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Geschlechterkritik o.k., aber ist es auch Literatur? Für Grace Paley war diese Frage zu bejahen. In "Die kleinen Widrigkeiten des Lebens" ist ihre Kurzprosa zu entdecken.
Wenn das Politische in der Dichtung überhandnimmt, wird es bekanntlich schnell verbiestert. Ganz deutlich zeigt sich dies in der engagierten Literatur der sechziger bis achtziger Jahre. Der angestrengt alarmierte Tonfall der Friedens- und Ökolyrik; die überzeichneten Geschlechterstereotype in der feministischen Literatur; nicht zuletzt der fragwürdige Kult um das Authentische im Dokumentarismus. So berechtigt sich die politischen Impulse der Autoren zum Teil immer noch ausnehmen, so gering ist häufig ihr Bemühen um Sprachästhetik, um Unterhaltung gar, vermutlich, weil sie gleichermaßen unter Verblendungsverdacht stehen. Umso erfrischender ist es sich da, wenn das literarische mit dem politischen Anliegen tatsächlich einmal Hand in Hand geht.
Grace Paley, 1922 als Tochter ukrainisch-jüdischer Einwanderer in New York geboren und 2007 als vielgerühmte Schriftstellerin im Bundesstaat Vermont verstorben, verkörpert die Verbindung von Literatur und Politik wie kaum eine andere Autorin der amerikanischen Literatur seit den sechziger Jahren. Als rastlose Aktivistin beteiligt sich Grace Paley in zahlreichen Foren der Bürgerrechts-, Friedens- und Frauenbewegung. Bei einer Sitzblockade auf der New Yorker Fifth Avenue gegen die Stationierung von Pershing-Raketen und Marschflugkörpern in Deutschland im Jahr 1966 sowie 1978 bei der Anbringung eines Anti-Atom-Banners auf dem Rasen des Weißen Hauses wird sie sogar kurzzeitig verhaftet.
Als Schriftstellerin, die ein eher schmales Werk hinterlässt, befasst sich Grace Paley in erster Linie mit dem zeitgenössischen Leben amerikanischer Frauen, jüdischer, in New York lebender Frauen zumal. Dass die Literatur gegenüber der Geschlechterkritik bei Grace Paley aber keineswegs ins Hintertreffen gerät, lässt sich auch an ihrer 1959 erstmals in Amerika veröffentlichten und nun von Sigrid Ruschmeier neu ins Deutsche übersetzten Kurzprosa erkennen.
Das Unbehagen der Geschlechter an- und miteinander umreißt hier Paley in immer neuen erzählerischen Kleinkonstellationen - psychologisch komplex, sprachlich frei von jeder Eitelkeit, immer wieder auch mit Komik. Dabei bewegen sich ihre Geschichten durchaus nicht jenseits der Geschlechterstereotype, stellen diese aber - eine der wichtigsten Einsichten der gender theory vorwegnehmend - als sprachlich geschaffene, gesellschaftlich hervorgebrachte und machtvoll wirksame Zuschreibungen aus.
Ihre Figuren verfügen indes nur selten über eine tiefer gehende Einsicht in die soziale Ordnung der Geschlechter. Die Storys erzählen eher vom Aushalten, vom Ertragen des Alltags im Amerika der fünfziger Jahre als von Bewusstwerdung, womöglich gar von Emanzipation. In einem Interview, das dem vorliegenden Band als Anhang beigegeben ist, belegte Grace Paley solche Zustände mit einem Leitbegriff der zeitgenössischen Kulturkritik: "Entfremdung".
Diese Entfremdung zeigt sich in der Erzählung "Ein Interesse am Leben" am Fall Virginias, einer mittellosen Mutter von vier kleinen Kindern, die von ihrem Mann mir nichts, dir nichts verlassen wird und sich daraufhin allein im New Yorker Großstadtleben behaupten muss. "Eine Frau zählt ihre Kinder und wird überheblich, als hätte sie das Leben erfunden", stellt sie an einer Stelle fest, "doch Männer müssen in der Welt Erfolg haben. Ich weiß, dass Männer sich durch Glücklichsein nicht einlullen lassen." Dieser Versuch, sich die Widrigkeiten des Lebens über die Natur der Geschlechter zu erklären, schreibt ein krass ungleiches Machtverhältnis fest: Weil "Daddy" ja schließlich gar nicht anders kann, als nach Erfolg zu streben und aus seinem kuhwarmen Heim in die Welt zu flüchten, und weil Virginia auf ihre Rolle als Gattin und Mutter geradezu verpflichtet ist, sitzt sie in ihrer schäbigen Wohnung und wartet - wartet auf ihn, auf seine Rückkehr, und träumt, wie sie ihm den Schlips aufknotet und ein kaltes Sandwich anbietet, während er ihr auf den Hintern klatscht, "mal gucken, wie elastisch er noch ist".
Die abgründige Ambivalenz dieser Szene besteht darin, dass den Lesern hier mitnichten von einer Angstvision, sondern vielmehr - und zwar entwaffnend ungebrochen - von einem Wunschtraum berichtet wird.
Die Antwort auf die Frage, wie und warum sich die Frauen in diese Zwangslage begeben, findet Grace Paley in der Kindheit, genauer: in der Beziehung von Mutter und Sohn, wie sie die Story "Das Eigentliche der Kindheit" umreißt. "Was ist der Mann, dass die Frau sich ihm zu Füßen legt und ihn anbetet", fragt sich Faith, Ehefrau und Mutter, und findet die Antwort eingekuschelt auf ihrem Schoß. Ihr jüngster Sohn, der sie eben noch mit lautstarken Befehlen herumkommandierte, liegt nun in ihren Armen, an seinem Daumen nuckelnd, die andere Hand mit gespreizten Fingern auf ihrer Brust, und er säuselt ihr zu: "Ich liebe dich, Mama."
Sich dieser Zärtlichkeit zu entziehen, ihr Kind gar von sich zu stoßen, das vermag Faith verständlicherweise nicht, im Gegenteil. Was soll sie machen? Sie schließt die Augen und schmiegt sich an seinen Kopf, während die Sonne durch das Fenster scheint, um ihr Bewusstsein zumindest für einen Moment zu erhellen: "Da leuchtete mein Herz durch die kurzen, knubbeligen Finger meines Sohnes in Streifen, für immer begraben, wie ein König in Alcatraz hinter schwarz-weißen Gittern." In diesem verschlungenen Neben- und Ineinander von Überlegenheit und Hinwendung, das für Faith Erniedrigung und Erhöhung, Erfüllung und Selbstverlust bedeutet, unterwirft sich die Mutter ihrem Sohn, und zwar körperlich wie auch seelisch - eine Art Urkonstellation, die sich im Erwachsenenleben der Männer und Frauen fortschreibt, wie die knapp ein Dutzend Geschichten dieses Bandes in immer neuen, überraschenden Variationen vorführen.
Tatsächlich gelingt es Grace Paley mit ihren Erzählungen, die Geschlechterrollen mit ihren vielschichtigen Machteffekten und komplizierten Unterwerfungstechniken präzise zu analysieren, ohne zugleich die Literatur zum Medium eines allzu offensiven Agitierens, Theoretisierens und Debattierens herabzustufen. Worin bestünde denn auch die "Emanzipation", die ihren Protagonisten anzuraten wäre? Immer wieder besitzen die Sätze der Erzählerin, die in den vierziger Jahren kurzzeitig bei dem Poeten W.H. Auden in New York studierte, sogar jene fast lyrische Qualität, für die sie Autoren wie Philip Roth, Susan Sontag und Uwe Johnson bewunderten. Es sind Sätze, die noch heute, in Zeiten eingeübter Kontroversen über Sexismus, gender mainstreaming und Postfeminismus, ihre Wirkung nicht verfehlen: "Mädchen leben ein Steinzeitleben in einer Höhle aus geblasenem Glas."
KAI SINA
Grace Paley: "Die kleinen Widrigkeiten des Lebens". Storys.
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2013. 256 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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