In seinen Kolumnen äußert sich Lukas Bärfuss zu vielfältigen, aber immer drängenden Fragen unserer Zeit. "Die Geschichte bewegt sich nicht im Ochsengang, nicht in einem gleichmäßigen Trott. Sie gleicht eher den wilden Sprüngen eines Pferdes, das nach Tagen im Stall wieder auf die Weide gelassen wird", heißt es bei Lukas Bärfuss. Und er unterzieht sie in seinen Kolumnen 2019/2020 gewissermaßen in Echtzeit seinem prüfenden Blick, etwa wenn er sich staunend klarmacht, was eigentlich das wirklich Neue an einem eben auf den Markt kommenden iPhone ist: nichts Wesentliches, und wenn er dann aber resümiert, welche grundstürzenden Dinge passiert sind in den wenigen Jahren, die es dieses Telefon überhaupt erst gibt. Seit 2008 nämlich. Das Kleine und das Große sind auf eine verblüffend einleuchtende Weise miteinander verzahnt. Bärfuss springt in seinen Themen, mal ist er analytisch kühl, mal argumentiert er leidenschaftlich polemisch, ob es um Corona geht oder um die Gleichberechtigung der Frauen, um Identitätspolitik, um die USA, China, den Brexit und immer wieder um die Schweiz. Durchaus bemerkt er, dass die ständigen Veränderungen den Menschen Angst machen können, aber dennoch macht er als die größere Gefahr die Stagnation aus. Als wacher Zeitgenosse will er sich einmischen, als genauer Beobachter und denkender Mensch, der Politisches und Poetisches in der Tradition Heinrich Heines zusammenbringt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.11.2020Don’t cry,
work
Lukas Bärfuss winkt in seinen Essays
der Demokratie hinterher
VON FELIX STEPHAN
An einer Stelle seiner Essay-Sammlung „Die Krone der Schöpfung“ kommt Lukas Bärfuss auf Barack Obamas Rede 2009 in Kairo zu sprechen. Der amerikanische Präsident hatte schon als Senator immer wieder dazu aufgerufen, jedem Menschen unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit als frei und gleich gegenüberzutreten, und der Erfolg der Rede schien ihn darin zu bestätigen; in Israel wurde sie genauso bejubelt wie in Ägypten und Europa. Später berichtete Obamas außenpolitischer Berater Ben Rhodes allerdings in seinen Erinnerungen, dass die Rede vor allem deswegen so viel Anklang gefunden hatte, weil sie von einem Präsidenten schwarzer Hautfarbe gehalten wurde. Die bittere Pointe war: Der Erfolg der Rede hatte den Präsidenten widerlegt. Letztlich kam es doch auf die Hautfarbe an.
Dieses Grundgefühl rückwirkender Ernüchterung durchzieht sämtliche Texte dieses Bandes. Die Rechten regieren, die Demokraten sind träge und orientierungslos, die Öffentlichkeit ist fragmentiert und während die Theoretiker noch an ihren Reden feilen, haben Geschlecht und Hautfarbe die Diskussion längst entschieden. Dem Kulturkritiker bleibt nur das Konstatieren, er verhandelt nicht mehr, er beschreibt nur noch, verzeichnet und beweint die Verluste.
Gut möglich, dass der Grad der Enttäuschung unmittelbar mit dem Niveau des Engagements zusammenhängt. Dem Autor und Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss geht es in jeder Zeile um das Ganze, um die Republik und ihre Infrastruktur, um den Gebrauch der Vernunft, Kritik und Aufklärung. Aber wenn man die jüngsten Essays des Autors jetzt mit dem liberalen Optimismus der Obama-Ära vergleicht, begegnet einem vor allem Gegenwartsverdruss. Das ist nicht ganz untypisch: Wer sich heute liberal nennt, sieht den idealen Gesellschaftszustand tendenziell in der Vergangenheit, der Politologe Lukas Haffert hat das Phänomen einst die „progressive Nostalgie“ genannt. Den Liberalen geht es derzeit weniger darum, die technologischen, wirtschaftlichen, soziologischen Bedingungen für eine Zukunft in ihrem Sinne nutzbar zu machen, als vielmehr zu einem verlorenen Naturzustand zurückkehren. Bei den Nationalisten verhält es sich genau andersrum: Sie treten rückwärtsgewandt auf – „Make America great again“ –, drängen de facto aber ungeduldig in die Zukunft.
Wie sich diese Verhältnisse in den vergangenen vier Jahren verschoben haben, zeigt beispielsweise Bärfuss’ Essay über eine Schweizer Schulreform, im Zuge derer die Schulen eine verbindliche Leseliste abgeschafft haben. Jeder Lehrer kann jetzt selbst entscheiden, welche Bücher er mit seinen Schülern liest, einen Leitfaden gibt es nicht mehr. Bärfuss erkennt darin ein Symptom der gesellschaftlichen Atomisierung: „Soziale Gruppen berufen sich auf gemeinsame Erfahrungen, je mehr es sind, umso enger die Bindung. (...) Mit der Zahl der Erzählungen nimmt die Bindung ab, doch damit eine Gesellschaft funktionieren kann, braucht es einen gemeinsamen Bestand. Die bürgerliche Kultur nannte diesen Bestand gemeinsamer Geschichten Kanon.“ Der Teufel steckt hier im Präteritum: Die bürgerliche Kultur ist schon Vergangenheit und verkörpert wurde sie ausgerechnet vom Kanon.
Wenn sich Essayisten an den Kanon klammern, steht es um ihre Ideen selten gut. Gerade ist die Abschaffung des Kanons noch ein progressives Projekt gewesen, weil er als Instrument weißer, männlicher, heteronormativer Hegemonialmacht die Selbstformulierung der marginalisierten Gruppen verhinderte. Seitdem die Welt erlebt hat, welche Macht die Verbindung aus Desinformation und Big-Data-Targeting entfesseln können, werden mit einem abendländischen Seufzer die Ledereinbände wieder aus den Regalen gezogen.
Die kraftvollsten Gesellschaftsbeschreibungen entstehen in diesen Essays ironischerweise immer dann, wenn sie niemanden wachrütteln wollen, sondern sich stattdessen mit erzähltheoretischen Detailfragen beschäftigen. Aus Anlass der gefälschten Reportagen des Spiegel-Journalisten Claas Relotius setzt Bärfuss sich mit den technischen Aspekten des Storytellings auseinander und entwickelt dabei die schlagende Beobachtung, dass sich der Journalismus auf der Jagd nach Reichweite heute häufig derselben Erzähltechniken bedient wie das Marketing. Und wenn der Journalismus aus Geldnot weniger Tatsachen berichte, dafür aber mehr „Geschichten erzähle“, die wiederum selbst zu sozialen Tatsachen würden, dann verschiebe sich eben etwas grundsätzlich. Die Debatte um Fake News, so Bärfuss, stelle deshalb die falsche Frage: Es gehe weniger um Wahrheit oder Lüge, als vielmehr um „Anschaulichkeit und Grad affektiver Beteiligung“. Geschichten seien mächtig, weil man sie nicht mehr aus der Welt bekomme, sobald sie einmal im Bewusstsein verankert seien, gerade deshalb habe man „ihnen bestimme Räume zugewiesen, im Theater, im Roman, im Kino“. Gerade weil die Macht der Geschichte letztlich nicht zu kontrollieren sei, habe man sie institutionell gebändigt.
Diese Räume haben außerdem den Vorteil, dass die Kritik dort strenger, genauer, ungerechter sein darf als in der richtigen Welt: In einem Text beschimpft Bärfuss am Beispiel einer Kurzgeschichte, die er nicht einmal nennt, das identifikatorische Erzählen an sich: Da niemand wissen könne, wie es im Bewusstsein eines anderen aussehe, handele es sich bei jeder Art psychologisierendem Erzählen letzten Endes um Fantastik. Weil diese Art der Literatur sich aber realistisch gebe, ihren fantastischen Charakter also nicht eingestehe, komme hier eine ideologische Dimension zum Vorschein: Psychologisierende Literatur sei ein Fetisch. In diesen Momenten schöner kritischer Intelligenz tritt der Binnenwiderspruch hervor, der auch dieser Sammlung zugrunde liegt: Die bürgerliche Kulturtechnik „Kritik“, deren Verlust an einer Stelle dramatisch betrauert wird, zeigt sich an anderer in bester Verfassung.
Lukas Bärfuss: Die Krone der Schöpfung. Wallstein Verlag, Göttingen 2020, 174 Seiten, 20 Euro.
An den Kanon klammern sich
Essayisten erst, wenn
ihnen gar nichts mehr einfällt
Geschichten sind mächtig,
deshalb wurden ihnen
eigene Räume zugewiesen
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
work
Lukas Bärfuss winkt in seinen Essays
der Demokratie hinterher
VON FELIX STEPHAN
An einer Stelle seiner Essay-Sammlung „Die Krone der Schöpfung“ kommt Lukas Bärfuss auf Barack Obamas Rede 2009 in Kairo zu sprechen. Der amerikanische Präsident hatte schon als Senator immer wieder dazu aufgerufen, jedem Menschen unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit als frei und gleich gegenüberzutreten, und der Erfolg der Rede schien ihn darin zu bestätigen; in Israel wurde sie genauso bejubelt wie in Ägypten und Europa. Später berichtete Obamas außenpolitischer Berater Ben Rhodes allerdings in seinen Erinnerungen, dass die Rede vor allem deswegen so viel Anklang gefunden hatte, weil sie von einem Präsidenten schwarzer Hautfarbe gehalten wurde. Die bittere Pointe war: Der Erfolg der Rede hatte den Präsidenten widerlegt. Letztlich kam es doch auf die Hautfarbe an.
Dieses Grundgefühl rückwirkender Ernüchterung durchzieht sämtliche Texte dieses Bandes. Die Rechten regieren, die Demokraten sind träge und orientierungslos, die Öffentlichkeit ist fragmentiert und während die Theoretiker noch an ihren Reden feilen, haben Geschlecht und Hautfarbe die Diskussion längst entschieden. Dem Kulturkritiker bleibt nur das Konstatieren, er verhandelt nicht mehr, er beschreibt nur noch, verzeichnet und beweint die Verluste.
Gut möglich, dass der Grad der Enttäuschung unmittelbar mit dem Niveau des Engagements zusammenhängt. Dem Autor und Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss geht es in jeder Zeile um das Ganze, um die Republik und ihre Infrastruktur, um den Gebrauch der Vernunft, Kritik und Aufklärung. Aber wenn man die jüngsten Essays des Autors jetzt mit dem liberalen Optimismus der Obama-Ära vergleicht, begegnet einem vor allem Gegenwartsverdruss. Das ist nicht ganz untypisch: Wer sich heute liberal nennt, sieht den idealen Gesellschaftszustand tendenziell in der Vergangenheit, der Politologe Lukas Haffert hat das Phänomen einst die „progressive Nostalgie“ genannt. Den Liberalen geht es derzeit weniger darum, die technologischen, wirtschaftlichen, soziologischen Bedingungen für eine Zukunft in ihrem Sinne nutzbar zu machen, als vielmehr zu einem verlorenen Naturzustand zurückkehren. Bei den Nationalisten verhält es sich genau andersrum: Sie treten rückwärtsgewandt auf – „Make America great again“ –, drängen de facto aber ungeduldig in die Zukunft.
Wie sich diese Verhältnisse in den vergangenen vier Jahren verschoben haben, zeigt beispielsweise Bärfuss’ Essay über eine Schweizer Schulreform, im Zuge derer die Schulen eine verbindliche Leseliste abgeschafft haben. Jeder Lehrer kann jetzt selbst entscheiden, welche Bücher er mit seinen Schülern liest, einen Leitfaden gibt es nicht mehr. Bärfuss erkennt darin ein Symptom der gesellschaftlichen Atomisierung: „Soziale Gruppen berufen sich auf gemeinsame Erfahrungen, je mehr es sind, umso enger die Bindung. (...) Mit der Zahl der Erzählungen nimmt die Bindung ab, doch damit eine Gesellschaft funktionieren kann, braucht es einen gemeinsamen Bestand. Die bürgerliche Kultur nannte diesen Bestand gemeinsamer Geschichten Kanon.“ Der Teufel steckt hier im Präteritum: Die bürgerliche Kultur ist schon Vergangenheit und verkörpert wurde sie ausgerechnet vom Kanon.
Wenn sich Essayisten an den Kanon klammern, steht es um ihre Ideen selten gut. Gerade ist die Abschaffung des Kanons noch ein progressives Projekt gewesen, weil er als Instrument weißer, männlicher, heteronormativer Hegemonialmacht die Selbstformulierung der marginalisierten Gruppen verhinderte. Seitdem die Welt erlebt hat, welche Macht die Verbindung aus Desinformation und Big-Data-Targeting entfesseln können, werden mit einem abendländischen Seufzer die Ledereinbände wieder aus den Regalen gezogen.
Die kraftvollsten Gesellschaftsbeschreibungen entstehen in diesen Essays ironischerweise immer dann, wenn sie niemanden wachrütteln wollen, sondern sich stattdessen mit erzähltheoretischen Detailfragen beschäftigen. Aus Anlass der gefälschten Reportagen des Spiegel-Journalisten Claas Relotius setzt Bärfuss sich mit den technischen Aspekten des Storytellings auseinander und entwickelt dabei die schlagende Beobachtung, dass sich der Journalismus auf der Jagd nach Reichweite heute häufig derselben Erzähltechniken bedient wie das Marketing. Und wenn der Journalismus aus Geldnot weniger Tatsachen berichte, dafür aber mehr „Geschichten erzähle“, die wiederum selbst zu sozialen Tatsachen würden, dann verschiebe sich eben etwas grundsätzlich. Die Debatte um Fake News, so Bärfuss, stelle deshalb die falsche Frage: Es gehe weniger um Wahrheit oder Lüge, als vielmehr um „Anschaulichkeit und Grad affektiver Beteiligung“. Geschichten seien mächtig, weil man sie nicht mehr aus der Welt bekomme, sobald sie einmal im Bewusstsein verankert seien, gerade deshalb habe man „ihnen bestimme Räume zugewiesen, im Theater, im Roman, im Kino“. Gerade weil die Macht der Geschichte letztlich nicht zu kontrollieren sei, habe man sie institutionell gebändigt.
Diese Räume haben außerdem den Vorteil, dass die Kritik dort strenger, genauer, ungerechter sein darf als in der richtigen Welt: In einem Text beschimpft Bärfuss am Beispiel einer Kurzgeschichte, die er nicht einmal nennt, das identifikatorische Erzählen an sich: Da niemand wissen könne, wie es im Bewusstsein eines anderen aussehe, handele es sich bei jeder Art psychologisierendem Erzählen letzten Endes um Fantastik. Weil diese Art der Literatur sich aber realistisch gebe, ihren fantastischen Charakter also nicht eingestehe, komme hier eine ideologische Dimension zum Vorschein: Psychologisierende Literatur sei ein Fetisch. In diesen Momenten schöner kritischer Intelligenz tritt der Binnenwiderspruch hervor, der auch dieser Sammlung zugrunde liegt: Die bürgerliche Kulturtechnik „Kritik“, deren Verlust an einer Stelle dramatisch betrauert wird, zeigt sich an anderer in bester Verfassung.
Lukas Bärfuss: Die Krone der Schöpfung. Wallstein Verlag, Göttingen 2020, 174 Seiten, 20 Euro.
An den Kanon klammern sich
Essayisten erst, wenn
ihnen gar nichts mehr einfällt
Geschichten sind mächtig,
deshalb wurden ihnen
eigene Räume zugewiesen
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Lukas Bärfuss ist ein Moralist, behauptet Rezensent Jan Wiele. Er möchte selbst ein guter Mensch sein und Werke schreiben, die dieses Gutsein im Sinne globaler Gerechtigkeit reflektieren, lernt Wiele aus den Bärfuss-Essays. Psychologische Einfühlung und Fabulisierungslust im Roman lehnt der Schweizer Autor ab. Doch immerhin gestehe er ihm als Form - solange er "glaubwürdig" ist - noch eine Existenzberechtigung zu. Ist das jetzt Neue Sachlichkeit oder doch eher Sozialistischer Realismus, fragt sich der Rezensent. Etwas sonderbar, dass Bärfuß aber einen Kanon vermisst, der in der Schweiz bereits abgeschafft sei. Glaubwürdiger soll der aber sein, nicht mittels Manipulationen, sondern mit Argumenten erstellt, lesen wir. Wiele möchte drüber nachdenken.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.01.2021Man lese nicht allein
Lukas Bärfuss fordert Solidarität und verbindliche Werte
Wenn man gerade erst die lässigen neuen Essays von Michel Houellebecq gelesen hat, wirken die von Lukas Bärfuss dagegen sehr ernst. Der Schweizer, der 2019 mit dem Büchnerpreis ausgezeichnet wurde, hat schon vielfach gezeigt, wie ernst er das Engagement des Schriftstellers nimmt, in einem Interview hat er etwa gesagt: "Für mich ist es eine Anomalie, Literatur nicht als politisch zu begreifen."
Deutlicher denn je wird in diesem, seinem dritten Essayband, dass Bärfuss das Ideal eines Schriftstellers als eines guten, vorbildlichen Menschen anstrebt. Aus dem Titel des Bandes, "Die Krone der Schöpfung", mag man Sarkasmus angesichts der heutigen Menschheit, vielleicht aber auch einen Appell an diese herauslesen, ihrer Spitzenrolle gerecht zu werden. So jedenfalls kann man den Schluss eines Essays darin über Natur und Kultur verstehen, der, "statt den Menschen zu dämonisieren", dessen Solidarität, Mitgefühl und "Sehnsucht nach einer globalen Gerechtigkeit" beschwört.
"Wir müssen auf unsere Redlichkeit bestehen, als Schriftsteller, als Historiker, als Menschen", sagt Bärfuss. Die jüngst wieder aufgeflammte Debatte über die sprachliche Darstellung von Wahrheit, die für manche gerade in eine puritanisch anmutende Ablehnung der Fiktion mündet, rollt Bärfuss noch einmal grundsätzlich auf, um zu dem Schluss zu kommen, dass alle Abgrenzungsversuche zwischen Fakt und Fiktion, Literatur und Geschichtswissenschaft "nutzlos" seien. "Jede Empfindung für Wahrheit und Wirklichkeit bedarf nicht zuerst des Wissens, sie bedarf des Vertrauens." Dieses Vertrauen müsse der Schriftsteller durch Glaubwürdigkeit gewinnen. Sie erwartet Bärfuss nicht nur von "Individuen und Institutionen", sondern auch von deren Werken.
Das führt bei ihm zu einem Wunsch nach Literatur, die ausdrücklich ihre eigene Gemachtheit herausstellt, statt "Nahtstellen zu kaschieren". In der Ablehnung des Fabulierens und Dramatisierens erinnert seine Kritik an die nouveaux romanciers oder Peter Handke; in der Ablehnung des psychologisierenden Erzählens an Alfred Döblin und die Neue Sachlichkeit. Manchmal allerdings fragt man sich hier, ob Bärfuss vielleicht am ehesten einen neuen Sozialistischen Realismus anstrebt. In der gegenwärtigen Belletristik sieht er eine Flucht ins Ungefähre, in die psychologische Einfühlung, die er als manieristisch und obsolet empfindet, da ja niemand ein anderes Bewusstsein als das eigene kennen könne.
Bärfuss' Positionen sind teils radikale. So radikal, wie er das psychologisierende Erzählen als bürgerlichen, spätkapitalistischen Müll kritisiert, geißelt er auch dessen technische Erscheinungsformen wie Smartphones oder Kopfhörer, weil sie der Vereinzelung dienen: "Vieles ist traurig, aber nichts ist so traurig wie ein Mann in seinen besten Jahren mit einem Noise-Cancelling-Kopfhörer auf den Ohren." Wer so etwas für milde Ironie hält, unterschätzt, wie furchtlos Bärfuss von einem solchen Satz zu dem Schluss gelangt, diese Kopfhörer seien eigentlich Kriegsgerät, ihre Träger mithin Soldaten, also gefährlich.
So verschieden Lukas Bärfuss und Michel Houellebecq, um diese Klammer zu schließen, in ästhetischer Hinsicht sein mögen, haben sie weltanschaulich eines gemeinsam: Beide sind im Grunde große Moralisten. Während der Franzose der reinen Liebe hinterhertrauert, sehnt sich der Schweizer nach ethisch verbindlichen Maßstäben, die auch in der Literatur sichtbar werden. Das zeigt sich nicht zuletzt an seinem Wunsch nach einem Kanon, für den er in einem gegenwärtigen intellektuellen Klima, das alles Kanonische oder überhaupt die Bewertung der Literatur nach Qualitätskriterien schon naserümpfend betrachtet, mutig eintritt: Er tut das am Beispiel der Schweiz, wo es zu seinem Bedauern keinerlei verbindlichen Lehrplan für Literatur mehr gebe, und wiederum aus Motiven der Solidarität: "damit nicht jeder für sich alleine liest". Bärfuss' Kritik hat dabei, weit über die Schweiz hinausreichend, universalen Anspruch: "Bis jetzt wird der Kanon des digitalen Zeitalters nicht durch Argumente und offene Diskurse, sondern durch Manipulation und Algorithmen entwickelt." Könnte man mal drüber nachdenken.
JAN WIELE
Lukas Bärfuss: "Die Krone der Schöpfung". Essays. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 174 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lukas Bärfuss fordert Solidarität und verbindliche Werte
Wenn man gerade erst die lässigen neuen Essays von Michel Houellebecq gelesen hat, wirken die von Lukas Bärfuss dagegen sehr ernst. Der Schweizer, der 2019 mit dem Büchnerpreis ausgezeichnet wurde, hat schon vielfach gezeigt, wie ernst er das Engagement des Schriftstellers nimmt, in einem Interview hat er etwa gesagt: "Für mich ist es eine Anomalie, Literatur nicht als politisch zu begreifen."
Deutlicher denn je wird in diesem, seinem dritten Essayband, dass Bärfuss das Ideal eines Schriftstellers als eines guten, vorbildlichen Menschen anstrebt. Aus dem Titel des Bandes, "Die Krone der Schöpfung", mag man Sarkasmus angesichts der heutigen Menschheit, vielleicht aber auch einen Appell an diese herauslesen, ihrer Spitzenrolle gerecht zu werden. So jedenfalls kann man den Schluss eines Essays darin über Natur und Kultur verstehen, der, "statt den Menschen zu dämonisieren", dessen Solidarität, Mitgefühl und "Sehnsucht nach einer globalen Gerechtigkeit" beschwört.
"Wir müssen auf unsere Redlichkeit bestehen, als Schriftsteller, als Historiker, als Menschen", sagt Bärfuss. Die jüngst wieder aufgeflammte Debatte über die sprachliche Darstellung von Wahrheit, die für manche gerade in eine puritanisch anmutende Ablehnung der Fiktion mündet, rollt Bärfuss noch einmal grundsätzlich auf, um zu dem Schluss zu kommen, dass alle Abgrenzungsversuche zwischen Fakt und Fiktion, Literatur und Geschichtswissenschaft "nutzlos" seien. "Jede Empfindung für Wahrheit und Wirklichkeit bedarf nicht zuerst des Wissens, sie bedarf des Vertrauens." Dieses Vertrauen müsse der Schriftsteller durch Glaubwürdigkeit gewinnen. Sie erwartet Bärfuss nicht nur von "Individuen und Institutionen", sondern auch von deren Werken.
Das führt bei ihm zu einem Wunsch nach Literatur, die ausdrücklich ihre eigene Gemachtheit herausstellt, statt "Nahtstellen zu kaschieren". In der Ablehnung des Fabulierens und Dramatisierens erinnert seine Kritik an die nouveaux romanciers oder Peter Handke; in der Ablehnung des psychologisierenden Erzählens an Alfred Döblin und die Neue Sachlichkeit. Manchmal allerdings fragt man sich hier, ob Bärfuss vielleicht am ehesten einen neuen Sozialistischen Realismus anstrebt. In der gegenwärtigen Belletristik sieht er eine Flucht ins Ungefähre, in die psychologische Einfühlung, die er als manieristisch und obsolet empfindet, da ja niemand ein anderes Bewusstsein als das eigene kennen könne.
Bärfuss' Positionen sind teils radikale. So radikal, wie er das psychologisierende Erzählen als bürgerlichen, spätkapitalistischen Müll kritisiert, geißelt er auch dessen technische Erscheinungsformen wie Smartphones oder Kopfhörer, weil sie der Vereinzelung dienen: "Vieles ist traurig, aber nichts ist so traurig wie ein Mann in seinen besten Jahren mit einem Noise-Cancelling-Kopfhörer auf den Ohren." Wer so etwas für milde Ironie hält, unterschätzt, wie furchtlos Bärfuss von einem solchen Satz zu dem Schluss gelangt, diese Kopfhörer seien eigentlich Kriegsgerät, ihre Träger mithin Soldaten, also gefährlich.
So verschieden Lukas Bärfuss und Michel Houellebecq, um diese Klammer zu schließen, in ästhetischer Hinsicht sein mögen, haben sie weltanschaulich eines gemeinsam: Beide sind im Grunde große Moralisten. Während der Franzose der reinen Liebe hinterhertrauert, sehnt sich der Schweizer nach ethisch verbindlichen Maßstäben, die auch in der Literatur sichtbar werden. Das zeigt sich nicht zuletzt an seinem Wunsch nach einem Kanon, für den er in einem gegenwärtigen intellektuellen Klima, das alles Kanonische oder überhaupt die Bewertung der Literatur nach Qualitätskriterien schon naserümpfend betrachtet, mutig eintritt: Er tut das am Beispiel der Schweiz, wo es zu seinem Bedauern keinerlei verbindlichen Lehrplan für Literatur mehr gebe, und wiederum aus Motiven der Solidarität: "damit nicht jeder für sich alleine liest". Bärfuss' Kritik hat dabei, weit über die Schweiz hinausreichend, universalen Anspruch: "Bis jetzt wird der Kanon des digitalen Zeitalters nicht durch Argumente und offene Diskurse, sondern durch Manipulation und Algorithmen entwickelt." Könnte man mal drüber nachdenken.
JAN WIELE
Lukas Bärfuss: "Die Krone der Schöpfung". Essays. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 174 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Dem Autor und Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss geht es in jeder Zeile um das Ganze« (Felix Stephan, Süddeutsche Zeitung, 24.11.2020) »ein hochanregender Essayband« (Wilm Hüffer, SWR2 am Morgen, 02.12.2020) »Deutlicher denn je wird in diesem, seinem dritten Essayband, dass Bärfuss das Ideal eines Schriftstellers als eines guten, vorbildlichen Menschen anstrebt.« (Jan Wiele, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.01.2021) »empathisch geschrieben - deshalb sehr lesenswert« (Brigitta Klaas Meilier, P.S., 29.01.2021)