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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Mit Kindern Kasse machen in den sozialen Medien: Delphine de Vigans Gesellschaftskritik als Roman
Wieder mitten rein in die Schlammgrube der Gegenwart: Delphine de Vigans aktueller Roman, "Die Kinder sind Könige", nimmt sich wie seine Vorgänger ein aktuelles Problemthema vor. Diesmal geht es um Eltern, die ihre Kinder auf Youtube und Instagram exponieren, ausbeuten, verheizen. Konkret: Mélanie Claux und ihre Lieben, also der Ehemann Bruno Diore und die Kinder Sammy (acht Jahre, männlich) sowie Kimmy (sechs Jahre, weiblich). Die dürfen (Werbe-)Geschenke auspacken, Gags aufzeichnen, dümmliche Herausforderungen annehmen - alles mit dem Ziel, den Kanal Happy Récré (Happy Pause) im Bereich von fünf Millionen Abonnenten zu halten. Dass die lieben Kleinen nie die Chance hatten zu lernen, dass sie das eigentlich gar nicht wollen, ist die ganze Tragik der Geschichte.
Aufgezogen ist der Roman als Krimi: Eines schönen Tages im Jahre 2019 verschwindet Kimmy beim Versteckspielen. Angesichts von Jahreseinkünften jenseits der Million liegt eine Entführung nahe; tatsächlich geht kurz darauf eine Lösegeldforderung ein, die sich freilich als Scherz herausstellt. Eine Zeit lang verlaufen alle Spuren im Sand; die von Kimmy endet in der Tiefgarage, aus der irgendein roter Allerweltskleinwagen sie entführt haben muss. Schließlich treffen Botschaften des echten Entführers ein: Sie sind ernster, aber auch kryptischer, die Vorgänge werden mysteriöser - bis sich die Sache von allein zu lösen scheint.
Die Handlung wird aus zwei Perspektiven entwickelt: derjenigen von Mélanie Claux, die ernsthaft glaubt, mit ihren Followern in einer spirituell-emotionalen Gemeinschaft zu leben; den Profit nimmt sie gern und gierig mit, ihre eigentlichen Ziele sind jedoch Aufmerksamkeit und Liebe. Und derjenigen von Clara Roussel, "procédurière" bei der Kriminalpolizei und als solche für Dokumentation, Formalia und Kommunikation bei Ermittlungen zuständig. Die beiden Frauen sind als Gegensätze entworfen. Mélanie gibt die erfüllte Familienmutter, innere Leere kompensiert sie durch den emotionalen Kokon sozialer Medien. "Inzwischen jedoch waren die Likes, die Herzchen, der virtuelle Applaus zu ihrem Motor, zu ihrem Lebenszweck geworden: so etwas wie die Rendite einer emotionalen und effektiven Investition, auf die sie nicht verzichten konnte." Clara hingegen ist eine Einzelgängerin; die kleine, präzise und charismatische Frau stammt aus einer politisch links engagierten Familie. Sie blickt kritisch auf das Geschehen und hat eindeutig die Sympathie der Autorin.
Denn dass die mediale Exposition des Intimsten ein Verbrechen an den Kindern ist, daran lässt Vigan keinen Zweifel. Man kann ihr nur zustimmen: Es ist unverständlich, dass Eltern meinen, ihren Kindern damit etwas Gutes zu tun, wie der zynische Titel des Buches, der ein Selbstlob Mélanies zitiert, nahelegt. Leider hat die fiktive Figur reale Entsprechungen zuhauf: Als ob Chancen auf Verdienst und eine Influencerkarriere es wert wären, das Privatleben Minderjähriger zu opfern, ja den Kindern von vorneherein jedes Gefühl von Geborgenheit und sinnvoller Grenzziehung vorzuenthalten. Vigan begnügt sich nicht mit der Anklage, sondern präsentiert die Handlung als Abschnitt einer größeren Mediengeschichte. In einer Art Prolog, der im Jahr 2001 spielt, führt sie Mélanie und Clara als Konsumentinnen prägender Medienformate ein, nämlich Reality-Fernsehshows im Stil von "Big Brother" (französisch: Loft Story). Der Epilog hingegen spielt 2031 und zeigt die Folgeschäden bei den nunmehr erwachsenen Youtube-Kinder-Stars auf: Sammy ist ein Fall für die Psychiatrie, während Kimmy um ihr Leben und gegen ihre Mutter kämpft.
Der Roman macht eine Verlustrechnung auf, der nur Nerds und Werbeprofis widersprechen werden. Er warnt vor zu großer Hoffnung auf den Gesetzgeber, indem er die Möglichkeiten skrupelloser Eltern zeigt, Regelungen zu umgehen. Er spendet dennoch etwas Trost, indem er die Rabenmutter Mélanie vor die Trümmer ihres Lebens setzt: Balsam für leidende Leserseelen. Natürlich dient die Zerstörung ihres naiv-dreisten Lebenstraums als Lektion für alle Social-Media-Gläubigen, die es mal so richtig verdient haben. Vigan erzählt das spannend, aber mit relativ wenig Schadenfreude. Dennoch fragt sich der Leser mit jeder Seite dringlicher, ob "Die Kinder sind Könige" nicht allzu allegorisch ist.
Literatur sollte mehr zu beißen bieten als ein sprachlich und erzählerisch glatt durchkonjugiertes Exempel: So entsteht der Eindruck, dass sie zum transparenten - also: leblosen - Medium gesellschaftskritischer Überlegungen wird. In einem zweiten Schritt folgt die Frage, warum Vigan überhaupt den Roman wählt, wenn sie Themen wie Demenz, Alkoholismus oder Magersucht präsentiert. Ihre Texte sind illustrativ und bieten eine Minimaltherapie für zivilisationsmüde Leser, indem sie versichern, dass es eine positive Entwicklung gebe (in unserem Fall: kritischen Umgang mit Social Media) oder dass Gutes aus Leid erwachse. Nun mag man der Bibliotherapie, der Heilung durch Bücher, etwas abgewinnen; in der literaturwissenschaftlichen Forschung ist sie Modethema. Aber Texte, die darauf angelegt sind, überspringen die wichtige Etappe, ein eigengesetzliches Leben zu führen.
Anregend sind Vigans Romane, in ihren Positionen überzeugend, amüsant mitunter auch. Am Ende von "Die Kinder sind Könige" erlaubt die Autorin sich sogar eine paranoide Pointe, als sie andeutet, ein Schmetterling könnte eine Kamera tragen - Sammys Verfolgungswahn wäre berechtigt. Dennoch: Mit ihrer gut gemeinten Dienstbarmachung der Literatur arbeitet sie aktiv daran mit, die Widerständigkeiten unserer Welt zu schleifen. Zwar liefert Vigan noch keine Instagram-Kunst, aber Nützlichkeits- und Verwertungsdenken ist ihr leider nicht fremd. NIKLAS BENDER
Delphine de Vigan: "Die Kinder sind Könige". Roman.
Aus dem Französischen von Doris Heinemann. DuMont Verlag, Köln 2022. 318 S., geb., 23,- Euro.
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