzeitig habe das Papsttum mit dem Kreuzzugsgedanken den alten Weg des Heilserwerbs durch Wallfahrten für die Laien erheblich erweitert und damit das traditionelle Mönchtum entmachtet, indem es die Ritterschaft als "Soldaten Christi" den herkömmlichen "Kämpfern für das Heil", den Mönchen, faktisch gleichstellte.
Laienbewegungen, aber auch konservative Priester hätten an dieser Entwicklung Kritik geübt und zur Reform der Kirche aufgerufen, worauf die kirchliche Hierarchie mit der Marginalisierung, Verurteilung und letztlich teilweiser Vernichtung dieser Strömungen reagiert habe. Dieser Prozeß wird von Auffarth eingehend geschildert, wobei die "üblichen Verdächtigen" wie Katharer und Waldenser hinreichend berücksichtigt werden.
Auffarth ist ein Kenner der Thematik im Mittelalter, und er schildert die Geschichte der Ketzer auf dem neuesten Forschungsstand. Allerdings ist seine Perspektive ein wenig auf diese Epoche verengt. So ist die Kernthese, das mittelalterliche Papsttum habe die Ketzer erfunden, überraschend. Das mag im Hinblick auf die Etymologie des deutschen Begriffes (der sich offenbar von den Katharern ableitet) stimmen - sachlich gab es aber "haeretici" bereits in der Antike, angefangen von den Ketzerkatalogen des Hippolyt von Rom und des Epiphanios von Salamis und den synodalen Verurteilungen des Paulus von Samosata und des "Häresiarchen" Arius im dritten und vierten Jahrhundert.
Anfangs gingen solche Verurteilungen durch (kaiserliche) Verbannung an irgendwelche unwirtlichen Orte vergleichsweise glimpflich ab. Die erste bekannte Hinrichtung eines Ketzers dürfte die des spanischen Asketen und Kirchenkritikers Priscillian durch den Usurpator Magnus Maximus im Jahre 385 in Trier sein - trotz des Protestes des heiligen Martin von Tours. Häretikern rückte man aber bereits seit der Zeit Theodosius' des Großen (379 bis 395) in größerem Umfang mit Konfiskationen und anderen Unannehmlichkeiten massiv zu Leibe.
Seit sich auf den ersten vier Ökumenischen Konzilien eine reichsweite Orthodoxie in Fragen der Trinitätslehre und der Christologie herausgebildet hatte, konnte es bereits in der Spätantike erhebliche Folgen haben, wenn man den Bekenntnisstand allzu offensichtlich in Frage stellte. Das gilt nicht nur für den Westen, wie Auffarth meint, sondern auch für den byzantinischen Staat, der mit Abweichlern nicht zimperlich umgegangen ist, denkt man etwa an die Paulikianer oder Bogomilen. Daß es im Judentum kein Ketzertum gegeben habe, wie Auffarth behauptet, ist angesichts der Existenz des Begriffes der "minim" und dessen praktischer Anwendung ebenfalls kaum richtig - allerdings fielen die Gegenmaßnahmen nicht so massiv aus.
Was den Umgang mit religiösen Dissidenten im Abendland des Mittelalters auszeichnete, war die Verketzerung und systematische Verfolgung großer Volksgruppen und die blutige Unterdrückung von religiösen Dissidenten durch eine eigens dafür eingerichtete kirchliche Behörde, die Inquisition. Deren Vorgehensweise wird man im einzelnen differenziert betrachten müssen, aber es kann kein Zweifel daran bestehen, daß hier Gewalt gegen Andersgläubige biblisch gerechtfertigt wurde.
Auffarth hält sich auffällig bedeckt bei der Beschreibung und der Beurteilung der involvierten theologischen Probleme. Man wird vielleicht sorgfältiger unterscheiden müssen zwischen den (in der Tat unorthodoxen) theologischen Auffassungen einiger der in diesem Büchlein behandelten Gruppen, zu denen auch die Katharer zählen, und der Frage der Lösung theologischer Konflikte. Die apodiktische Behauptung, es gebe "keine inhaltlichen Maßstäbe", um Ketzer von Nichtketzern zu unterscheiden, läßt die Frage unbeantwortet, warum es der Religionswissenschaftler nicht wenigstens versucht. Keineswegs ist dies nur eine Aufgabe von Theologen - auch vermeintlich "neutral" arbeitende Religionswissenschaftler könnten überlegen, ob durch bestimmte Lehren die Identität einer Religion nicht im Kern getroffen wird und dementsprechend nicht unwidersprochen bleiben kann, will diese Religion nicht ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. Die Kirchen sind immer dort gut beraten gewesen, wo sie - ganz im Sinne ihres Gründers - bis aufs äußerste versucht haben, diese Konflikte durch theologische Auseinandersetzung friedlich zu lösen. Das ist zwar der mühsamere Weg; er verspricht aber den reicheren Lohn.
WOLFRAM KINZIG
Christoph Auffarth: "Die Ketzer". Katharer, Waldenser und andere religiöse Bewegungen. Verlag C.H. Beck, München 2005. 128 S., br., 7,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Ketzer als Erfindung des Hochmittelalters: Christoph Auffarth beschreibt den Umgang des Abendlandes mit religiösen Dissidenten
Ketzer haben heute im Abendland keine Konjunktur. In einer Zeit, in der Küng mit dem Papst diniert und selbst Theaterregisseure sich verzweifelt darum bemühen, gegen eine künstlerische Orthodoxie zu verstoßen, während das Publikum sich nur gähnend in den Theatersesseln lümmelt, ist für Häretiker kein Platz mehr. Die Exzentriker tummeln sich zuhauf in der Neuen Mitte, und an den Rändern bleiben die Vertreter einer veralteten Orthodoxie.
Woher kommt dann das ungebrochene Interesse an Ketzern vergangener Zeiten? Oft speist es sich aus einem alten Vorurteil über die Kirche, die fromm tue, aber in ihren staubigen Schränken und kühlen Kellern allerlei Skelette verborgen habe, die es zu entrümpeln gelte. Bisweilen verbindet sich dieses Vorurteil mit der These, die Kirche habe befürchtet, ihr Macht- und Deutungsmonopol zu verlieren, und habe sich darum gegen den freidenkerischen Fortschritt gestemmt. Bei manchem mischt sich schließlich darein die Hoffnung, die Institution der Kleriker habe in ihrem Eifer, Häretisches auszurotten, geheime Überlieferungen und Traditionen übersehen, die uns mit der archaischen Wahrheit versunkener Welten verbinden und die es wiederzuentdecken gelte.
Wer heute über "Ketzer" schreibt, noch dazu unter diesem Titel, muß sich genau überlegen, wie er mit dieser populären Erwartung umgeht. Der Bremer Religionswissenschaftler Christoph Auffarth bedient die Vorurteile nicht. Ketzer, so seine These, seien eine "Erfindung" des Hochmittelalters. Schlüsselfigur ist ihm Papst Gregor VII. (1073 bis 1085), der nicht nur einer der Protagonisten im Investiturstreit ist, sondern entscheidend zu einer "fundamentalen Veränderung der Religion des Mittelalters" beigetragen habe. Vor Gregor sei das Christentum eine "Symbiose von Heilserwerbern und Lebensunterhaltern", von Priestern und Mönchen auf der einen und Laien auf der anderen Seite gewesen.
Mit Gregor habe sich die Kirche in eine "Körperschaft ausschließlich der Priester und Mönche" verwandelt, die "dem Papst in Rom zum Gehorsam verpflichtet" gewesen seien. Dem Papsttum dieser Zeit sei es um eine "Professionalisierung der Religion" mit Rom als Mittelpunkt gegangen, und man habe sich von lokalen Fürsten unabhängig machen wollen: Aus der dezentralen Kirche der Bischöfe wurde die romzentrierte Papstkirche. Gleichzeitig habe das Papsttum mit dem Kreuzzugsgedanken den alten Weg des Heilserwerbs durch Wallfahrten für die Laien erheblich erweitert und damit das traditionelle Mönchtum entmachtet, indem es die Ritterschaft als "Soldaten Christi" den herkömmlichen "Kämpfern für das Heil", den Mönchen, faktisch gleichstellte.
Laienbewegungen, aber auch konservative Priester hätten an dieser Entwicklung Kritik geübt und zur Reform der Kirche aufgerufen, worauf die kirchliche Hierarchie mit der Marginalisierung, Verurteilung und letztlich teilweiser Vernichtung dieser Strömungen reagiert habe. Dieser Prozeß wird von Auffarth eingehend geschildert, wobei die "üblichen Verdächtigen" wie Katharer und Waldenser hinreichend berücksichtigt werden.
Auffarth ist ein Kenner der Thematik im Mittelalter, und er schildert die Geschichte der Ketzer auf dem neuesten Forschungsstand. Allerdings ist seine Perspektive ein wenig auf diese Epoche verengt. So ist die Kernthese, das mittelalterliche Papsttum habe die Ketzer erfunden, überraschend. Das mag im Hinblick auf die Etymologie des deutschen Begriffes (der sich offenbar von den Katharern ableitet) stimmen - sachlich gab es aber "haeretici" bereits in der Antike, angefangen von den Ketzerkatalogen des Hippolyt von Rom und des Epiphanios von Salamis und den synodalen Verurteilungen des Paulus von Samosata und des "Häresiarchen" Arius im dritten und vierten Jahrhundert.
Anfangs gingen solche Verurteilungen durch (kaiserliche) Verbannung an irgendwelche unwirtlichen Orte vergleichsweise glimpflich ab. Die erste bekannte Hinrichtung eines Ketzers dürfte die des spanischen Asketen und Kirchenkritikers Priscillian durch den Usurpator Magnus Maximus im Jahre 385 in Trier sein - trotz des Protestes des heiligen Martin von Tours. Häretikern rückte man aber bereits seit der Zeit Theodosius' des Großen (379 bis 395) in größerem Umfang mit Konfiskationen und anderen Unannehmlichkeiten massiv zu Leibe.
Seit sich auf den ersten vier Ökumenischen Konzilien eine reichsweite Orthodoxie in Fragen der Trinitätslehre und der Christologie herausgebildet hatte, konnte es bereits in der Spätantike erhebliche Folgen haben, wenn man den Bekenntnisstand allzu offensichtlich in Frage stellte. Das gilt nicht nur für den Westen, wie Auffarth meint, sondern auch für den byzantinischen Staat, der mit Abweichlern nicht zimperlich umgegangen ist, denkt man etwa an die Paulikianer oder Bogomilen. Daß es im Judentum kein Ketzertum gegeben habe, wie Auffarth behauptet, ist angesichts der Existenz des Begriffes der "minim" und dessen praktischer Anwendung ebenfalls kaum richtig - allerdings fielen die Gegenmaßnahmen nicht so massiv aus.
Was den Umgang mit religiösen Dissidenten im Abendland des Mittelalters auszeichnete, war die Verketzerung und systematische Verfolgung großer Volksgruppen und die blutige Unterdrückung von religiösen Dissidenten durch eine eigens dafür eingerichtete kirchliche Behörde, die Inquisition. Deren Vorgehensweise wird man im einzelnen differenziert betrachten müssen, aber es kann kein Zweifel daran bestehen, daß hier Gewalt gegen Andersgläubige biblisch gerechtfertigt wurde.
Auffarth hält sich auffällig bedeckt bei der Beschreibung und der Beurteilung der involvierten theologischen Probleme. Man wird vielleicht sorgfältiger unterscheiden müssen zwischen den (in der Tat unorthodoxen) theologischen Auffassungen einiger der in diesem Büchlein behandelten Gruppen, zu denen auch die Katharer zählen, und der Frage der Lösung theologischer Konflikte. Die apodiktische Behauptung, es gebe "keine inhaltlichen Maßstäbe", um Ketzer von Nichtketzern zu unterscheiden, läßt die Frage unbeantwortet, warum es der Religionswissenschaftler nicht wenigstens versucht. Keineswegs ist dies nur eine Aufgabe von Theologen - auch vermeintlich "neutral" arbeitende Religionswissenschaftler könnten überlegen, ob durch bestimmte Lehren die Identität einer Religion nicht im Kern getroffen wird und dementsprechend nicht unwidersprochen bleiben kann, will diese Religion nicht ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. Die Kirchen sind immer dort gut beraten gewesen, wo sie - ganz im Sinne ihres Gründers - bis aufs äußerste versucht haben, diese Konflikte durch theologische Auseinandersetzung friedlich zu lösen. Das ist zwar der mühsamere Weg; er verspricht aber den reicheren Lohn.
WOLFRAM KINZIG
Christoph Auffarth: "Die Ketzer". Katharer, Waldenser und andere religiöse Bewegungen. Verlag C.H. Beck, München 2005. 128 S., br., 7,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zufrieden zeigt sich Rezensent Wolfram Kinzig mit Christoph Auffarths Buch über den Umgang des Abendlandes mit religiösen Dissidenten. Er würdigt den Autor als "Kenner der Thematik im Mittelalter". Seine Geschichte der Ketzer befindet sich nach Ansicht Kinzigs auf dem neuesten Stand der Forschung. Allerdings moniert er an dem Buch eine Verengung der Perspektive auf das Mittelalter. Auffarths Kernthese, die Ketzer seien eine Erfindung des mittelalterlichen Papsttums, wertet Kinzig als "überraschend". Im Blick auf die Etymologie des deutschen Begriffes gibt er dem Autor zwar recht, sachlich aber habe es Ketzer bereits in der Antike gegeben. Auch was die Beschreibung der involvierten theologischen Probleme betrifft, hätte sich Kinzig etwas mehr gewünscht. Hier halte sich Auffarth "auffällig bedeckt".
© Perlentaucher Medien GmbH
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