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Drift ins Irreale: Erzählungen des Österreichers Alois Hotschnig
Da will zum Beispiel Karl Freunde besuchen, aber landet bei deren Nachbarin, weil sie ihn, so meint er zunächst, verwechselt hat. Sie lädt ihn in ihr Heim ein. "Sie hielt eine Puppe im Arm, wie ein Kind, damit ging sie auf mich zu und nahm mich an der Hand und sah mir verlegen und nicht ohne Stolz in die Augen, dann führte sie mich zum Sofa, auf das sie sich setzte, und bat mich, dasselbe zu tun. Ich setzte mich auf den Stuhl gegenüber und wußte nicht, wie ich jemals wieder wegkommen sollte von dort. Das ist Karl, sagte sie und fuhr der Puppe behutsam durchs Haar, und unwillkürlich strich ich mir mit derselben Bewegung die Haare aus der Stirn."
Die alte Dame hat aber nicht nur eine Karl-Puppe, sie beherbergt ganze Puppenregimenter. Elly befindet sich da, und Gerda, und Anny, und noch viele andere in unterschiedlichen Erhaltungszuständen. In diesem Falle erzählt Karl die Geschichte der Puppenfee, soweit er sie miterlebt. Irgendwann beginnt er dann, mit den Puppen, ihren Kindern, wie die Nachbarin sie nennt, zu verschmelzen.
"Eine Tür geht dann auf und fällt zu" ist nur eine von neun Kurzgeschichten aus Alois Hotschnigs Sammlung "Die Kinder beruhigte das nicht". Allen gemeinsam ist ein verstörender Grundton, ein leichtes Abdriften ins Irreale. Aus scheinbar Alltäglichem entwickelt Hotschnig hier Situationen, die seine Protagonisten, aber auch den Leser in Unruhe versetzen. Es wird nie ganz klar, ob sich die Welt in Verwerfungen wiederfindet oder ob die Helden seiner Schilderungen den Verstand verlieren.
Seit der 1959 geborene Hotschnig dreißigjährig mit seiner Erzählung "Aus" an die Öffentlichkeit trat, wurde er in schöner Regelmäßigkeit ausgezeichnet, 1992 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, Anna-Seghers-Preis oder, vor vier Jahren, mit dem Italo-Svevo-Preis. Anders als in seinen Romanen "Leonardos Hände" (1992) und "Ludwigs Zimmer" (2000) bieten die kurzen Passagen in dieser Auswahl kaum Möglichkeiten, tiefer verborgene (Familien-)Geheimnisse auch nur anzudeuten. Was in epischer Form funktionieren mag, hat berechtigterweise im Zehnseiter keinen Raum. Obwohl er also bewußt auf ein liebgewonnenes Spiel verzichtet, bleibt sein lakonischer Stil allemal erkennbar. In langen, gerne durch Bindewörter verbundenen Reihensätzen beschreibt er Befindlichkeiten und Beobachtungen, die bezeugen, daß die Welt zumindest für Hotschnigs Helden ein bißchen aus dem Lot gerät. Wenn diese Veränderungen nicht genau faßbar werden, dient dies der Atmosphäre um so mehr. Der Zustand einer Gartenumzäunung und übliche Vermerke über Dosierung einer Arznei auf einem Rezept bekommen dann schon mal in der Wahrnehmung des Lesers ihre eigene Bedeutung ("morgens, mittags, abends").
Die Geschichten sind unspektakulär und ruhig, ein oder zwei davon bleiben wahrscheinlich längere Zeit im Gedächtnis und spuken vielleicht noch länger in der unbewußten Erinnerung herum, aber eher nicht so lange, wie das Warten auf Onkel Walter nun schon andauert. Anders als Godot haben den zumindest schon ein paar Menschen gesehen, versichert Alois Hotschnig ("vielleicht diesmal, vielleicht jetzt").
MARTIN LHOTZKY
Alois Hotschnig: "Die Kinder beruhigte das nicht". Erzählungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 127 S., geb., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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