Wir leben in einem Zeitalter der Beliebigkeit und Selbstsucht. Überall gilt »ich zuerst«, alles ist erlaubt, jeder will sich selbst optimieren, so wird übertrumpft, gedrängelt, auf Facebook gepöbelt. Doch auf diese Weise wird unser Zusammenleben höchst unangenehm, und wir steuern geradewegs in den Untergang. Alexander von Schönburg plädiert für mehr Anstand, für Werte und Tugenden, die lange altmodisch erschienen und heute wieder aktuell sind. Dem »anything goes« der hedonistischen Gesellschaft stellt er die neue Ritterlichkeit gegenüber. Denn nobles Verhalten macht das Leben erst schön.
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Bloß kein Bling-Bling
Alexander von Schönburg predigt „lässigen Anstand“ und alte Tugenden. Aber wie kann ausgerechnet Entsagung lässig sein?
Als Jugendlicher hatte Alexander von Schönburg Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Das lag daran, dass er in seiner Familie, die eine alte, leicht verarmte Adelsfamilie ist, wie er gerne erwähnt, der Jüngste von vier Geschwistern war. Weil die drei Älteren für reichlich Radau sorgten, fiel dem pubertierenden Alexander die Rolle des „Artigen“ zu. Er spielte also einfach das, was von ihm erwartet wurde. Etwa wenn er angeblich mit einem Buch im Bett lag, in Wahrheit aber aus dem Fenster getürmt war, um in einer Münchner Diskothek exzessiv zu feiern. Mithilfe eines Freundes installierte er sogar eine Wanze im Elternschlafzimmer.
„In der Kunst der Täuschung entwickelte ich eine perfide Perfektion“, schreibt Schönburg, und dreht die Geschichte seiner Lügen-Karriere noch etwas weiter: Wie sein geheimes Zweitleben immer weiterwuchs, bis er unter chronischen Rückenschmerzen litt. Weil so eine Verstellung ja auf Dauer wahnsinnig anstrengend ist. Erst als er mit 40 dem Lügen abgeschworen hatte, ging es ihm besser. Und darum soll es in „Die Kunst des lässigen Anstands“ gehen: Wie man besser lebt, indem man sich besser verhält. Wie man gute Verhaltensweisen immer wieder einübt, bis man sie verinnerlicht hat, um zuletzt vielleicht den sweet spot zu finden, das richtige Maß zwischen den Extremen.
Bücher über Anstand und gutes Benehmen sind meist so ungeheuer dröge, weil die Autoren gar nicht anders können, als ihre Leser zu belehren. Insofern ist es schon praktisch, wenn einer selbst ein paar mittelschwere Laster vorweisen kann, vielleicht sogar eine Katharsis; das erhöht die Glaubwürdigkeit und das Lesevergnügen.
Das Talent dieses Autors liegt darin, dass er das Schwere so leicht aussehen lässt und dem scheinbar Leichten Bedeutung verleiht. Schon seine früheren Bestseller „Smalltalk. Die Kunst des stilvollen Mitredens“, „Die Kunst des stilvollen Verarmens. Wie man ohne Geld reich wird“ oder zuletzt „Weltgeschichte to go“ setzen auf den charmanten Plauderton, den Gentleman-Erzähler, der in jedem Salon brilliert. Bei seinem neuen Buch erweist sich das anekdotische Erzählen aber auch als Hindernis; der Berg der Tugenden, den er abzuarbeiten hat, ist schlicht zu steil.
Schönburg, ein bekennender Katholik und Fan des früheren Papstes Johannes Paul II., tritt mit dem Anspruch an, der „Selbstbezogenheit und Beliebigkeit“ der heutigen Generation etwas entgegenzusetzen. Er will anschreiben gegen eine Plage unserer Zeit, die Selbstoptimierung, die Menschen zu Egoisten macht. Für ihn ist es die „rebellischere Haltung“, altmodische Wertvorstellungen hochzuhalten. Die Frage ist nur: Was ist altmodisch?
Das Kapitel über die Freundlichkeit zählt zu den gelungeneren. Schönburg beschreibt die Misere heutiger Wohlstandsmenschen, die sich innerhalb einer Stunde von Amazon-Boten sämtliche Wünsche erfüllen lassen, aber zugleich immer schwermütiger und miesepetriger werden. „Wir haben uns eine Welt geschaffen, in der wir nie zufrieden sind, in der wir uns schon bei einem zu geringen Sitzabstand zum Vordermann im Flugzeug oder bei einer Verspätung der Bahn um unsere Rechte gebracht sehen.“ Wer dieses Anspruchsdenken überwindet, öffnet die Tür zur Freundlichkeit. Es geht darum, den anderen wahrzunehmen und gelten zu lassen, kleine Rituale der Höflichkeit einzuhalten, bei Bedarf einen Schritt zurückzutreten, am besten mit einem Lächeln und südeuropäischer Nonchalance.
Wer 27 Tugenden auf 360 Seiten abhandeln will, benötigt philosophisches Wissen, Ordnungssinn und Chuzpe. Letzteres muss man Schönburg unbedingt zugestehen. Aber er hat auch die Größe, sich selbst zu korrigieren, etwa wenn er auf eines seiner Lieblingsthemen zu sprechen kommt: die Bescheidenheit. Was er in seinem Buch „Die Kunst des stilvollen Verarmens“ mit „unbekümmerter Emphase in die Welt posaunt“ habe, sehe er heute durchaus kritisch. Allerdings nicht, weil er das weltweite Problem sozialer Ungleichheit, das Abrutschen ganzer Schichten in die Armutsfalle oder die Probleme von Hartz-IV-Empfängern vor Augen hat. Diese Lebenswirklichkeit breiter Schichten scheint ihm fremd oder schlicht zu langweilig zu sein.
Schönburg bleibt dem gesellschaftlichen Milieu treu, das er kennt – für ihn ist Bescheidenheit als freiwilliger Verzicht nur aus einer Position der Stärke heraus möglich. Ganz besonders interessiert er sich für die „Bescheidenheitsprotzerei“ des alten Adels. Also für die Menschen, die wie er aufgewachsen sind: mit einer Ahnengalerie, mit alten Büchern und einer Vorliebe für Understatement. Bloß kein Bling-Bling und auf gar keinen Fall auffällige Designerhandtaschen; am besten man steckt seine Habseligkeiten in eine Plastiktüte. „Wenn sie einen perfekt gekleideten Herrn vor sich sehen, der nach Ihrem Dafürhalten wie ein Herzog aussieht, handelt es sich wahrscheinlich um einen Hochstapler. Begegnet man einem etwas nachlässig gekleideten Herrn, der einen mehrfach geflickten und vielleicht sogar an einigen Stellen fleckigen Uralt-Tweed trägt, ist er wahrscheinlich ein Lobkowicz oder Löwenstein oder Schwarzenberg.“ An dieser Stelle driftet das Anstandsbuch heftig in Richtung Komödie ab: Väter der Klamotte.
Weit oben im Katalog des richtigen Verhaltens steht für Schönburg ohnehin der Humor. Und es zeigt sich: Über Humor zu schreiben ist viel schwieriger, als humorvoll zu sein. Entsprechend allgemeingültig, um nicht zu sagen banal, sind Schönburgs Erkenntnisse: Dass mächtige, selbstsüchtige Menschen erstaunlich humorlos sind; dass es entwaffnend sein kann, eine Situation mit einem Scherz aufzulockern; dass im Überraschungsmoment die größte Komik liegt. Schönburg präsentiert hier seinen älteren Schwager, den 1990 verstorbenen Johannes von Thurn und Taxis, der zur Freude der damaligen Klatschreporter mit seiner Schwester Gloria verheiratet war. Es ist amüsant zu lesen, wie Fürst Johannes einer Münchner Bankiersfamilie einst Piranhas als Gastgeschenk mitbrachte, weil diese so stolz auf ihr Aquarium war. Oder wie er auf einer Party des Schahs von Persien in St. Moritz die Herrengarderobe mit Enthaarungsmittel behandelte. Ja, dieser noble Schwager mag ein echter Spaßvogel gewesen sein, mit „einem Blick fürs Absurde“. Als Kronzeuge für tugendhaftes Verhalten im klassischen Sinne ist er eine Fehlbesetzung, wenn auch eine grandiose.
Gäbe es eine Zeit, in die sich dieser Autor gerne zurückversetzen würde, dann wäre es das christlich-aristokratische Mittelalter. Die Sage von König Artus, tapfere Gralshüter, treue Ritter, schöne und kluge Edelfrauen, die beim Minnesang dahinschmachten: Aus dieser märchenhaften Welt stammen seine Ideale wie Treue, Keuschheit und Zucht. Man sieht Schönburg beim Lesen schon beinahe vor sich, als Vintage-Ritter einer geheimen Berliner Tafelrunde im geflickten Tweedsakko, Verse aus Eschenbachs „Parzifal“ zitierend.
Sein Faible für die mittelalterliche Minne „als raffinierteste Form des Flirts“ ist mehr als ein Spleen. Er meint es sehr ernst mit seiner Entsagungsrhetorik und seiner Kritik an der sexuellen Konsumkultur, die Frauen wie Männer immer weiter ins Unglück treibe: Nicht mal mehr die katholische Kirche vertrete heute noch konsequent die Ansicht, dass Sex etwas „Erhabenes und Großes“ sei, ein ehelich sanktionierter Liebesdienst, der dem höheren Zweck der Fortpflanzung diene.
Was Schönburg von der Homo-Ehe hält, kann man sich denken. Der aktuelle Papst zählt für ihn zu den Relativierern der katholischen Sexualmoral, zu den Liberalen, die allzu schnell vor dem Zeitgeist einknicken. Was nun wirklich bizarr ist, wenn man bedenkt, dass Franziskus Abtreibung gerade mit Auftragsmord gleichgesetzt hat – während Menschen weltweit über ein ganz anderes großes Thema, nämlich den Missbrauch in der katholischen Kirche diskutieren. Auch der Autor macht einen sehr weiten Bogen darum.
Mit seiner Hardliner-Position liefert Schönburg selbst den Beweis dafür, dass es so etwas wie „lässigen Anstand“ nicht geben kann. Lässigkeit mag in Stilfragen hilfreich sein, weil man auch mal beide Augen zudrücken kann. Bei Fragen der Haltung und der Moral ist eher Konsequenz gefragt. Insofern macht das Buch ein Versprechen, das es gar nicht einlösen kann. Aber im Scheitern liegt ja ein Trost: Beim nächsten Mal kann man wieder versuchen, besser zu sein.
CHRISTIAN MAYER
Alexander von Schönburg: Die Kunst des lässigen Anstands. 27 altmodische Tugenden für heute. Piper Verlag, München 2018. 367 Seiten, 20 Euro.
Bei Fragen der Haltung
und der Moral ist
eher Konsequenz gefragt
Der Essayist und Journalist Alexander Graf von Schönburg-Glauchau, geboren 1969, wurde bekannt als Mitautor des popliterarischen Gesprächsbandes „Tristesse Royale“ (1999). Foto: P. von Felbert
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Alexander von Schönburg predigt „lässigen Anstand“ und alte Tugenden. Aber wie kann ausgerechnet Entsagung lässig sein?
Als Jugendlicher hatte Alexander von Schönburg Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Das lag daran, dass er in seiner Familie, die eine alte, leicht verarmte Adelsfamilie ist, wie er gerne erwähnt, der Jüngste von vier Geschwistern war. Weil die drei Älteren für reichlich Radau sorgten, fiel dem pubertierenden Alexander die Rolle des „Artigen“ zu. Er spielte also einfach das, was von ihm erwartet wurde. Etwa wenn er angeblich mit einem Buch im Bett lag, in Wahrheit aber aus dem Fenster getürmt war, um in einer Münchner Diskothek exzessiv zu feiern. Mithilfe eines Freundes installierte er sogar eine Wanze im Elternschlafzimmer.
„In der Kunst der Täuschung entwickelte ich eine perfide Perfektion“, schreibt Schönburg, und dreht die Geschichte seiner Lügen-Karriere noch etwas weiter: Wie sein geheimes Zweitleben immer weiterwuchs, bis er unter chronischen Rückenschmerzen litt. Weil so eine Verstellung ja auf Dauer wahnsinnig anstrengend ist. Erst als er mit 40 dem Lügen abgeschworen hatte, ging es ihm besser. Und darum soll es in „Die Kunst des lässigen Anstands“ gehen: Wie man besser lebt, indem man sich besser verhält. Wie man gute Verhaltensweisen immer wieder einübt, bis man sie verinnerlicht hat, um zuletzt vielleicht den sweet spot zu finden, das richtige Maß zwischen den Extremen.
Bücher über Anstand und gutes Benehmen sind meist so ungeheuer dröge, weil die Autoren gar nicht anders können, als ihre Leser zu belehren. Insofern ist es schon praktisch, wenn einer selbst ein paar mittelschwere Laster vorweisen kann, vielleicht sogar eine Katharsis; das erhöht die Glaubwürdigkeit und das Lesevergnügen.
Das Talent dieses Autors liegt darin, dass er das Schwere so leicht aussehen lässt und dem scheinbar Leichten Bedeutung verleiht. Schon seine früheren Bestseller „Smalltalk. Die Kunst des stilvollen Mitredens“, „Die Kunst des stilvollen Verarmens. Wie man ohne Geld reich wird“ oder zuletzt „Weltgeschichte to go“ setzen auf den charmanten Plauderton, den Gentleman-Erzähler, der in jedem Salon brilliert. Bei seinem neuen Buch erweist sich das anekdotische Erzählen aber auch als Hindernis; der Berg der Tugenden, den er abzuarbeiten hat, ist schlicht zu steil.
Schönburg, ein bekennender Katholik und Fan des früheren Papstes Johannes Paul II., tritt mit dem Anspruch an, der „Selbstbezogenheit und Beliebigkeit“ der heutigen Generation etwas entgegenzusetzen. Er will anschreiben gegen eine Plage unserer Zeit, die Selbstoptimierung, die Menschen zu Egoisten macht. Für ihn ist es die „rebellischere Haltung“, altmodische Wertvorstellungen hochzuhalten. Die Frage ist nur: Was ist altmodisch?
Das Kapitel über die Freundlichkeit zählt zu den gelungeneren. Schönburg beschreibt die Misere heutiger Wohlstandsmenschen, die sich innerhalb einer Stunde von Amazon-Boten sämtliche Wünsche erfüllen lassen, aber zugleich immer schwermütiger und miesepetriger werden. „Wir haben uns eine Welt geschaffen, in der wir nie zufrieden sind, in der wir uns schon bei einem zu geringen Sitzabstand zum Vordermann im Flugzeug oder bei einer Verspätung der Bahn um unsere Rechte gebracht sehen.“ Wer dieses Anspruchsdenken überwindet, öffnet die Tür zur Freundlichkeit. Es geht darum, den anderen wahrzunehmen und gelten zu lassen, kleine Rituale der Höflichkeit einzuhalten, bei Bedarf einen Schritt zurückzutreten, am besten mit einem Lächeln und südeuropäischer Nonchalance.
Wer 27 Tugenden auf 360 Seiten abhandeln will, benötigt philosophisches Wissen, Ordnungssinn und Chuzpe. Letzteres muss man Schönburg unbedingt zugestehen. Aber er hat auch die Größe, sich selbst zu korrigieren, etwa wenn er auf eines seiner Lieblingsthemen zu sprechen kommt: die Bescheidenheit. Was er in seinem Buch „Die Kunst des stilvollen Verarmens“ mit „unbekümmerter Emphase in die Welt posaunt“ habe, sehe er heute durchaus kritisch. Allerdings nicht, weil er das weltweite Problem sozialer Ungleichheit, das Abrutschen ganzer Schichten in die Armutsfalle oder die Probleme von Hartz-IV-Empfängern vor Augen hat. Diese Lebenswirklichkeit breiter Schichten scheint ihm fremd oder schlicht zu langweilig zu sein.
Schönburg bleibt dem gesellschaftlichen Milieu treu, das er kennt – für ihn ist Bescheidenheit als freiwilliger Verzicht nur aus einer Position der Stärke heraus möglich. Ganz besonders interessiert er sich für die „Bescheidenheitsprotzerei“ des alten Adels. Also für die Menschen, die wie er aufgewachsen sind: mit einer Ahnengalerie, mit alten Büchern und einer Vorliebe für Understatement. Bloß kein Bling-Bling und auf gar keinen Fall auffällige Designerhandtaschen; am besten man steckt seine Habseligkeiten in eine Plastiktüte. „Wenn sie einen perfekt gekleideten Herrn vor sich sehen, der nach Ihrem Dafürhalten wie ein Herzog aussieht, handelt es sich wahrscheinlich um einen Hochstapler. Begegnet man einem etwas nachlässig gekleideten Herrn, der einen mehrfach geflickten und vielleicht sogar an einigen Stellen fleckigen Uralt-Tweed trägt, ist er wahrscheinlich ein Lobkowicz oder Löwenstein oder Schwarzenberg.“ An dieser Stelle driftet das Anstandsbuch heftig in Richtung Komödie ab: Väter der Klamotte.
Weit oben im Katalog des richtigen Verhaltens steht für Schönburg ohnehin der Humor. Und es zeigt sich: Über Humor zu schreiben ist viel schwieriger, als humorvoll zu sein. Entsprechend allgemeingültig, um nicht zu sagen banal, sind Schönburgs Erkenntnisse: Dass mächtige, selbstsüchtige Menschen erstaunlich humorlos sind; dass es entwaffnend sein kann, eine Situation mit einem Scherz aufzulockern; dass im Überraschungsmoment die größte Komik liegt. Schönburg präsentiert hier seinen älteren Schwager, den 1990 verstorbenen Johannes von Thurn und Taxis, der zur Freude der damaligen Klatschreporter mit seiner Schwester Gloria verheiratet war. Es ist amüsant zu lesen, wie Fürst Johannes einer Münchner Bankiersfamilie einst Piranhas als Gastgeschenk mitbrachte, weil diese so stolz auf ihr Aquarium war. Oder wie er auf einer Party des Schahs von Persien in St. Moritz die Herrengarderobe mit Enthaarungsmittel behandelte. Ja, dieser noble Schwager mag ein echter Spaßvogel gewesen sein, mit „einem Blick fürs Absurde“. Als Kronzeuge für tugendhaftes Verhalten im klassischen Sinne ist er eine Fehlbesetzung, wenn auch eine grandiose.
Gäbe es eine Zeit, in die sich dieser Autor gerne zurückversetzen würde, dann wäre es das christlich-aristokratische Mittelalter. Die Sage von König Artus, tapfere Gralshüter, treue Ritter, schöne und kluge Edelfrauen, die beim Minnesang dahinschmachten: Aus dieser märchenhaften Welt stammen seine Ideale wie Treue, Keuschheit und Zucht. Man sieht Schönburg beim Lesen schon beinahe vor sich, als Vintage-Ritter einer geheimen Berliner Tafelrunde im geflickten Tweedsakko, Verse aus Eschenbachs „Parzifal“ zitierend.
Sein Faible für die mittelalterliche Minne „als raffinierteste Form des Flirts“ ist mehr als ein Spleen. Er meint es sehr ernst mit seiner Entsagungsrhetorik und seiner Kritik an der sexuellen Konsumkultur, die Frauen wie Männer immer weiter ins Unglück treibe: Nicht mal mehr die katholische Kirche vertrete heute noch konsequent die Ansicht, dass Sex etwas „Erhabenes und Großes“ sei, ein ehelich sanktionierter Liebesdienst, der dem höheren Zweck der Fortpflanzung diene.
Was Schönburg von der Homo-Ehe hält, kann man sich denken. Der aktuelle Papst zählt für ihn zu den Relativierern der katholischen Sexualmoral, zu den Liberalen, die allzu schnell vor dem Zeitgeist einknicken. Was nun wirklich bizarr ist, wenn man bedenkt, dass Franziskus Abtreibung gerade mit Auftragsmord gleichgesetzt hat – während Menschen weltweit über ein ganz anderes großes Thema, nämlich den Missbrauch in der katholischen Kirche diskutieren. Auch der Autor macht einen sehr weiten Bogen darum.
Mit seiner Hardliner-Position liefert Schönburg selbst den Beweis dafür, dass es so etwas wie „lässigen Anstand“ nicht geben kann. Lässigkeit mag in Stilfragen hilfreich sein, weil man auch mal beide Augen zudrücken kann. Bei Fragen der Haltung und der Moral ist eher Konsequenz gefragt. Insofern macht das Buch ein Versprechen, das es gar nicht einlösen kann. Aber im Scheitern liegt ja ein Trost: Beim nächsten Mal kann man wieder versuchen, besser zu sein.
CHRISTIAN MAYER
Alexander von Schönburg: Die Kunst des lässigen Anstands. 27 altmodische Tugenden für heute. Piper Verlag, München 2018. 367 Seiten, 20 Euro.
Bei Fragen der Haltung
und der Moral ist
eher Konsequenz gefragt
Der Essayist und Journalist Alexander Graf von Schönburg-Glauchau, geboren 1969, wurde bekannt als Mitautor des popliterarischen Gesprächsbandes „Tristesse Royale“ (1999). Foto: P. von Felbert
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»Alexander von Schönburgs 'Kunst des lässigen Anstands' ist eine Polemik wider den egomanen Zeitgeist.« Die ZEIT 20181122