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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Walter Siebel untersucht die Kultur der Stadt und stößt auf weiche Standortfaktoren
Einst galt die Wahrheit als schwierige, die Wirklichkeit hingegen als relativ einfache Kategorie. Man musste sie nur sehen und anfassen, Platons Höhlengleichnis hin oder her. Heute ist es umgekehrt. Die Wahrheit ist schon schwierig genug, was aber die Wirklichkeit ist, das scheint noch ungleich komplexer geworden. Als beredtes Beispiel darf man die Stadt anführen, denn hinter ihr "verbergen sich so viele Wirklichkeiten, wie es gesellschaftliche Formationen gibt". Diese Aussage ist für Walter Siebel Motiv und Anreiz, zur Entschlüsselung des Phänomens beizutragen.
Anknüpfend an Georg Simmel, dem zufolge es das "Geistesleben" sei, welches die (Groß-)Stadt zu einem besonderen Ort mache, stellt Siebel in seiner umfangreichen Abhandlung den Kulturbegriff in den Mittelpunkt. Zu Recht beschränkt er sich dabei auf den europäischen Kontext, da er Ursachen und Triebkräfte der globalen Metropolenentwicklung für inkommensurabel hält. Und er wahrt zugleich hinreichend Abstand: einerseits zur empirischen quantifizierenden Sozialforschung, andererseits zum ethnographischen Zugriff, der - Begebenheiten, Typen und Milieus schildernd - die Bedingungen urbaner Existenz klären will.
Selbstredend ist die Stadt für den Soziologen kein fixes Gebilde, keine bloß räumliche Tatsache, sondern ein Laboratorium des sozialen Wandels. Dessen Mechanik zu durchschauen bedarf der Deutung. So benennt er etwa als wesentlichen Grund für die gegenwärtige Renaissance der Stadt einen vorlaufenden, allmählichen Prozess: Indem die Stadt sich zu einer Maschine entwickelt habe, die ihre Bewohner von Arbeit und Verpflichtungen befreit, wie auch durch den Umstand, dass die Verflechtung von Arbeit und Leben immer enger werde, eröffne sich die Möglichkeit einer selbstbestimmten Einheit des Alltags. Zugleich und entscheidend sei das Urbane der Ort, an dem die Begegnung mit dem Fremden neu trainiert werde.
Die Stadt der bürgerlichen Gesellschaft war durch drei zentrale Merkmale bis tief in ihre räumlichen Strukturen hinein geprägt: demokratische Selbstverwaltung, soziale Ungleichheit und die Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit. Doch diese Prägung ist im Schwinden begriffen. Und weil heute weder juristische Definitionen noch die Gegenüberstellung Land-Natur, noch statistische Merkmale zu einer instruktiven Bestimmung von Stadt taugen, rückt die Kultur als Ausgangspunkt einer Definition ganz nach oben. Die Gründe liegen auf der Hand: Kultur ist mittlerweile ein Tourismusmagnet, wobei besonders Städtereisen zu einem immer bedeutsameren Zweig der städtischen Ökonomie werden. Sie stellt freilich auch einen Produktionsfaktor dar, da ein differenziertes Kulturangebot Lernfähigkeit und Kreativität fördert und damit indirekt auch Wachstum stimuliert. Nicht zuletzt gehört die Kultur zu den weichen Standortfaktoren.
Diese werden immer wichtiger, weil die harten (Energie, Arbeitskräfte, Autobahnanschluss) ubiquitär verfügbar sind. Siebel argumentiert abwägend, er sieht die Gefahren einer Indienstnahme der Kultur durch die Wirtschaftspolitik, führt viele ungeahnte Beobachtungen und kluge Interpretationen an. Und doch bleibt die Zielrichtung des Ganzen am Ende merkwürdig offen - lesenswert, aber kein Opus magnum.
ROBERT KALTENBRUNNER
Walter Siebel: "Die Kultur der Stadt".
Edition Suhrkamp, Berlin 2015. 475 S., br., 18,- [Euro].
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