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Kleine Geschichten verraten mitunter mehr als große Programme: Werner Busch prüft Künstleranekdoten auf ihren Erkenntniswert.
Von Kai Spanke
Museumsbesuche sind ein schöner, aber oft auch seltsamer Zeitvertreib. Denn wer die Sammlungen großer Häuser durchstreift, wird darüber staunen, wie vorhersehbar sich das Nacheinander der Werke darstellt. Geschichte erscheint als nahtlose Entwicklung, die sich ohne Probleme in ästhetische Lösungen übersetzen lässt. Die vermeintliche Kontinuität ist nicht zufällig zum musealen Standard geworden. Vielmehr hat sie zahlreiche Fürsprecher, die ihr über Fachgrenzen hinaus Geltung verschaffen. Der wichtigste unter ihnen war Ernst Gombrich, dessen Monographie zur Geschichte der Kunst so gut lesbar ist, weil sie ihren Gegenstand in einen Prozess ohne nennenswerte Widerstände einbettet.
Solch eine Ordnung lässt für Brüche genauso wenig Platz wie für jene scheinbaren Petitessen, die bedeutende Ereignisse flankieren. Das ist bedauerlich, denn auch Details am historischen Wegesrand könnten ein Schlüssel zum Verständnis einer Person oder Begebenheit sein. In keiner Textform sind diese großen Kleinigkeiten besser aufgehoben als in der Anekdote. Sie liefert Gegenentwürfe zur Geschichtsschreibung und taugt als Korrektiv staatstragender Erzählungen. Obwohl ihr Wahrheitsgehalt oft in Frage gestellt werden muss, kann sie dabei helfen, eine Sache in höherer Auflösung zu erkennen. Eine Anekdote als solche zu identifizieren ist nicht schwer, sie zu definieren kann allerdings zur Herausforderung werden, da sie, je nach Funktion, Zeit und Kontext, unterschiedliche Gestalt annimmt.
Werner Busch, von 1988 bis 2010 Professor für Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin, hat sich mit einem speziellen Typus dieser Gattung auseinandergesetzt - der Künstleranekdote. Sie geht zum größten Teil auf antike Viten zurück, die Plinius der Ältere im fünfunddreißigsten Buch seiner "Naturgeschichte" überliefert hatte. Busch zufolge trat sie für europäische Maler an die "Stelle der klassischen Kunsttheorie, die auf Idealisierung zielte". Da es eine grundlegende Doktrin realistischer Kunst nie gegeben hatte, mussten sich Maler, denen es um direktere Abbildungen der Wirklichkeit ging, "die Abqualifizierung ihres Zugriffs durch die der Klassik verpflichteten Künstler gefallen lassen".
Die einzelne Anekdote ist für Busch nicht um ihrer selbst willen von Interesse. Vielmehr fragt er sich, ob ein Forscher, der sie entschlüsseln kann, das Werk des Künstlers so besser begreift als durch die "Rekonstruktion quellengestützter, faktenmäßig unterfütterter historischer Zusammenhänge". Pate dieser Idee ist der New Historicism, dessen Vertreter, allen voran Stephen Greenblatt, gerade den abwegigen Seiten der Anekdote einen Erkenntniswert zuschreiben. Sie bringe "das Andersartige der Vergangenheit zum Vorschein, das Heterogene, Übersehene, Irritierende, das die offizielle Geschichtsschreibung gern unterschlägt".
Während sich der New Historicism vor allem um die Renaissance verdient gemacht hat, beschränkt sich Busch auf die Zeit vom achtzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert. Das liegt unter anderem daran, dass um 1750 das Ende der klassischen Kunsttheorie und einer rhetorischen Tradition erreicht war, "zu deren Bestandteilen die Anekdote als bildhafte Sprachregelung gehörte". Unter diesen Umständen erscheint die nach wie vor populäre Künstleranekdote besonders instruktiv, weil ihre Funktion im Wesentlichen unverändert blieb: Sie beschreibt den geglückten direkten Zugriff des Künstlers auf die Natur.
Das illustrieren etwa viele Werke des Engländers George Stubbs (1724 bis 1806). Um 1762 fertigte er ein monumentales Porträt des arabischen Hengstes Whistlejacket an. Das Pferd gehörte dem zweiten Marquess of Rockingham, Charles Watson-Wentworth. Auf dem Gemälde dreht es den Kopf zum Betrachter und steht in der Levade da. Diese Pose gebührt als Zeichen der Überlegenheit eigentlich dem aufgesattelten Herrscher. Deswegen nahm man an, Stubbs habe nur den Auftrag erhalten, das Pferd zu malen, während andere Künstler den König und den Hintergrund beisteuern sollten. Busch zweifelt an dieser Darstellung, weil Rockingham wahrscheinlich längst mit George III. gebrochen hatte, als er das Bild in Auftrag gab.
Details zu Stubbs' Leben finden sich in einem Text seines Kollegen und Freundes Ozias Humphry. Darin ist zu lesen, Stubbs habe das fast vollendete Gemälde einmal so aufgestellt, dass Whistlejacket einen Blick darauf erhaschen konnte. Der Hengst sei sofort in höchste Erregung verfallen und zum Angriff übergegangen. Nachdem Rockingham davon hörte, habe er angeordnet, das Porträt solle nur das Pferd vor neutralem Hintergrund zeigen. In dieser Anekdote erkennt Busch eine rhetorische Figur, welche die theoretische Position des Künstlers markiert. Humphry wolle den "Wirklichkeitszugriff von Stubbs nicht nur rechtfertigen, sondern als eine eigenständige künstlerische Qualität herausstreichen, die gleichberechtigt neben einer klassisch-idealistischen Kunstauffassung steht". Vorbild ist Vasari. In seinen Viten erwähnt er ein gemaltes Pferd, das Bramantino so naturgetreu hinbekommen habe, dass es von einem lebenden attackiert worden sei.
Über Thomas Gainsborough (1727 bis 1788) sind etliche Anekdoten in Umlauf, die sich um seine Instrumentensammlung drehen. Einmal habe er einen deutschen Musikprofessor aufgesucht und ihm gesagt, er wolle dessen Laute kaufen. Keine Chance. Daraufhin habe Gainsborough eine so absurd hohe Summe geboten, dass der Handel doch zustande gekommen sei. Als Nächstes habe er die Kompositionen des Professors für die Laute erwerben wollen, um schließlich darauf zu bestehen, von ihm unterrichtet zu werden. So berichtet es der schottische Autor Allan Cunningham im Jahr 1829. Für Busch drückt sich in Gainsboroughs "Instrumentenmanie" eine "Sehnsucht nach den perfekten Tönen aus, und diese Suche dürfte als Metapher für die absolute Tonalität in der Malerei stehen".
Eines der eindrucksvollsten Bilder von William Turner (1775 bis 1851) ist "Snow Storm" von 1842. Es zeigt ein Schiff im Schneesturm, das sich aufgrund des skizzenhaften Stils in Form- und Farbwirbeln auflöst. Turner verbreitete damals, er habe sich bei einem Unwetter von der Mannschaft des Dampfers Ariel an den Mast fesseln lassen, um die Naturgewalt so unmittelbar wie möglich zu erleben. Einerseits macht er sich so zum Nachfolger des Odysseus, der sich während seiner Irrfahrt an einen Mast binden ließ, um dem Gesang der Sirenen zu widerstehen. Andererseits bezieht er sich auf den Luftgeist Ariel in Shakespeares "Sturm". Ob eindeutige Referenz oder Flunkerei, sachkundig und stilsicher zeigt Werner Busch, wie solche Anekdoten ein Werk im kulturellen Raum verorten und theoretisch bestimmen. Davon profitiert nicht nur die Kunstgeschichte, sondern auch der auf Ordnung konditionierte Blick des Museumsbesuchers.
Werner Busch: "Die Künstleranekdote".
1760-1960.
C. H. Beck Verlag, München 2020. 303 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
Erscheint am 16. Oktober.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Übersehene
Werner Busch fragt, was Künstleranekdoten
über Werk und Zeit verraten
VON LOTHAR MÜLLER
Zeuxis kann Trauben so täuschend ähnlich malen, dass Sperlinge an ihnen picken. Aber er geht seinem Konkurrenten Parrhasios auf den Leim, der im Gegenzug einen Vorhang gemalt hat. Vergeblich und zunehmend ungeduldig wartet Zeuxis darauf, dass Parrhasios den Vorhang wegzieht. Es ist kein Bild hinter dem Vorhang, er selbst ist das Bild. Parrhasios hatte gewonnen. Diese und andere Künstleranekdoten, die Plinius der Ältere in seiner „Naturgeschichte“ erzählt, feierten die Naturnachahmung. Eingebettet waren sie in Lebensgeschichten der Künstler.
Werner Busch, emeritierter Professor für Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin, hat die antiken Künstleranekdoten bestimmt hundertfach erzählt und dann den Bogen in die Frühe Neuzeit geschlagen, zu den Künstlerviten Giorgio Vasaris. Immer steckten in den Anekdoten Grundannahmen über die Kunst, immer waren sie scheinbar dem Leben abgelauscht. Was aber wird aus den normativen und reflexiven Potenzialen der Anekdoten, wenn sich, wie es seit der Mitte des 18. Jahrhunderts geschieht, die Kunsttheorie von ihnen emanzipiert und nur noch die Werke sprechen lässt?
Diese Frage hat Busch zum Ausgangspunkt seines neuen Buches gemacht. „Die Künstleranekdote 1760-1960“ ist ein sehr weiträumiger Titel, der mehr Erwartungen weckt als das Buch halten kann. Eine durchgängige Erzählung ist es nicht, eher ein Zwitter aus Aufsatzsammlung und Monografie. Busch, der immer schon ein besonderes Faible für die englische Kunst hatte, hat zwei – bereits gedruckte – Aufsätze über den Pferdemaler George Stubbs und William Turners Gemälde „Rain, Steam and Speed“ aufgenommen und durch eine umfangreiche Studie über Thomas Gainsborough ergänzt. Sie bildet das Zentrum des mit einem vierfarbig gedruckten Tafelteil versehenen Buches. Deutschland im 19. Jahrhundert ist mit den Zeichnungen Adolph Menzels zu Franz Kuglers „Geschichte Friedrichs des Großen“ vertreten. Dann folgt ein Sprung in die Abstraktion, zu den Amerikanern Mark Rothko, Barnett Newman und Ad Reinhardt.
Exemplarische Probebohrungen also, statt der Geschichte einer kleinen Form, die von ihren mündlichen Ursprüngen lebt. Die Anekdotendichte ist eher gering. Und kaum einmal wird eine Anekdote vollständig nach der Quelle zitiert, der sie entstammt. Sein Konzept begründet Busch im Anschluss an den amerikanischen New Historicism, für den die Anekdote mehr ist als nur „Flechtwerk am Stamm der verbindlichen Geschichtsauffassung“. Sie bringe vielmehr „das Andersartige der Vergangenheit zum Vorschein, das Heterogene, Übersehene, Irritierende“. Das heißt, es gibt keinen Funktionsverlust der Künstleranekdoten nach dem mittleren 18. Jahrhundert. Ihre höchste Bestimmung, Reflexion und Theorie in sich aufzunehmen, haben sie nicht verloren. Nur stehen sie nicht mehr im Dienst der Bekräftigung und Kanonisierung der offiziellen Selbstbilder der Künstler oder ihrer erfolgreichsten Interpreten. Interesse verdienen die modernen Künstleranekdoten, weil sie, kritisch gelesen, die Selbstbilder und dominanten Zuschreibungen dementieren. Das ist, leicht vereinfacht, das Grundmuster, dem dieses Buch folgt. Werner Busch, virtuoser Kunsthistoriker, der er ist, schaut sich die Bilder eines Künstlers an, dann die Anekdoten, die über ihn kursieren, und schließlich setzt er sich in der Lücke fest zwischen dem, was die Anekdoten behaupten, und dem, was er auf den Bildern sieht.
Bei George Stubbs stößt er auf eine Anekdote zu dem grandiosen, 1762 entstanden Bild, das den Hengst „Whistlejacket“ vor einem monochromen Hintergrund zeigt, unter Verzicht auf jede narrative Situation. Aber wer will, kann sich vom Blick des Pferdes erfasst fühlen. Die Anekdote besagt, dass der Maler das Bild aus der Malposition genommen hat, um seine Wirkung zu prüfen und dabei dem Pferd den Rücken zukehrt. Da stürmt der Hengst auf sein Konterfei zu, will angreifen und ist kaum mehr zu bändigen. Mit Mühe kann der Maler es mit Hilfe von Malstock und Palette bändigen. Der Auftraggeber ist hoch zufrieden. Die Anekdote folgt dem Plinius-Modell der gemalten Trauben, nach denen die Vögel picken. Busch demonstriert, dass die Anekdote eine Art spanische Wand ist, hinter der Stubbs der Naturverpflichtung nicht nachkommt, sondern sie in Richtung auf die Historienmalerei und die Ästhetik des Erhabenen überschreitet.
Zu Recht interessiert sich Busch wenig für die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Anekdoten und umso mehr für ihre rhetorische Funktion. Wenig bleibt im Blick auf den berühmten „Blue Boy“ und andere Porträts, die Landschaften und die Musik-Obsession von Thomas Gainsboroughs Selbststilisierung als Ausbund von Unbildung. Die scheinbar stabile Opposition des antiklassischen Gainsborough und des klassizistischen Sir Joshua Reynolds gerät ins Wanken. Was aber die Rhetorik des Autors Busch angeht, so fällt auf, dass die Anekdoten gar nicht im Zentrum seiner argumentativen Dramaturgie stehen. Im Kapitel über Adolph Menzel und Friedrich den Großen geht es vor allem um die Transformation der überlieferten Herrscheranekdoten, auf die Franz Kugler sich stütze: „Im Gegensatz zu Kugler, der immer nur kurz von Verlusten, Tod und Verwüstung spricht, um dann doch zur letztlich uneingeschränkten Verehrung des großen Schlachtenlenkers überzugehen, bleibt Menzel bei Tod und Verderben und spart den Sieger aus.“ Die zahlreichen Künstleranekdoten, die es zu Menzel gibt, braucht Busch für diese These im Grunde nicht. Er verzichtet auf sie „zugunsten eines bloßen Resümees“ und damit auch auf eine Erörterung des Kontrasts von Künstler- und Herrscheranekdote.
Busch verschiebt das Plinius-Motiv des Wettstreits der Künstler auf die Ebene der Kunstkritik. In den Anekdoten bündelt und fokussiert er nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit seinen Kollegen. Dafür bringt er eine allegorische Figur ins Spiel. Sie heißt „die Forschung“. Meist hat sie etwas übersehen, weiß mit einer Anekdote nichts Rechtes anzufangen oder lässt sich von ihrem suggestiven Charme täuschen.
Bei der Suche nach der Tiefe in den Bildern Mark Rothkos, der die Kunst als „die Anekdote des Geistes“ bestimmt, in der Kritik an Barnett Newman oder in der Auseinandersetzung mit Ad Reinhardts Deutung seiner schwarzen Bilder als Vollendung des Schwarzen Quadrats von Malewitsch geht es eher um den Begriff des Anekdotischen oder die Aneignung des Modells „Künstlervita“ als um erzählte Anekdoten. Das mindert nicht den Anregungsreichtum dieser Aufsätze, die von beeindruckenden Schilderungen der physischen Erfahrung von Bildern durchsetzt sind. Entwürfe zu einer Geschichte der modernen Künstleranekdote sind sie aber nur in zweiter Linie.
Der Hengst stürmt auf sein
Konterfei zu und ist
kaum zu bändigen
Werner Busch:
Die Künstleranekdote. 1760-1960.
Verlag C.H. Beck,
München 2020.
303 Seiten, 29,95 Euro.
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Süddeutsche Zeitung, Lothar Müller
"Busch (...) will die Anekdote nicht simpel als Hokuspokus entlarven, sondern verbindet sie elegant mit detailseliger Werkbetrachtung und Wirkungsgeschichte, ohne Anspruch auf Vollständigkeit."
ZEIT, Alexander Cammann
"Sachkundig und stilsicher zeigt Werner Busch, wie solche Anekdoten ein Werk im kulturellen Raum verorten und theoretisch bestimmen. Davon profitiert nicht nur die Kunstgeschichte, sondern auch der auf Ordnung konditionierte Blick des Museumsbesuchers."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Kai Spanke
"Die Anekdote bringt das Andersartige und Übersehene zum Vorschein."
WELT am Sonntag, Marcus Woeller
"Für Kunstfreunde, die sich abseits von gängigen Katalogtexten in Leben und Werk vertiefen wollen, ist Buschs Buch ein Genuss."
Buchkultur, Holger Ehling
"Dieses Buch liest sich als überzeugendes Plädoyer für die Rekonstruktion des Orts der Kunst in der Geschichte."
Badisches Tagblatt, Kirsten Voigt
"Busch bietet eine Menge kunsthistorischer Gelehrsamkeit, die großteils mit Gewinn goutierbar ist, zumal sie in einer angenehm flüssigen, unprätentiösen Prosa präsentiert wird."
Landshuter Zeitung, Alexander Altmann