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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wolfgang Ullrich staunt darüber, wie klanglos das Zeitalter der autonomen Kunst zu Ende zu gehen scheint.
Als Andy Warhol 1975 schrieb "Es ist viel besser, Business-Kunst zu machen als Kunst-Kunst", konnte man das für eine seiner sanften Subversionen halten. Damals war es schlechthin nicht vorstellbar, dass ein Künstler eine Kunst, die für sich steht, prinzipiell geringer schätzte als eine von außerkünstlerischen, zum Beispiel kommerziellen Interessen angetriebene Kunst. Und wenn Warhol sein Statement dann damit begründete, dass "die Kunst-Kunst dem Raum, den sie einnimmt, keinen Nutzen bringt, während das bei der Business-Kunst der Fall ist (wenn die Business-Kunst keinen Nutzen bringt, fliegt sie aus dem Business)", verbuchte man das als ein uneigentliches, vielleicht ironisches Sprechen, das wenigstens die Möglichkeit offenhielt, es doch wieder dem Hochstand der reinen Kunst zuzuschlagen.
Das hat sich geändert. Heute behaupten Mischformen aus Kunst, Mode, Marketing und Aktivismus ihre Überlegenheit gegenüber der bloßen Kunst-Kunst ganz offensiv. Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich beschreibt in seinem neuen Buch die Epoche der sogenannten autonomen, sich am Museum und an der westlichen Kunstgeschichte ausrichtenden Kunst als mehr oder weniger abgeschlossen. Und für das neue Selbstbewusstsein der danach kommenden Kunst gibt er, ohne ihn zu zitieren, den gleichen Grund wie Warhol an: Man könne mit ihr einfach viel mehr anfangen, sie lasse sich ja nicht nur betrachten und deuten, sondern auch für alles Mögliche verwenden und in den eigenen Alltag integrieren. Was ist da passiert, dass solche Argumente auf einmal ganz ernst gemeint sind?
Ullrichs Essay bietet gerade daher einen so guten ersten Überblick, weil er zwar aus seiner eigenen Verwunderung über die Plötzlichkeit der Veränderung keinen Hehl macht - es sei, schreibt er eingangs, "als hätte ich einen Filmriss gehabt". Doch zugleich lässt er sich von keinem Ressentiment mitreißen; er will weder eine Verfalls- noch eine Fortschrittsgeschichte schreiben, sondern einfach möglichst genau beobachten, was da Neues entsteht.
Als Einstieg wählt Ullrich sehr prägnant verschiedene von Künstlern entworfene Sneakers. Es war van Goghs Gemälde eines Paars ausgetretener Schuhe, das Heidegger zu einem der feierlichsten Manifeste der von allem "Zeug" ringsum abgehobenen und dieses Zeug zugleich erst sehen lassenden Kunst bewogen hatte: "Erst durch das Werk und nur im Werk" komme "das Zeugsein des Zeuges eigens zu seinem Vorschein". Die Kunst ist in dieser Sicht wirklicher als die Wirklichkeit, die sie erst erkennbar macht. Mit ganz anderer Diktion, aber nicht geringerer Entschiedenheit hatte auch Adorno auf der Eigenständigkeit der Kunst beharrt. Und nun stellt der japanische Künstler Takashi Murakami Sneakers her, die man als Markenartikel kaufen kann; sie orientieren sich an der konsumistisch orientierten Fankultur Japans (Otaku), an einer beliebten japanischen Anime-Fernsehserie und an einer Spielfigur der Neunzigerjahre, verbindet das aber auch mit den in die Sohlen geprägten lachenden Blumengesichtern seiner eigenen Motivwelt. Es heißt, dass diese Schuhe in der Sneakers-Szene genauso viel Anklang gefunden hätten wie in der Kunstszene.
Eine politische Ebene erreicht eine solche Entgrenzung bei den Sneakers, die die afroamerikanische Künstlerin Faith Ringgold in Kooperation mit der Marke Vans im Shop des New Yorker MoMA anbietet. Das bunte Design der Schuhe nimmt auf die handkolorierten Radierungen ihres Künstlerbuchs "Seven Passages to a Flight" Bezug, in dem sie ihre Erfahrungen mit Diskriminierung schilderte. Auf die Seitenfläche der Sohle ist zudem ein prägnanter Satz aus diesem Buch in ihrer Handschrift gedruckt. So verspricht diese aktivistische Produkt-Kunst gegenüber reiner Kunst einen handfesten Mehrwert: Sie lässt sich nicht nur von außen betrachten und beurteilen, sondern auch mitnehmen und tragen und fungiert so als Talisman und Instrument der Selbstermächtigung. Ullrich resümiert: "Verhieß in der Moderne ein Bild von Schuhen mehr als diese selbst, ist es mittlerweile umgekehrt."
Einleuchtend führt der Essay diesen Wandel auf das Zusammentreffen von drei Faktoren zurück: eine Entleerung des autonomen Kunstbegriffs, die Globalisierung der einschlägigen Institutionen und die Eigengesetzlichkeit der sozialen Medien. Am Anfang ihrer kurzen Karriere übernahm die autonom gewordene Kunst von der religiösen Sphäre, aus der sie sich gelöst hatte, die entrückte, gewissermaßen transzendente Position. Doch ihre damals einsetzende Eigendynamik mündete laut Ullrich am Ende in Beliebigkeit, in den Verdacht, dass bei den Setzungen der Museen und des Markts letztlich bloß das Recht des Stärkeren zum Zuge komme. Gleichzeitig wächst die Bedeutung nicht-westlicher Käufer und Kuratoren, für die die europäische Kunstgeschichte eine geringere Rolle spielt als Gesichtspunkte wie politische Moral oder Markenpotential. Ein Auktionsmanager von Christie's wird mit der Aussage zitiert, höchstens acht Prozent seiner Kunden wollten noch über Kunst sprechen. Und schließlich führt die Eigenlogik der sozialen Medien, die auch für die Kunst zentral geworden sind, dazu, dass sich das Bild des Künstlers stark verändert: Als relevant gilt nicht mehr, wer störrisch und kompromisslos seinen Weg geht, sondern wer flexibel und reaktionsschnell die Potentiale der im Internet ineinander übergehenden verschiedenen Bereiche, sei es Mode, Kunst, Aktivismus oder Konsum, in sich vereint.
Offen bleibt da die Frage, welche Funktion genau die Kunst in solchen Mischungsverhältnissen überhaupt noch für sich in Anspruch nehmen kann. An einer etwas abgründigen Stelle schreibt Ullrich, ihr bleibe "erst einmal gar nichts anderes übrig, als ungefähr das zu bieten, was einer allgemeinen Vorstellung" von Kunst entspricht, also weiter zu irritieren, zu verfremden, einen unverständlichen Rest zu behalten. Tatsächlich greift auch der Essay selbst, wenn er sich später an einer Bewertung verschiedener Formen postautonomer Kunst versucht (Virgil Abloh, Kerry James Marshall, Beyoncé: gelungen - Daniel Arsham, Ai Weiwei, Anri Sala: nicht gelungen), auf wenig trennscharfe Kriterien dieser Art zurück. So überzeugend Ullrichs Darstellung der sich verändernden intellektuellen, institutionellen und gesellschaftlichen Kontexte der Kunst ist, so unbefriedigend ist sein Versuch, den Wandel auch an inhaltlichen und formalen Kriterien festzumachen. Auch die autonome Kunst nahm ja nicht nur an der Kunstgeschichte Maß, sondern ebenso an den politischen, ökonomischen und ideologischen Verhältnissen, in denen sie entstand.
Vielleicht geht die Haltung des Staunens, mit der das Buch einsetzt, hier auch etwas zu schnell, zu reibungslos in die Routinen der Kunstkritik über. Das Thema ist ja nicht bloß irgendeine neue ästhetische Richtung, sondern ein kompletter Austausch des Koordinatensystems, der über die Kunst hinaus das Verhältnis der Gesellschaft zu sich selbst betrifft. Was bedeutet es, wenn das Verlangen nach einer Gegenwelt zu all den instrumentellen Sphären, in denen man unweigerlich steckt, offenbar so viel geringer geworden ist? Selbst diese Entwicklung ist allerdings nicht eindeutig: Die autonome Kunst und ihre Museen waren, wie Ullrich zeigt, mit den in sie eingeschriebenen Macht- und Diskriminierungsstrukturen viel weniger autonom, als sie von sich annahmen. Der Umbruch ist voll im Gange und daher noch gar nicht zu überblicken. Umso wertvoller ist dieses in viele Richtungen hin Gedanken anstoßende Buch.
MARK SIEMONS
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