In kaum einem Land außerhalb Deutschlands wurde die Kritische Theorie so intensiv gelesen wie in Amerika. Für die Übersetzung, Verbreitung und Diskussion der Schriften Theodor W. Adornos, Max Horkheimers, Herbert Marcuses und anderer spielten die Zeitschriften Telos und New German Critique, die im Schatten der Studentenbewegung der 1960er Jahre und einer Renaissance des Marxismus gegründet wurden, eine entscheidende Rolle. Robert Zwarg rekonstruiert erstmals die ungeheuer produktive Rezeption der Kritischen Theorie bis in die 1990er Jahre und fragt nach ihrer Transformation. Seine Historisierung der Kritischen Theorie, die Annäherung an ihren »Zeitkern«, bedient sich dabei ihrer eigenen Mittel. Wie wurde eine im Deutschland der Zwischenkriegszeit entstandene Denktradition zum Ausweg aus der Krise der amerikanischen Neuen Linken? Vermochten die Texte der Kritischen Theorie bei der Reise über den Atlantik ihre analytische Kraft zu bewahren? Zwarg zeigt, welche Hoffnungen sich an die Praxis der Theorie knüpften und wie sich die Ideen der Frankfurter Theoretiker unter den veränderten historischen und gesellschaftlichen Bedingungen wandelten. Die Geschichte akademischer Erfolge ist zugleich eine Geschichte philosophischer und politischer Zweifel, die viel über die Unterschiede zwischen der »Alten« und der »Neuen Welt« verraten.
Frankfurter Allgemeine ZeitungDer Geist aus der Flasche
Robert Zwarg folgt der Kritischen Theorie nach Amerika
Flaschenpost war eine Chiffre für die hoffnungslos vage Zukunft der Kritischen Theorie. Theodor W. Adorno prägte sie Anfang der vierziger Jahre, und Max Horkheimer machte sie sich zu eigen. Das Bild bringt die Erfahrungen der Marginalisierung im amerikanischen Exil und die Verzweiflung angesichts des Totalitarismus in Europa zum Ausdruck. Obwohl nicht ganz verkehrt, ist es doch eine Überzeichnung. Zum einen haben die zahlreichen empirischen Studien des der Columbia University assoziierten Institute of Social Research die amerikanische Sozialforschung bereichert, darunter der gewichtige Komplex der Autoritäts- und Antisemitismusforschung. Zum anderen gewannen die Bücher von Adorno und Horkheimer oder Herbert Marcuse mit zeitlicher Verzögerung an Einfluss.
Hinzu kommt schließlich, was der Leipziger Historiker Robert Zwarg in seiner umfänglichen ideengeschichtlichen Studie über die Kritische Theorie in Amerika zeigt: dass in der nordamerikanischen Wissenschaftskultur ein klar erkennbarer "Denkraum Kritische Theorie" entstand, befördert auch durch das Bedürfnis nach politischer Orientierungs- und Selbstverständigung der New Left. Er verdankt sich in erster Linie einer Vielzahl von Artikeln und Essays, die in den beiden tonangebenden Zeitschriften "Telos" und "New German Critique" erschienen. Diesen "Denkraum" auszuleuchten ist das Anliegen von Zwargs Studie, die mit viel ausgebreitetem Material eine Forschungslücke schließt.
An ihrem Anfang steht eine pointierte These, die vom Blick über den Atlantik inspiriert ist: Die gängige Bezeichnung Frankfurter Schule sei ein Etikett, das aufzugeben sei, und zwar zugunsten einer Beschreibung der Kritischen Theorie als grenzüberschreitendes Unternehmen in all seinen transatlantischen Verzweigungen. Ihre Plausibilität gewinnt diese Forderung zum einen durch den intellektuellen Eigensinn der Repräsentanten jener ersten Generation kritischer Theoretiker, die alles andere als ein geschlossener Kreis orthodoxer Autoren waren; zum anderen aber auch dadurch, dass die Schriften von Adorno, Horkheimer und Marcuse an zahlreichen Orten und in unterschiedlicher Weise rezipiert wurden. Nicht nur im Frankfurter Umfeld von Jürgen Habermas, Axel Honneth und des Exzellenzclusters "Normative Orders" unternahm und unternimmt man Anstrengungen, die Ansätze der ersten Generation weiterzuentwickeln. Zu diesen Aktualisierungsversuchen zählen auch die von Zwarg dargestellten Debatten, für die Namen wie Paul Piccone, Peter Uwe Hohendahl, Joel Withebook, Nancy Fraser, Seyla Benhabib, Amy Allen stehen. Für den Autor handelt es sich da um Autoren, denen gemeinsam ist, die Kritische Theorie gegen die Postmoderne und die sogenannte "French Theory" zu verteidigen. Er hebt hervor, dass im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen mit der Kritischen Theorie vier Themen stehen: die "Praxisfähigkeit" der Kritik, das Theorem der ,verwalteten Welt', die Relevanz der Analysen der Kulturindustrie und schließlich das Widerstandspotential der Kunst.
Während der Leser sein Vergnügen an der Sprachverliebtheit des Autors haben mag, dürften ihn die Redundanzen schon eher stören. Irritierender ist aber, dass Zwarg mit der Begründung, die "Theorie der kommunikativen Vernunft" habe in Amerika "offene Türen" eingerannt, bewusst darauf verzichtet hat, die breite und ganz eigenständige Rezeption der sprachtheoretischen Wende von Jürgen Habermas zu rekonstruieren. Immerhin spielt sie in der amerikanischen Wissenschaftskultur auch aufgrund der Kontroversen von Habermas mit John Rawls, Richard Rorty und Robert Brandom eine große Rolle und dürfte heute das gleiche, wenn nicht sogar größere Gewicht haben wie Theorien in der Tradition der Gründergeneration.
STEFAN MÜLLER-DOOHM
Robert Zwarg: "Die Kritische Theorie in
Amerika". Das Nachleben
einer Tradition.
Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2017.
464 S., geb., 60,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Robert Zwarg folgt der Kritischen Theorie nach Amerika
Flaschenpost war eine Chiffre für die hoffnungslos vage Zukunft der Kritischen Theorie. Theodor W. Adorno prägte sie Anfang der vierziger Jahre, und Max Horkheimer machte sie sich zu eigen. Das Bild bringt die Erfahrungen der Marginalisierung im amerikanischen Exil und die Verzweiflung angesichts des Totalitarismus in Europa zum Ausdruck. Obwohl nicht ganz verkehrt, ist es doch eine Überzeichnung. Zum einen haben die zahlreichen empirischen Studien des der Columbia University assoziierten Institute of Social Research die amerikanische Sozialforschung bereichert, darunter der gewichtige Komplex der Autoritäts- und Antisemitismusforschung. Zum anderen gewannen die Bücher von Adorno und Horkheimer oder Herbert Marcuse mit zeitlicher Verzögerung an Einfluss.
Hinzu kommt schließlich, was der Leipziger Historiker Robert Zwarg in seiner umfänglichen ideengeschichtlichen Studie über die Kritische Theorie in Amerika zeigt: dass in der nordamerikanischen Wissenschaftskultur ein klar erkennbarer "Denkraum Kritische Theorie" entstand, befördert auch durch das Bedürfnis nach politischer Orientierungs- und Selbstverständigung der New Left. Er verdankt sich in erster Linie einer Vielzahl von Artikeln und Essays, die in den beiden tonangebenden Zeitschriften "Telos" und "New German Critique" erschienen. Diesen "Denkraum" auszuleuchten ist das Anliegen von Zwargs Studie, die mit viel ausgebreitetem Material eine Forschungslücke schließt.
An ihrem Anfang steht eine pointierte These, die vom Blick über den Atlantik inspiriert ist: Die gängige Bezeichnung Frankfurter Schule sei ein Etikett, das aufzugeben sei, und zwar zugunsten einer Beschreibung der Kritischen Theorie als grenzüberschreitendes Unternehmen in all seinen transatlantischen Verzweigungen. Ihre Plausibilität gewinnt diese Forderung zum einen durch den intellektuellen Eigensinn der Repräsentanten jener ersten Generation kritischer Theoretiker, die alles andere als ein geschlossener Kreis orthodoxer Autoren waren; zum anderen aber auch dadurch, dass die Schriften von Adorno, Horkheimer und Marcuse an zahlreichen Orten und in unterschiedlicher Weise rezipiert wurden. Nicht nur im Frankfurter Umfeld von Jürgen Habermas, Axel Honneth und des Exzellenzclusters "Normative Orders" unternahm und unternimmt man Anstrengungen, die Ansätze der ersten Generation weiterzuentwickeln. Zu diesen Aktualisierungsversuchen zählen auch die von Zwarg dargestellten Debatten, für die Namen wie Paul Piccone, Peter Uwe Hohendahl, Joel Withebook, Nancy Fraser, Seyla Benhabib, Amy Allen stehen. Für den Autor handelt es sich da um Autoren, denen gemeinsam ist, die Kritische Theorie gegen die Postmoderne und die sogenannte "French Theory" zu verteidigen. Er hebt hervor, dass im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen mit der Kritischen Theorie vier Themen stehen: die "Praxisfähigkeit" der Kritik, das Theorem der ,verwalteten Welt', die Relevanz der Analysen der Kulturindustrie und schließlich das Widerstandspotential der Kunst.
Während der Leser sein Vergnügen an der Sprachverliebtheit des Autors haben mag, dürften ihn die Redundanzen schon eher stören. Irritierender ist aber, dass Zwarg mit der Begründung, die "Theorie der kommunikativen Vernunft" habe in Amerika "offene Türen" eingerannt, bewusst darauf verzichtet hat, die breite und ganz eigenständige Rezeption der sprachtheoretischen Wende von Jürgen Habermas zu rekonstruieren. Immerhin spielt sie in der amerikanischen Wissenschaftskultur auch aufgrund der Kontroversen von Habermas mit John Rawls, Richard Rorty und Robert Brandom eine große Rolle und dürfte heute das gleiche, wenn nicht sogar größere Gewicht haben wie Theorien in der Tradition der Gründergeneration.
STEFAN MÜLLER-DOOHM
Robert Zwarg: "Die Kritische Theorie in
Amerika". Das Nachleben
einer Tradition.
Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2017.
464 S., geb., 60,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main