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Subjektiv und subversiv: Hermann Kurzkes Kanon
"Alle Bücher zu kennen ist philiströs. Die seinen herausfinden ist Bildung." Entsprechend subjektiv ist auch die Ausrichtung der gesammelten Essays des Germanisten Hermann Kurzke. Zwar ist die vermessene Bandbreite, von Wieland bis Günter Grass, vom Kirchenlied bis zur Gestaltung seiner Bibliothek, immens, doch werden rasch Schwerpunkte und Neigungen ersichtlich. Neben Thomas Mann und Novalis, zu denen Kurzke wichtige Bücher veröffentlicht hat, sind dies etwa die Autoren der inneren Emigration, die Tradition konservativen Denkens oder die Rolle der Religion im Zeitalter nach der Aufklärung.
Kurzkes Verhältnis zur Romantik ist ambivalent. Einerseits verurteilt er ihre Wirklichkeitsflucht und Innerlichkeit, andererseits affirmiert er ihre mythenstiftenden Tendenzen. Das Projekt der neuen Mythologie, die Revitalisierung der Religion durch die Poesie, hat für ihn nichts an Aktualität eingebüßt, um der rationalen Welt Zauber und Geheimnis zurückzugeben, Modernisierungsschäden zu heilen. "Wo keine Götter sind, walten Gespenster", wird Novalis mehrfach zustimmend zitiert. Man könnte dies naiv oder reaktionär nennen, wenn es von Kurzke nicht so durchdacht präsentiert würde - alle Gegenargumente dekliniert er selbst schon durch.
Als Höhepunkt seines im ersten Teil des Bandes vorgestellten subjektiven Kanons, als "größtes Ereignis" seines ganzen Lektürelebens firmiert entsprechend Thomas Manns Roman "Joseph und seine Brüder": "Es ist Kulturarbeit, nicht Schwindel, ein Bild Gottes hervorzubringen. Arbeit am Mythos ist gut für den Menschen." Auch wenn man nicht alle Thesen Kurzkes teilen muss und sein stark identifikatorischer Zugang zur Literatur Geschmackssache ist, besticht sein Talent zu pointierten Wendungen. Herausragend ist in dieser Hinsicht sein schöner Stifter-Essay "Das Opium der Nostalgie" - prägnanter kann man dessen Werk auf gerade einmal fünf Seiten kaum charakterisieren.
Die Verbindung von literaturkritischem Urteil und wissenschaftlicher Akribie machen die Essays auch für ein breiteres Publikum interessant. Hier wird nicht nur gelobt und analysiert, sondern auch gescholten, hier wird nicht nur gesammelt, sondern auch selektiert. Die Liebe zur Literatur, die Kurzke laut Selbstaussage auch bei seinen Studenten voraussetzte, ist zu jeder Zeit erkennbar - in mancher Germanistenprosa vermisst man leider nichts so sehr wie das.
THOMAS MEISSNER
Hermann Kurzke: "Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur und andere Essays". Verlag C. H. Beck, München 2010. 256 S., br., 14,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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