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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Stifter, Poe, Nerval und Hoffmann: Norbert Millers üppiger Band "Die künstlichen Paradiese" führt uns in elf Studien zur Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, in die Zauberreiche des Traums und der Phantasie und findet in ihnen die Wirklichkeit.
Es ist dies ein in mehrfacher Hinsicht großes Buch - es ist profund, generös, wie unerschöpflich mit seinen fast neunhundert Seiten. Zu seinen Dimensionen gehört emphatisch auch diese Länge, die heroisch und üppig ist. Lange Bücher pflegen nachgerade Misstrauen zu erwecken. Falsch! Bei einem von Norbert Millers Lieblingsautoren, Gilbert Keith Chesterton, findet man die luzide Bemerkung (anlässlich der Romane von Walter Scott), es sei "gewiss ein sehr eigenartiger Umstand, dass ausschließlich in der Literatur ein Haus wegen seiner Geräumigkeit verabscheut wird, ein Gastgeber wegen seiner Großzügigkeit". Und Chesterton lädt den Leser ein, es den Figuren von Scotts Romanen gleichzutun, die mit heldenhafter Ausführlichkeit tafeln und trinken. "Der Leser sitzt bis weit in die Nacht hinein bei seinen Banketten." Das ist die Lektüreanweisung für Millers Buch, das bei allem listenreichen Wissen und aller staunenswerten Belesenheit kraft seiner hingerissenen Liebe zu den Texten etwas höchst Festives hat, etwas, das den Leser einlädt, als Komplize eine große Leidenschaftsinszenierung mitzugenießen.
Was haben wir hier? Eine sorgfältig komponierte, grob chronologische, zwischen drei Literatursprachen wechselnde Reihe von elf Studien zur Romantik. Sie gelten Restif de la Bretonne, Jean Paul, Coleridge, E. T. A. Hoffmann, De Quincey, Charles Nodier, Mörike, Edgar Allan Poe, Gérard de Nerval, Stifter, Baudelaire, und der Begriff des Romantischen ist entsprechend weit zu fassen. Der Titel "Die künstlichen Paradiese" zitiert Baudelaires Studien zu Opium und Haschisch in der Nachfolge De Quinceys; Millers Untertitel proklamiert dann als Thema "Literarische Schöpfung aus Traum, Phantasie und Droge". Man könnte sich damit amüsieren, das dritte Element dieser Trias einen Augenblick lang ganz ernst zu nehmen und zu denken: Hier wird gezeigt, dass die Droge von Restif de la Bretonne das nächtliche Flanieren durch Paris war, die Droge Mörikes aber Orplid (jenes, mit einem von Arno Schmidt entlehnten Begriff, "längere Gedankenspiel", dessen Fragmente und Echos sich bei Mörike im "Maler Nolten" und anderswo sowie in Texten und Briefen des Freundes Ludwig Bauer finden). In einer solchen Zuordnung steckte etwas von dem ungeheuren, süchtigen Ernst, den Literatur-Traum und Literatur-Phantasie auch dann haben können, wenn sie sich keiner physiologischen Rauschmittel bedienen.
Zu den Schlüsseltexten des Buches gehört - vielleicht vor allen anderen - Baudelaires Gedicht "Invitation au voyage", und wie keiner der hier beschworenen Titel ist dies Norbert Millers Programm: den Leser zu einer unerhörten Ausfahrt einzuladen, einer Fahrt in Landschaften des Äußeren und des Inneren, die - das gehört zur Logik dieser Reisen - ineinander verschwimmen, sich so kunstvoll ineinander auflösen wie in diesem Buch philologische Exaktheit und poetische Beschwörung. Die Lyrik hat große Bedeutung (Poes "Raven"; die großen Dichtungen von Coleridge: "The Rime of the Ancient Mariner", "Christabel", "Kubla Khan"; Mörikes "Gesang Weylas"), noch größere aber das oft ins Prosapoem übergehende romantische Erzählen. Ist schon die Parade der elf Studien beeindruckend, so wird das Buch durch ständige winzige Exkurse (die oft nur wenige Zeilen umfassen, aber immer einen komplexen Traditionszusammenhang überraschend fixieren) weiter angereichert, Verweise auf Salvator Rosa, Mrs. Radcliffe und Dutzende von anderen; wenn Miller beispielsweise seine große Interpretation des Landschaftsgartens bei Poe ("Die Domäne von Arnheim") entfaltet, werden dem Leser knappe, verlockende Perspektiven auf Ludwig II., Fürst Pückler-Muskau, Beckford und John Cowper Powys vorgeführt, und unerwartet und völlig logisch erfolgt bei dieser ungeheuren Bootsfahrt mit einem Mal eine kurze Beschwörung von C. F. Meyers Gedicht "Meine eingelegten Ruder triefen . . .". Der hohen Bedeutung der sich öffnenden Perspektive in der romantischen Landschaftsästhetik entspricht diese Faszination durch eine sich plötzlich darbietende Verbindungslinie zu einem ganz anderen OEuvre, die Miller blitzschnell zieht. Es versteht sich bei diesem Autor, dass auch immer wieder Echos aus Musik, Malerei und Grafik hörbar werden. Der Leser kann viele Bezüge zu den Themen von Millers früheren Büchern entdecken, etwa den Monographien zu Piranesi, Horace Walpole, William Beckford und Goethe in Italien.
Die elf Studien sind erkennbar das Produkt jahrzehntelanger, insistenter Beschäftigung mit bestimmten Schlüsselwerken des Romantischen. Nicht nur viel Reflexion und Gelehrsamkeit haben sich hier sedimentiert, sondern man spürt auch die Hellsichtigkeit lange genossener Begeisterung. Wer zum ersten Mal oder mit erneutem Interesse Hoffmanns "Prinzessin Brambilla" und deren grafisches Substrat bei Jaques Callot erforschen will oder das schmerzliche Zerwürfnis der beiden Autoren der "Lyrical Ballads", Coleridge und Wordsworth; wer sich auf einem neuen Weg Stifters "Nachsommer" nähern möchte, Nodiers wunderbarer "Krümelfee" oder den so erstaunlich als "poèmes en prose" lesbaren Narrationen Jean Pauls (wie sie Stefan George und Karl Wolfskehl als Anthologie versammelt haben), überlasse sich den Verführungen dieses Buches. Aufzählungen und Benennungen können nur von ferne andeuten, worin dessen Faszination liegt.
Der zwischen Dresden und Atlantis sich verstrickende Held von Hoffmanns "Goldenem Topf" tritt aus dem Tor auf den Obstmarkt und stolpert über einen Apfelkorb. "Beide Seiten der Wirklichkeit schnappen im gleichen Augenblick nach ihm, das Alltägliche und das Fremde, die Gewohnheit und das Abenteuer, und eine mit allen Nuancen spielende Instanz hält alle, auch die verworrensten Fäden in der Hand und schließt darüber mit dem Leser einen Pakt." Diese Instanz, die hier mit dem Leser paktiert, ist der Erzähler Hoffmann, aber im Kontext des vorliegenden Buches treffen die Worte auf Norbert Miller selbst zu - der entlegene wie scheinbar altbekannte Reiche der Literatur durchreist und uns einlädt, mit ihm an Bord zu gehen zu tausend und einer Fahrt. Kein Leser, dem noch genügend Neugier geblieben ist, sollte diese Einladung ausschlagen. Hier von den Zauberreichen des Traums und der Phantasie zu reden wäre natürlich nur eine sentimentale Phrase, wenn es Miller nicht gelänge, das Geheimnis dieser Literaturentwürfe in seiner ganzen komplexen Sinnlichkeit aufsteigen zu lassen, uns die Mysterien konkreter, quasi körperlicher Faszination zu zeigen, die in den Bildern, Handlungsvolten, Stimmungen wohnen. Diese Paradiese sind künstlich, das heißt: Sie besitzen eine unglaubliche Wirklichkeit.
Man könnte endlos zitieren aus diesem Buch mit seinen zahllosen verblüffenden und befriedigenden Sätzen. "Um dem Masken- und Schicksalsdurcheinander ein seliges Ende zu bereiten, bleibt den Beteiligten nur das achte Kapitel." Die Seligkeit, die Miller weniger als starke Metapher denn als Begriff verwendet, ist eine Art Synonym des Paradiesischen: die einen Augenblick erlangte Erfüllung eines Traumes, in dem sich Welt, Natur, Menschengewimmel auf einmal so geordnet haben, wie wir es uns insgeheim ersehnen. Der Leser bliebe dann gerne, um rasch einen zwölften Autor zu zitieren, "in den Wäldern selig verschollen", den großen Wäldern der Literatur, deren Weg uns immer fort vom Leben führt und dann mit einem Mal in dessen Zentrum. Die Seligkeit und das Paradies: Sie zu erlangen, haben die hier vorgeführten Autoren oft stupende Anstrengungen unternommen, und das Buch zeigt uns auch Obsessivität und Schmerzlichkeit solcher Phantasien: "Eine aus Kunst und Wahn entworfene Paradieses-Landschaft, der Poes Träume bis an sein Ende gegolten haben." "Nur das persönlichste Wort trägt die Wahrheit in sich. Nur die schutzlose Offenheit schützt gegen Täuschung, wo jede Täuschung Wahrheit sein will" (apropos Nerval). "Die von Mörike wieder und wieder sich selbst abgezwungene Einsicht in den Rätselcharakter aller menschlichen Welterfahrung": Es sind dies auch elf Meditationen über das Begehren, dessen Radikalität, die Gewalt seines Sehnens, seine Siege und die Ruinenfelder seines Scheiterns.
Wie kaum ein Literaturhistoriker versenkt sich Miller, ohne der rigorosen Philologie zu entsagen, in das lustvolle Geheimnis, in den Genuss der Texte. Dieser einem kurzsichtigen Theoriefetischismus radikal altmodisch erscheinende Ansatz der lektüreerfahrenen Kennerschaft demonstriert jedoch, dass er etwas entscheidend Zukünftiges enthält: Wenn man sich mit Literatur umfassend beschäftigen will, muss der analytisch Vorgehende auch das Hinreißende von Texten erfahren haben, genießend, träumend, mit dem Willen zur Berauschtheit.
Jedem Kapitel ist eine klug ausgewählte, von Fall zu Fall auch farbige Illustration vorangestellt. Der Anmerkungsapparat enthält Exkurse und bibliographische Hinweise. Die im Text behandelten längeren Zitate der französisch- und englischsprachigen Autoren werden am Fuß der Seite im Original zitiert. Der Verlag hat den Band schön und großzügig ausgestattet, sodass es auch von diesem Aspekt her für den Leser ein Genuss ist, sich in Norbert Millers Veduten hineinzuverlieren. JOACHIM KALKA
Norbert Miller: "Die künstlichen Paradiese". Literarische Schöpfung aus Traum, Phantasie und Droge.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 888 S., geb., 48,- Euro.
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