• Ein berührendes Erinnerungsbuch an das Damaskus von gestern und ein Plädoyer für friedliche Koexistenz aller Völker und Konfessionen im Nahen Osten
Ein hochaktuelles Zeugnis von Mitmenschlichkeit und religiöser Toleranz im Nahen Osten – erstmals auf Deutsch, herausgegeben von Rafik Schami
Moussa Abadi wurde im jüdischen Viertel von Damaskus geboren und wuchs in Frieden und Freiheit auf. In seinem berührenden Erzählband beschreibt er atmosphärisch dicht und humorvoll diese Welt von Gestern – Damaskus in der kurzen Phase vom Ende des Osmanischen Reichs 1918 bis zur französischen Besatzung am Beginn der 1920er-Jahre. Wir erfahren vom Leben der jüdischen Gemeinde und von deren friedlicher, ja brüderlicher Koexistenz mit Angehörigen anderer Religionen. So wird dieses Erinnerungsbuch zu einer in der Vergangenheit angesiedelte Utopie, zur Feier des brüderlich-harmonischen Zusammenlebens von Christen, Juden und Muslimen.
Ein hochaktuelles Zeugnis von Mitmenschlichkeit und religiöser Toleranz im Nahen Osten – erstmals auf Deutsch, herausgegeben von Rafik Schami
Moussa Abadi wurde im jüdischen Viertel von Damaskus geboren und wuchs in Frieden und Freiheit auf. In seinem berührenden Erzählband beschreibt er atmosphärisch dicht und humorvoll diese Welt von Gestern – Damaskus in der kurzen Phase vom Ende des Osmanischen Reichs 1918 bis zur französischen Besatzung am Beginn der 1920er-Jahre. Wir erfahren vom Leben der jüdischen Gemeinde und von deren friedlicher, ja brüderlicher Koexistenz mit Angehörigen anderer Religionen. So wird dieses Erinnerungsbuch zu einer in der Vergangenheit angesiedelte Utopie, zur Feier des brüderlich-harmonischen Zusammenlebens von Christen, Juden und Muslimen.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Mit viel Freude liest Rezensent Christoph Haacker diese"kostbare Geschichtenbuch aus der Vergangenheit", in dem Moussa Abadi über seine Kindheit im jüdischen Viertel in Damaskus erzählt. Abadi zeichnet darin das Bild von einer friedlichen Koexistenz zwischen Juden und Muslimen, von einer "durchgebrannten schönen Jüdin" und einem König mit selbst erdachtem Königreich Rodwani, lesen wir. Doch auch die Zeit unter der französischen Besatzung, die sehr blutig ab 1920 in Syrien herrschte, thematisiert Abadi in seinen Erinnerungen, erklärt Haacker. Das Buch wirke heute in Zeiten des wieder entflammten Israel-Palästina-Konflikts brandaktuell, worauf Rafik Schami in seinem "ausgezeichneten Nachwort" eingehe, lobt der Kritiker. Letztlich zeige das Buch, dass eine friedliche Ko-Existenz, die jüdische Intellektuelle schon in Abadis Zeiten einforderten, möglich sei - "welcher Ungeist" muss dafür überwunden werden, seufzt der Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.05.2024Damals in Damaskus
Als in der syrischen Hauptstadt noch Juden lebten: Wie wäre es schön, wenn Moussa Abadis Erzählungen ein Modell für die Zukunft sein könnten.
Als Moussa Abadi sich anschickte, all jene Personen in ein Buch zu sperren, wie er es nannte, die ihn „ihr Leben lang verfolgt und genötigt“ hatten, war er längst Franzose. Und der Ort, an dem die Geschichten jener Personen spielten, war nur noch eine Erinnerung. Damaskus stand Anfang der Neunzigerjahre freilich noch, Menschen siedeln hier seit über 5000 Jahren und werden das auch weiter tun. Allen Katastrophenmeldungen, die dieser Tage aus Nahost kommen, zum Trotz.
Vom einstigen jüdischen Viertel in der Altstadt ist aber nicht mehr viel übrig. Die Mauern mögen noch stehen, doch die Menschen, die ihm seinen jüdischen Charakter gaben, fehlen. Die meisten gingen nach der Staatsgründung Israels 1948 und dem darauffolgenden Angriff durch arabische Staaten wie Syrien, die letzten flohen 1967 im Sechstagekrieg, nach langen Jahren der Repressionen. Moussa Abadi, 1907 in Damaskus geboren, lebte da schon lange in Europa. Er hatte an der Sorbonne studiert, sich für eine Zeit einer Theaterkompanie angeschlossen, eine Frau namens Odette Rosenstock kennengelernt. Mit ihr betrieb er im Vichy-Frankreich ein Untergrundnetzwerk, das sogenannte Réseau Marcel, die beiden versorgten 527 jüdische Kinder mit falschen, christlichen Identitäten und retteten ihnen so das Leben. Rosenstock wurde erwischt und nach Auschwitz deportiert, nach Bergen-Belsen verlegt, wo sie sich um Menschen kümmerte, die zu krank waren, um in die Gaskammern geschickt zu werden. Sie überlebte, kehrte zurück, heiratete Moussa Abadi.
All das wären Geschichten, die es ebenfalls wert wären, erzählt zu werden. Als sich Abadi nach seiner Karriere als Radiojournalist aber im hohen Alter hinsetzte, um der Welt nach unzähligen Interviews und Theaterbesprechungen ein Büchlein zu hinterlassen, da schrieb er die Erinnerungen an das Damaskus seiner Kindheit auf: Geschichten aus jenem jüdischen Viertel, das es nicht mehr gibt. Das aber in den heutigen Tagen, da die Katastrophenmeldungen aus Nahost in hoher Frequenz anbranden, eine Art rückwärtsgewandte Vision darstellen könnte: Abadi erzählt von einer Zeit, in der „Juden in der arabischen Gesellschaft als Schriftsteller, Ärzte, Künstler, Parlamentarier hohes Ansehen genossen“, wie Rafik Schami in seinem Nachwort für den nun erstmals auf Deutsch erschienenen Band „Die Königin und ihr Kalligraph“ schreibt.
Schami, aramäischer Christ, wuchs gleich in der Nähe jener Gassen auf, in denen Abadis Geschichten spielen, der jüdische Hausarzt seiner Familie hatte seine Praxis keine zwanzig Meter entfernt. Wenn Schami nun in Abadis Buch das „humanistische Bild einer zukünftigen Gesellschaft“ sieht, „in der alle Menschen gleichberechtigt, frei und offen miteinander leben, ohne sich wegen ihrer Religion, ihrem Geschlecht oder ihrer Ethnie rechtfertigen“ zu müssen, dann ist das sicherlich mit der Schami eigenen unerschütterlichen Hoffnung geschrieben, an der sich der heute 77-jährige Schriftsteller in seinem deutschen Exil festhält.
Abadis Geschichten jedenfalls sind nicht deshalb ein Leuchtturm der Hoffnung, weil sie die berühmten Intellektuellen und die herausragenden Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde zum Thema hätten. Sie erzählen auch von den Tagedieben und Taugenichtsen, vom öffentlichen Leben in den Gassen. Sie erzählen von Armut und Emigration, vom religiösen Leben und von ganz Weltlichem – etwa davon, wie einige Damaszener Juden wahlweise schnell zu Russen oder Persern wurden, wenn die osmanische Obrigkeit Rekrutierer für ihre Armee auch in das jüdische Viertel schickte. Die hier ansässigen Generalkonsuln benachbarter Reiche und Passfälscher wurden aktiv, „aus Gründen, die sich jeder Logik entziehen, wurde ein falscher russischer Pass teurer gehandelt als ein echter persischer Pass“, schreibt Abadi. Als Blaupause für eine künftige Koexistenz dienen solche Eulenspiegeliaden zwar nicht. Aber ein Naher Osten, in dem jüdische Mitbürger gerne noch einen persischen Pass in der Tasche haben, wäre sicher nicht die schlechteste Vision.
MORITZ BAUMSTIEGER
Abadi erzählt von den
Tagedieben und
Taugenichtsen
Moussa Abadi: „Die Königin und der Kalligraph“, Manesse, München 2024, 224 Seiten, 26 Euro.
Moussa Abadi schrieb Anfang der Neunzigerjahre seine Erinnerungen an das Damaskus seiner Kindheit auf.
Foto: Louis Monier / Gamma-Rapho via Getty Images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Als in der syrischen Hauptstadt noch Juden lebten: Wie wäre es schön, wenn Moussa Abadis Erzählungen ein Modell für die Zukunft sein könnten.
Als Moussa Abadi sich anschickte, all jene Personen in ein Buch zu sperren, wie er es nannte, die ihn „ihr Leben lang verfolgt und genötigt“ hatten, war er längst Franzose. Und der Ort, an dem die Geschichten jener Personen spielten, war nur noch eine Erinnerung. Damaskus stand Anfang der Neunzigerjahre freilich noch, Menschen siedeln hier seit über 5000 Jahren und werden das auch weiter tun. Allen Katastrophenmeldungen, die dieser Tage aus Nahost kommen, zum Trotz.
Vom einstigen jüdischen Viertel in der Altstadt ist aber nicht mehr viel übrig. Die Mauern mögen noch stehen, doch die Menschen, die ihm seinen jüdischen Charakter gaben, fehlen. Die meisten gingen nach der Staatsgründung Israels 1948 und dem darauffolgenden Angriff durch arabische Staaten wie Syrien, die letzten flohen 1967 im Sechstagekrieg, nach langen Jahren der Repressionen. Moussa Abadi, 1907 in Damaskus geboren, lebte da schon lange in Europa. Er hatte an der Sorbonne studiert, sich für eine Zeit einer Theaterkompanie angeschlossen, eine Frau namens Odette Rosenstock kennengelernt. Mit ihr betrieb er im Vichy-Frankreich ein Untergrundnetzwerk, das sogenannte Réseau Marcel, die beiden versorgten 527 jüdische Kinder mit falschen, christlichen Identitäten und retteten ihnen so das Leben. Rosenstock wurde erwischt und nach Auschwitz deportiert, nach Bergen-Belsen verlegt, wo sie sich um Menschen kümmerte, die zu krank waren, um in die Gaskammern geschickt zu werden. Sie überlebte, kehrte zurück, heiratete Moussa Abadi.
All das wären Geschichten, die es ebenfalls wert wären, erzählt zu werden. Als sich Abadi nach seiner Karriere als Radiojournalist aber im hohen Alter hinsetzte, um der Welt nach unzähligen Interviews und Theaterbesprechungen ein Büchlein zu hinterlassen, da schrieb er die Erinnerungen an das Damaskus seiner Kindheit auf: Geschichten aus jenem jüdischen Viertel, das es nicht mehr gibt. Das aber in den heutigen Tagen, da die Katastrophenmeldungen aus Nahost in hoher Frequenz anbranden, eine Art rückwärtsgewandte Vision darstellen könnte: Abadi erzählt von einer Zeit, in der „Juden in der arabischen Gesellschaft als Schriftsteller, Ärzte, Künstler, Parlamentarier hohes Ansehen genossen“, wie Rafik Schami in seinem Nachwort für den nun erstmals auf Deutsch erschienenen Band „Die Königin und ihr Kalligraph“ schreibt.
Schami, aramäischer Christ, wuchs gleich in der Nähe jener Gassen auf, in denen Abadis Geschichten spielen, der jüdische Hausarzt seiner Familie hatte seine Praxis keine zwanzig Meter entfernt. Wenn Schami nun in Abadis Buch das „humanistische Bild einer zukünftigen Gesellschaft“ sieht, „in der alle Menschen gleichberechtigt, frei und offen miteinander leben, ohne sich wegen ihrer Religion, ihrem Geschlecht oder ihrer Ethnie rechtfertigen“ zu müssen, dann ist das sicherlich mit der Schami eigenen unerschütterlichen Hoffnung geschrieben, an der sich der heute 77-jährige Schriftsteller in seinem deutschen Exil festhält.
Abadis Geschichten jedenfalls sind nicht deshalb ein Leuchtturm der Hoffnung, weil sie die berühmten Intellektuellen und die herausragenden Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde zum Thema hätten. Sie erzählen auch von den Tagedieben und Taugenichtsen, vom öffentlichen Leben in den Gassen. Sie erzählen von Armut und Emigration, vom religiösen Leben und von ganz Weltlichem – etwa davon, wie einige Damaszener Juden wahlweise schnell zu Russen oder Persern wurden, wenn die osmanische Obrigkeit Rekrutierer für ihre Armee auch in das jüdische Viertel schickte. Die hier ansässigen Generalkonsuln benachbarter Reiche und Passfälscher wurden aktiv, „aus Gründen, die sich jeder Logik entziehen, wurde ein falscher russischer Pass teurer gehandelt als ein echter persischer Pass“, schreibt Abadi. Als Blaupause für eine künftige Koexistenz dienen solche Eulenspiegeliaden zwar nicht. Aber ein Naher Osten, in dem jüdische Mitbürger gerne noch einen persischen Pass in der Tasche haben, wäre sicher nicht die schlechteste Vision.
MORITZ BAUMSTIEGER
Abadi erzählt von den
Tagedieben und
Taugenichtsen
Moussa Abadi: „Die Königin und der Kalligraph“, Manesse, München 2024, 224 Seiten, 26 Euro.
Moussa Abadi schrieb Anfang der Neunzigerjahre seine Erinnerungen an das Damaskus seiner Kindheit auf.
Foto: Louis Monier / Gamma-Rapho via Getty Images
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.06.2024Stochern in der Glut der Erinnerung
Gemeinsam essen, gemeinsam beten: Moussa Abadi erinnert mit einem Kranz von Geschichten an das friedliche Nebeneinander im einstigen Damaskus.
Man möchte laut seufzen vor Verzweiflung, denn es könnte alles so einfach sein. Und dabei ist es keine Utopie, sondern war gelebte Realität, was Moussa Abadi in seinen Geschichten aus einem längst vergangenen Damaskus erzählt. Für Abadi, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in der jüdischen Gasse der syrischen Metropole aufwuchs, war das friedliche Zusammenleben von Juden, Muslimen und Christen kein ferner Traum, sondern Alltag. Umso eindrücklicher lesen sich seine episodischen Prosastücke in "Die Königin und der Kalligraph", die vom Leben in der jüdischen Gemeinde erzählen, den kleinen Freuden, den großen Tragödien, dem Leben in der Familie, der Emigration und der Heimkehr.
Wir lernen falsche Königinnen und echte Künstler kennen, großherzige Bettler und kleinliche Beamte. Immer erzählt aus der Perspektive eines Mannes, der seine Gemeinschaft für ein Studium in Frankreich verließ, dort durch die Hölle des Zweiten Weltkriegs ging und erst viele Jahrzehnte später seine Erinnerungen zu Papier brachte. "Die Personen, die ich in dieses Buch gesperrt habe, hatten mich ihr Leben lang verfolgt und genötigt, mich bedrängt und mir zugesetzt. Und obwohl sie mich vor einer Ewigkeit verlassen haben, konnte nichts und niemand sie aus meinem Gedächtnis verjagen", schreibt Abadi in seinem Vorwort.
Fast wären diese Erinnerungen in Vergessenheit geraten, hätte nicht vor drei Jahren der Autor Rafik Schami durch Zufall die arabische Übersetzung von Moussa Abadis Erinnerungsbuch gelesen - die französische Originalausgabe war bereits 1994 erschienen - und dem Manesse Verlag zur Übersetzung empfohlen.
Schami, der 1971 nach Deutschland kam, wurde 1946 in Damaskus geboren. Er wuchs in der Abbara-Gasse im christlichen Viertel auf, die Mauer an Mauer mit der Judengasse verläuft, wo Moussa Abadi lebte. Für Schami war die Lektüre eine Reise in seine Kindheit und Jugend. Aber auch uns nimmt Abadi mit in eine Zeit, die im Syrien von heute - nach jahrzehntelanger Diktatur und einem verheerenden Bürgerkrieg, der Millionen in die Flucht geschlagen hat - kaum mehr möglich scheint.
So erzählt das Buch zum Beispiel davon, wie Abadis Urgroßvater und später sein Großvater über Jahrzehnte hinweg eine Freundschaft mit Beduinen aus der Wüste pflegten, mit denen gemeinsam sie das Brot teilten und beteten. "Es war dies der unbeschreibliche Moment der Kommunion, in dem die vier Männer, ohne ein einziges Wort zu wechseln, dem Himmel danksagten, sie vereint zu haben", heißt es in der Beduinengeschichte.
Das friedliche Miteinander der Ethnien und Religionen ist längst einer Spirale der Gewalt gewichen, die sich Jahr für Jahr schneller dreht und keinen Raum für Utopien lässt, in denen Frieden und Freiheit für alle denkbar sind. Schon 1993, als Abadi seine Erinnerungen niederschrieb, gab es die lebendige Gasse seiner Kindheit nicht mehr: "Wozu noch in der Glut der Erinnerung stochern, wo doch mein Damaskus nicht mehr in Damaskus ist und mein Ghetto auf immer verschwunden?", betrauert Abadi das Verlorene. Laut Schami lebten 2019 nur noch zwölf Juden in der Gasse.
Die Vertreibung seiner Glaubensbrüder muss Abadi besonders geschmerzt haben. Er erlebte als Jude die Schrecken der Nazi-Zeit in Europa und überlebte nur knapp. 1929 war er als Student nach Paris gekommen und hatte dort 1939 seine Lebensliebe Odette Rosenstock kennengelernt. Man könnte über das bewegte und faszinierende Leben der beiden ein eigenes Buch schreiben. Nur so viel: Gemeinsam retteten sie mehr als fünfhundert jüdische Kinder vor dem sicheren Tod, Odette überlebte Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen. In Paris und Nizza wurden nach dem Ehepaar zwei Plätze benannt, die an ihr Engagement erinnern.
Abadis Erinnerungen sind nicht nur historisch lehrreich, sie sind vor allem unterhaltsam, humorvoll und oft satirisch erzählt. Wenn möglich, sollte man die Geschichten in einem Fluss lesen, denn dann beginnen sie eine Faszination zu entwickeln wie die Geschichten aus "Tausendundeiner Nacht". Mit jeder von ihnen taucht man tiefer ein in das Leben der jüdischen Gasse um die Jahrhundertwende.
Die Beziehung zwischen Juden und Arabern scheint heute an einem Tiefpunkt angekommen zu sein. Abadis Erinnerungen geben Hoffnung, dass vielleicht eines Tages eine friedliche Koexistenz wieder möglich ist. AMIRA EL AHL
Moussa Abadi: "Die Königin und der Kalligraph". Erzählungen.
Aus dem Französischen von Gerhard Meier. Nachwort von
Rafik Schami. Manesse Verlag, München 2024. 224 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gemeinsam essen, gemeinsam beten: Moussa Abadi erinnert mit einem Kranz von Geschichten an das friedliche Nebeneinander im einstigen Damaskus.
Man möchte laut seufzen vor Verzweiflung, denn es könnte alles so einfach sein. Und dabei ist es keine Utopie, sondern war gelebte Realität, was Moussa Abadi in seinen Geschichten aus einem längst vergangenen Damaskus erzählt. Für Abadi, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in der jüdischen Gasse der syrischen Metropole aufwuchs, war das friedliche Zusammenleben von Juden, Muslimen und Christen kein ferner Traum, sondern Alltag. Umso eindrücklicher lesen sich seine episodischen Prosastücke in "Die Königin und der Kalligraph", die vom Leben in der jüdischen Gemeinde erzählen, den kleinen Freuden, den großen Tragödien, dem Leben in der Familie, der Emigration und der Heimkehr.
Wir lernen falsche Königinnen und echte Künstler kennen, großherzige Bettler und kleinliche Beamte. Immer erzählt aus der Perspektive eines Mannes, der seine Gemeinschaft für ein Studium in Frankreich verließ, dort durch die Hölle des Zweiten Weltkriegs ging und erst viele Jahrzehnte später seine Erinnerungen zu Papier brachte. "Die Personen, die ich in dieses Buch gesperrt habe, hatten mich ihr Leben lang verfolgt und genötigt, mich bedrängt und mir zugesetzt. Und obwohl sie mich vor einer Ewigkeit verlassen haben, konnte nichts und niemand sie aus meinem Gedächtnis verjagen", schreibt Abadi in seinem Vorwort.
Fast wären diese Erinnerungen in Vergessenheit geraten, hätte nicht vor drei Jahren der Autor Rafik Schami durch Zufall die arabische Übersetzung von Moussa Abadis Erinnerungsbuch gelesen - die französische Originalausgabe war bereits 1994 erschienen - und dem Manesse Verlag zur Übersetzung empfohlen.
Schami, der 1971 nach Deutschland kam, wurde 1946 in Damaskus geboren. Er wuchs in der Abbara-Gasse im christlichen Viertel auf, die Mauer an Mauer mit der Judengasse verläuft, wo Moussa Abadi lebte. Für Schami war die Lektüre eine Reise in seine Kindheit und Jugend. Aber auch uns nimmt Abadi mit in eine Zeit, die im Syrien von heute - nach jahrzehntelanger Diktatur und einem verheerenden Bürgerkrieg, der Millionen in die Flucht geschlagen hat - kaum mehr möglich scheint.
So erzählt das Buch zum Beispiel davon, wie Abadis Urgroßvater und später sein Großvater über Jahrzehnte hinweg eine Freundschaft mit Beduinen aus der Wüste pflegten, mit denen gemeinsam sie das Brot teilten und beteten. "Es war dies der unbeschreibliche Moment der Kommunion, in dem die vier Männer, ohne ein einziges Wort zu wechseln, dem Himmel danksagten, sie vereint zu haben", heißt es in der Beduinengeschichte.
Das friedliche Miteinander der Ethnien und Religionen ist längst einer Spirale der Gewalt gewichen, die sich Jahr für Jahr schneller dreht und keinen Raum für Utopien lässt, in denen Frieden und Freiheit für alle denkbar sind. Schon 1993, als Abadi seine Erinnerungen niederschrieb, gab es die lebendige Gasse seiner Kindheit nicht mehr: "Wozu noch in der Glut der Erinnerung stochern, wo doch mein Damaskus nicht mehr in Damaskus ist und mein Ghetto auf immer verschwunden?", betrauert Abadi das Verlorene. Laut Schami lebten 2019 nur noch zwölf Juden in der Gasse.
Die Vertreibung seiner Glaubensbrüder muss Abadi besonders geschmerzt haben. Er erlebte als Jude die Schrecken der Nazi-Zeit in Europa und überlebte nur knapp. 1929 war er als Student nach Paris gekommen und hatte dort 1939 seine Lebensliebe Odette Rosenstock kennengelernt. Man könnte über das bewegte und faszinierende Leben der beiden ein eigenes Buch schreiben. Nur so viel: Gemeinsam retteten sie mehr als fünfhundert jüdische Kinder vor dem sicheren Tod, Odette überlebte Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen. In Paris und Nizza wurden nach dem Ehepaar zwei Plätze benannt, die an ihr Engagement erinnern.
Abadis Erinnerungen sind nicht nur historisch lehrreich, sie sind vor allem unterhaltsam, humorvoll und oft satirisch erzählt. Wenn möglich, sollte man die Geschichten in einem Fluss lesen, denn dann beginnen sie eine Faszination zu entwickeln wie die Geschichten aus "Tausendundeiner Nacht". Mit jeder von ihnen taucht man tiefer ein in das Leben der jüdischen Gasse um die Jahrhundertwende.
Die Beziehung zwischen Juden und Arabern scheint heute an einem Tiefpunkt angekommen zu sein. Abadis Erinnerungen geben Hoffnung, dass vielleicht eines Tages eine friedliche Koexistenz wieder möglich ist. AMIRA EL AHL
Moussa Abadi: "Die Königin und der Kalligraph". Erzählungen.
Aus dem Französischen von Gerhard Meier. Nachwort von
Rafik Schami. Manesse Verlag, München 2024. 224 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Abadis Erinnerungen sind nicht nur historisch lehrreich, sie sind vor allem unterhaltsam, humorvoll und oft satirisch erzählt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, Amira El Ahl