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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Das Thema geht alle an: Dirk Knipphals reist durch die Geschichte der Lebenskrise und gewinnt ihr überwiegend Positives ab - auch wenn das Leben ständig komplizierter wird.
Eine Krise hat heutzutage praktisch jeder. Es gibt ja auch so viel Typen. Wir unterscheiden die Beziehungskrise, Sinnkrise, Überforderungskrise, Selbstoptimierungskrise, Paarkrise. Schon Säuglinge haben eine Krise, wenn sie von der Mutterbrust entwöhnt werden sollen, und wenn sie als Einjährige in die Kita kommen, rauschen sie in die nächste Krise. Gab es das immer schon? Wie sind denn unsere Vorfahren mit dem Thema umgegangen?
Trennschärfe ist hier gewiss nicht einfach herzustellen. Der Berliner Journalist Dirk Knipphals nähert sich dem Thema des "normalen Ausnahmezustands" zunächst auf einer privaten Ebene. Die Einkreisung beginnt bei seinem schweigsamen Großvater, einem Mann des Jahrgangs 1889. Der hatte vier politische Systeme und zwei Weltkriege überstanden, saß am Ende seines Lebens auf seinem Stuhl, rauchte und sah einfach aus dem Fenster. Gesprochen hat er nicht viel, aufgearbeitet in einem zeitgenössischen Sinn schon gar nicht. Mit sich selbst zu beschäftigen, wäre ihm nie in den Sinn gekommen, vermutet sein Enkel. Aber woher will man das eigentlich so genau wissen?
Knipphals stellt sich deshalb die Frage: Kannte der Mann keine Lebenskrisen, oder verbat ihm seine Sozialisation - die Eltern waren noch Tagelöhner, er hatte es ins kleinbürgerliche Milieu geschafft - jedwede Form von Verbalisierung? Die Frage ist der Ausgangspunkt einer kulturhistorischen Recherche, die nachzeichnet, wie sich innerhalb von nur drei, vier Generationen der Umgang der Deutschen mit Lebenskrisen geändert hat. Fundamental, und nur zum Besseren, findet der Autor. Am Umgang mit der Lebenskrise - so die Kernthese - lässt sich der Fortschritts- und Reifegrad einer Gesellschaft messen.
Knipphals ist seit fünfzehn Jahren Literaturredakteur der "taz", und das merkt man. Viele seiner Beispiele bezieht er aus der Weltliteratur, von Tolstoi, Melville, Proust, Kafka, Freud, Richard Yates, Richard Ford, Fritz Zorn und so fort. Außerdem interpretiert er Szenen aus berühmten Filmen - "Casablanca", "Manhattan", "Szenen einer Ehe", "Apocalypse Now". Er klopft das Werk seiner geistesgeschichtlichen Helden auf Krisenstellen ab, und wird fündig bei Hegel, Susan Sontag, Habermas, Luhmann, Erik H. Erikson, Adorno. Alle Quellen sind im Anhang ausgewiesen, das hilft beim Verfolgen von Spuren, die der Autor auslegt, das lädt ein zum Wiederlesen und -sehen.
Als Thema in der Mitte der Gesellschaft angekommen, sieht Knipphals die Lebenskrise erst mit Salingers Roman "Der Fänger im Roggen". Dort sei die Pubertät als Außenseitertum definiert worden, dort sei der gedankliche Überbau für die hormonellen Veränderungen, den Umbau der Hirnstruktur gelegt worden. Die Achtundsechziger hätten stattdessen die Lebenskrise bekämpft, weil sie deren Ende kommen sahen, sobald sich die gesellschaftlichen Verhältnisse geändert hätten. Dieser "Infantilismus" der Achtundsechziger, den Habermas den politischen Speerspitzen der Bewegung schon im Jahr 1968 attestierte, hätte in seiner Eindimensionalität nicht weitergeführt.
Auch in seinen politischen Betrachtungen schlägt der Autor einen behutsamen, gelegentlich zärtlichen Ton an, nachdenklich mäandern seine Gedanken durch Literatur, Philosophie, Film und Selbsterlebtes. Dabei enthält er sich die längste Zeit der Versuchung, sein eigenes Leben auszuschlachten, wie das heute allzu oft der Fall ist; erst nach zweihundert Seiten wird er mit einem Kapitel über die Errungenschaften der Berliner Kindertagesstätten deutlicher, aber auch ideologischer. Denn Fortschritt sieht er dort, die multiethnische Inselexistenz in Berlin-Schöneberg zu sehr mit der Realität im ganzen Land verwechselnd, überall am Werk, - aber das tun Hauptstädter und Medienleute gern.
Es mag naheliegen, unsere gegenwärtige Welt als die beste aller Welten zu qualifizieren, weil sie die freieste aller Gesellschaften ist - auch wenn Knipphals einräumt, sie sei auch die komplizierteste. Aber gerade weil er bei seiner historischen Herleitung so viel Wert auf die Achtundsechziger, Habermas und die Zerschlagung der bürgerlichen Welt legt, wundert man sich, warum er den derzeit laufenden Umbau zur digitalen Durchsichtigkeit mit keiner Zeile würdigt (das Wort "Multitasking" kommt immerhin einmal vor): Hat die von ihm attestierte Verkomplizierung nicht auch mit einer gewissen neuen Sorte von Beziehungskrisen zu tun, Stichwort: soziale Netzwerke?
Knipphals resümiert, die Bewältigung von Lebenskrisen sei deshalb heute so fruchtbar, weil sie uns lehre, uns selbst nicht ausschließlich nach den Kriterien der Leistungsgesellschaft zu beurteilen. Merke: Weil heute Beziehungen nicht mehr halten müssen, sind sie erst wirklich frei geworden. Am Ende aller Krisen lässt sich Knipphals von einer flatterhaften Kollegin erklären, Krisen seien gut, um sich "neu zu erfinden". Diese abgedroschenste aller gegenwärtigen Floskeln schwächt seine redlichen Bemühungen um Aufklärung ohne Not. Und sein Großvater hätte sie sowieso nicht verstanden.
HANNES HINTERMEIER
Dirk Knipphals: "Die Kunst der Bruchlandung". Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind. Rowohlt Berlin, Berlin 2014. 256 S., geb., 19,95 [Euro].
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