Liao Yiwu dokumentiert in diesem Buch die Geschichten von Opfern und Überlebenden des Tiananmen-Massakers am 4. Juni 1989. Über Jahre führte er heimlich im Untergrund Interviews, die er lange aufbewahrte, um sie jetzt, außerhalb Chinas zu veröffentlichen. Ding Zilin und Jiang Peikun, die die »Bewegung der Mütter von Tiananmen« gegründeten, haben für das Buch eine Liste der Opfer zusammengestellt. Ihre Namen dürfen in China nicht veröffentlicht werden. »Ein chinesischer Schriftsteller, der sprachmächtig und unerschrocken gegen die politische Unterdrückung aufbegehrt und den Entrechteten seines Landes eine weithin hörbare Stimme verleiht. Liao Yiwu setzt in seinen Büchern und Gedichten den Menschen am Rand der chinesischen Gesellschaft ein aufrüttelndes literarisches Denkmal. Der Autor, der am eigenen Leib erfahren hat, was Gefängnis, Folter und Repression bedeuten, legt als unbeirrbarer Chronist und Beobachter Zeugnis ab für die Verstoßenen des modernen China.« Aus der Begründung für den Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2012
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Stimmen der Verstummten
Der jüngste Erbe von Dantes Höllenfahrt: In seinem Gesprächsband "Die Kugel und das Opium" schildert Liao Yiwu Massaker und Verhaftungen im China von 1989.
Morgen erhält Liao Yiwu den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Und pünktlich zum Ereignis bringt der S. Fischer Verlag das neue Buch des chinesischen Dissidentendichters heraus: "Die Kugel und das Opium". Es ist - wieder - kein genuin literarisches Werk des Mannes, der als avancierter Lyriker begann, sondern in der Tradition von Liaos erster deutscher Publikation "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" (2009) ein Gesprächsband. Aber was für ein Gesprächsband!
Nämlich doch insofern ein literarischer, als Liao einen klassischen Topos zum strukturellen Vorbild nimmt: die Höllenfahrt, wie sie seit Dantes "Göttlicher Komödie" bekannt und unzählige Male übernommen wurde. Auch Liao ist unterwegs in die Abgründe einer Gesellschaft, um mit den von ihr Verdammten zu sprechen: mit Menschen, die jahrelange Haftstrafen zu erdulden hatten - und was das in China bedeutet, davon kann man sich durch Liaos eigenen Zeugenbericht "Für ein Lied und hundert Lieder" (2011) eine Vorstellung machen. War Dante in Begleitung von Vergil in die Hölle hinabgestiegen, so wird Liao Yiwu von Wu Wenjian begleitet, einem Maler, der 1989 als Neunzehnjähriger verhaftet wurde und sieben Jahre im Gefängnis verbrachte. Er stellte für Liao in den Jahren 2005 bis 2007 Kontakte zu zahlreichen anderen ehemaligen Häftlingen her, die nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 3. und 4. Juni 1989 festgenommen worden waren. Und während Liao der Hölle entkommen ist, sitzen alle seine Gesprächspartner noch in China - auf den Trümmern ihrer Lebensentwürfe, die auf dem Tiananmen genauso starben wie die ungezählten Opfer der Panzer und Schützen.
Doch schon hat man etwas falsch gemacht, wenn man nur von den Massakern auf dem Tiananmen spricht (obwohl es der Untertitel des Buchs, "Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens", genauso hält). Denn wenn man aus den fünfzehn Gesprächen eines lernt, dann, dass der Blick allein auf die symbolträchtigen Bilder vom Tiananmen nur einen winzigen Aspekt der Ereignisse des Jahres 1989 umfassen - jenes Epochenjahres, das für China keinen Aufbruch in die Freiheit, sondern einen Rückfall in die Gewaltherrschaft der Partei brachte. In Peking tobten damals tagelang jene Kräfte, die im Buch "Ausnahmetruppen" heißen - Soldaten, die nur dazu in die Stadt beordert worden waren, um die friedlichen Demonstrationen zu beenden, egal, um welchen Preis. Noch heute weiß niemand genau, wie hoch er dann war, aber Schätzungen gehen bis zu zweitausend Toten. In einer Liste, die Liaos Buch beigegeben ist, haben Ding Zilin und Jiang Peikun, zwei Mütter von im Juni 1989 ermordeten Studenten, 202 Fälle von Todesopfern jener Tage in Peking rekonstruiert.
Die Fokussierung auf die Hauptstadt ist insofern verständlich, als dort die Soldaten wahllos mordeten. Aber die Demokratiebewegung hatte das ganze Land erfasst; einige Gesprächspartner von Liao waren eigens nach Peking gereist oder wurden in ihren Heimatbezirken festgenommen, wo sie sich an Demonstrationen beteiligt hatten. Und was man allen Gesprächen entnehmen kann, ist die verzweifelte Hoffnung, dass die Demonstranten von 1989 noch zu Lebzeiten der Beteiligten rehabilitiert werden. Aber fast ein Vierteljahrhundert danach schwindet diese Hoffnung.
Liao Yiwu selbst wurde erst neun Monate nach der gewaltsamen Niederschlagung der Demokratiebewegung verhaftet, im März 1990. Sein Gedicht "Massaker", das als Mitschnitt in Untergrundkreisen kursierte, und der im Februar 1990 gerade in Arbeit befindliche Film "Requiem", der den Opfern vom Platz des Himmlischen Friedens gewidmet sein sollte, brachten ihm vier Jahre Haft ein. Danach wurde er ständig beobachtet, seine Wohnung immer wieder durchsucht, er selbst immer wieder geschmäht. In einem Selbstgepräch, das Liao im Buch mit seinem Alter Ego Lao Wei führt, erinnert er sich daran, was er einem Polizisten nach einer Hausdurchsuchung spöttisch gesagt hatte: "Am besten wäre es, wenn man einen wilden Hund wie mich, der weder sein Land noch seine Familie liebt, auf Ausländer losließe, die könnte ich beißen."
Mittlerweile lebt Liao in Berlin, und noch sind keine Klagen gekommen. Im Gegenteil: Der Aufenthalt dieses Exilierten ziert unser Land. Dass sein neues Buch so schnell publiziert werden konnte, ist ein Segen. Denn unter welchen Bedingungen diese Bücher in China entstanden sind, kann man Liaos Gespräch mit dem Lyriker Li Bifeng entnehmen, der auch nach 1989 ins Gefängnis kam: "Ich habe Gedichte geschrieben, Romane, Theaterstücke, ein paar Millionen Schriftzeichen, den größte Teil haben sie mir beschlagnahmt, aber ich habe vor, einen Teil aus dem Gedächtnis neu zu schreiben." Li saß insgesamt zwölf Jahre in Haft.
Die Menschen, mit denen Liao gesprochen hat, haben Urteile ausgesprochen bekommen, die befristete Haftstrafen zwischen zwei und zwanzig Jahren verhängten, drei bekamen lebenslänglich, und zwei wurden zum Tod auf Bewährung verurteilt - das heißt, wenn sie sich zwei Jahre lang im Gefängnis tadellos benehmen, wird die Todesstrafe in lebenslängliche Haft umgewandelt. Tadelloses Benehmen aber heißt auch Erfüllung der unmenschlichen Arbeitsnormen sowie Erduldung der Schikanen durch Wärter und Zellengenossen, die im Regelfall pure Folter sind. Dass die Verurteilten überhaupt bereit sind, über ihre Erniedrigung, Verkrüppelung, Vereinsamung zu sprechen, ist bemerkenswert genug. Wie Liao Yiwu ihnen diese Auskünfte entlockt hat, kann man anhand der kurzen Situationsbeschreibungen, die den eigentlichen Unterhaltungen vorausgehen, nur erahnen.
Den Titel seines Buchs erklärt er wie folgt: Die Kugel steht für das Massaker, das Opium für die Betäubung Chinas danach. Liao Yiwu will seine Heimat auf Entzug setzen. Er selbst ist süchtig nach Gerechtigkeit.
ANDREAS PLATTHAUS.
Liao Yiwu: "Die Kugel und das Opium". Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens.
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2012. 430 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der jüngste Erbe von Dantes Höllenfahrt: In seinem Gesprächsband "Die Kugel und das Opium" schildert Liao Yiwu Massaker und Verhaftungen im China von 1989.
Morgen erhält Liao Yiwu den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Und pünktlich zum Ereignis bringt der S. Fischer Verlag das neue Buch des chinesischen Dissidentendichters heraus: "Die Kugel und das Opium". Es ist - wieder - kein genuin literarisches Werk des Mannes, der als avancierter Lyriker begann, sondern in der Tradition von Liaos erster deutscher Publikation "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" (2009) ein Gesprächsband. Aber was für ein Gesprächsband!
Nämlich doch insofern ein literarischer, als Liao einen klassischen Topos zum strukturellen Vorbild nimmt: die Höllenfahrt, wie sie seit Dantes "Göttlicher Komödie" bekannt und unzählige Male übernommen wurde. Auch Liao ist unterwegs in die Abgründe einer Gesellschaft, um mit den von ihr Verdammten zu sprechen: mit Menschen, die jahrelange Haftstrafen zu erdulden hatten - und was das in China bedeutet, davon kann man sich durch Liaos eigenen Zeugenbericht "Für ein Lied und hundert Lieder" (2011) eine Vorstellung machen. War Dante in Begleitung von Vergil in die Hölle hinabgestiegen, so wird Liao Yiwu von Wu Wenjian begleitet, einem Maler, der 1989 als Neunzehnjähriger verhaftet wurde und sieben Jahre im Gefängnis verbrachte. Er stellte für Liao in den Jahren 2005 bis 2007 Kontakte zu zahlreichen anderen ehemaligen Häftlingen her, die nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 3. und 4. Juni 1989 festgenommen worden waren. Und während Liao der Hölle entkommen ist, sitzen alle seine Gesprächspartner noch in China - auf den Trümmern ihrer Lebensentwürfe, die auf dem Tiananmen genauso starben wie die ungezählten Opfer der Panzer und Schützen.
Doch schon hat man etwas falsch gemacht, wenn man nur von den Massakern auf dem Tiananmen spricht (obwohl es der Untertitel des Buchs, "Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens", genauso hält). Denn wenn man aus den fünfzehn Gesprächen eines lernt, dann, dass der Blick allein auf die symbolträchtigen Bilder vom Tiananmen nur einen winzigen Aspekt der Ereignisse des Jahres 1989 umfassen - jenes Epochenjahres, das für China keinen Aufbruch in die Freiheit, sondern einen Rückfall in die Gewaltherrschaft der Partei brachte. In Peking tobten damals tagelang jene Kräfte, die im Buch "Ausnahmetruppen" heißen - Soldaten, die nur dazu in die Stadt beordert worden waren, um die friedlichen Demonstrationen zu beenden, egal, um welchen Preis. Noch heute weiß niemand genau, wie hoch er dann war, aber Schätzungen gehen bis zu zweitausend Toten. In einer Liste, die Liaos Buch beigegeben ist, haben Ding Zilin und Jiang Peikun, zwei Mütter von im Juni 1989 ermordeten Studenten, 202 Fälle von Todesopfern jener Tage in Peking rekonstruiert.
Die Fokussierung auf die Hauptstadt ist insofern verständlich, als dort die Soldaten wahllos mordeten. Aber die Demokratiebewegung hatte das ganze Land erfasst; einige Gesprächspartner von Liao waren eigens nach Peking gereist oder wurden in ihren Heimatbezirken festgenommen, wo sie sich an Demonstrationen beteiligt hatten. Und was man allen Gesprächen entnehmen kann, ist die verzweifelte Hoffnung, dass die Demonstranten von 1989 noch zu Lebzeiten der Beteiligten rehabilitiert werden. Aber fast ein Vierteljahrhundert danach schwindet diese Hoffnung.
Liao Yiwu selbst wurde erst neun Monate nach der gewaltsamen Niederschlagung der Demokratiebewegung verhaftet, im März 1990. Sein Gedicht "Massaker", das als Mitschnitt in Untergrundkreisen kursierte, und der im Februar 1990 gerade in Arbeit befindliche Film "Requiem", der den Opfern vom Platz des Himmlischen Friedens gewidmet sein sollte, brachten ihm vier Jahre Haft ein. Danach wurde er ständig beobachtet, seine Wohnung immer wieder durchsucht, er selbst immer wieder geschmäht. In einem Selbstgepräch, das Liao im Buch mit seinem Alter Ego Lao Wei führt, erinnert er sich daran, was er einem Polizisten nach einer Hausdurchsuchung spöttisch gesagt hatte: "Am besten wäre es, wenn man einen wilden Hund wie mich, der weder sein Land noch seine Familie liebt, auf Ausländer losließe, die könnte ich beißen."
Mittlerweile lebt Liao in Berlin, und noch sind keine Klagen gekommen. Im Gegenteil: Der Aufenthalt dieses Exilierten ziert unser Land. Dass sein neues Buch so schnell publiziert werden konnte, ist ein Segen. Denn unter welchen Bedingungen diese Bücher in China entstanden sind, kann man Liaos Gespräch mit dem Lyriker Li Bifeng entnehmen, der auch nach 1989 ins Gefängnis kam: "Ich habe Gedichte geschrieben, Romane, Theaterstücke, ein paar Millionen Schriftzeichen, den größte Teil haben sie mir beschlagnahmt, aber ich habe vor, einen Teil aus dem Gedächtnis neu zu schreiben." Li saß insgesamt zwölf Jahre in Haft.
Die Menschen, mit denen Liao gesprochen hat, haben Urteile ausgesprochen bekommen, die befristete Haftstrafen zwischen zwei und zwanzig Jahren verhängten, drei bekamen lebenslänglich, und zwei wurden zum Tod auf Bewährung verurteilt - das heißt, wenn sie sich zwei Jahre lang im Gefängnis tadellos benehmen, wird die Todesstrafe in lebenslängliche Haft umgewandelt. Tadelloses Benehmen aber heißt auch Erfüllung der unmenschlichen Arbeitsnormen sowie Erduldung der Schikanen durch Wärter und Zellengenossen, die im Regelfall pure Folter sind. Dass die Verurteilten überhaupt bereit sind, über ihre Erniedrigung, Verkrüppelung, Vereinsamung zu sprechen, ist bemerkenswert genug. Wie Liao Yiwu ihnen diese Auskünfte entlockt hat, kann man anhand der kurzen Situationsbeschreibungen, die den eigentlichen Unterhaltungen vorausgehen, nur erahnen.
Den Titel seines Buchs erklärt er wie folgt: Die Kugel steht für das Massaker, das Opium für die Betäubung Chinas danach. Liao Yiwu will seine Heimat auf Entzug setzen. Er selbst ist süchtig nach Gerechtigkeit.
ANDREAS PLATTHAUS.
Liao Yiwu: "Die Kugel und das Opium". Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens.
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2012. 430 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main