Abenteuerroman, Dystopie und philosophischer Thriller in einem: Markus Bundi erzählt die Geschichte der letzten menschlichen Kolonie, die unter Tage in einem permanenten Dämmerzustand lebt. Doch ein Experiment lässt einige der Unterdrückten aufbegehren … Leserin und Leser finden sich wieder in der futuristischen Vision einer von Kapitalismus, Umweltschäden und Pandemien gezeichneten Menschheit, die sich unter ihren Füßen eine zweite Welt geschaffen hat. Aber was passiert, wenn die Unteren nach oben streben und die Oberen nach unten expandieren wollen? In einer präzisen, lakonischen und treibenden Sprache schaltet Bundi virtuos zwischen Unter- und Oberwelt hin und her. Er beschreibt fantastische Gegenden, abenteuerliche Fluchten und merkwürdige Rituale. Geheimnisvolle Figuren geben Rätsel auf: Was weiß der graue Mann? Warum tötet die Walküre? Welche Rolle spielen die Goner, und wie leben die Toffler und Pilzer? Bundis Roman ist lesbar als Tragikomödie oder als absurdes Theater, denn Ernst und Spiel lassen sich zuweilen nur schwer voneinander unterscheiden. "Was andere Autoren auf einer ganzen Seite nicht erzählen, erzählt Markus Bundi in einem einzigen Satz." Matthias Politycki
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2021Befolgt das Morus-Gesetz!
Schweiz pervers: Markus Bundi entwirft im Roman "Die letzte Kolonie" eine totalitäre Gesellschaft
Die Erde ist unbewohnbar geworden. Die Visionäre der Apokalypse spielen mit dem Gedanken, im Weltraum eine Kolonie zu begründen. Auf dem Mars wird nach Spuren von Leben geforscht. Nach dem Ende der Covid-19-Pandemie wollen die verrücktesten der zeitgenössischen Unternehmer schon einmal touristische Stippvisiten ins All anbieten. Als Alternative zum außerirdischen Trip darf man den neuen Roman von Markus Bundi empfehlen: "Die letzte Kolonie". Die titelgebende Institution ist ein unterirdisches Arbeitslager. Es wurde als Antwort auf die Verknappung der Ressourcen und die Bevölkerungsexplosion angelegt.
Markus Bundi, Jahrgang 1969, hat Philosophie und Germanistik studiert. Er arbeitete als Redakteur für Sport und Kultur, gegenwärtig ist er Gymnasiallehrer in Aarau. Und in den letzten Jahren hat er mehrere Romane veröffentlicht.
Seine neue Geschichte beginnt in einer Höhle. Ratten, Überratten und Riesenratten, die Schimpansen gleichen, bevölkern die Stollen, Schächte und Tunnels zwischen den Grotten. Die menschlichen Bewohner werden als "Untersch" bezeichnet. Es ist düster und ziemlich warm. Früher soll es hier einmal Helden gegeben haben, "lange vor der aktuellen Zeit, in einer Welt, in der man Abenteuer noch suchte". Es wurde immer schwieriger, an Bücher zu kommen, sie werden "systematisch vernichtet". In ihnen ist vom Sonnenlicht, das die Untersch nicht kennen, zu lesen. Vom Schnee und von Bäumen. Geschichten sind gefährlich und wie die Lieder verboten.
Die Untersch haben keinen Schatten. Am Brunnen, als "Quelle des Ursprungs" verehrt, betreiben sie Tauschhandel. Was es mit dem "Wasch" und dem "Anderwasser" im "Spect", der unterirdischen Kolonie, auf sich hat, bleibt lange rätselhaft. Bedeutungen, Abläufe und Zusammenhänge werden im Laufe der Erzählung verständlich - einigermaßen. Von Beginn an muss man höllisch aufpassen, um nichts zu verpassen. In diesem Labyrinth ist jede Spur, jedes Detail wichtig.
Die Untersch orientieren sich an Geräuschen in den Gängen: Ein Zungenschnalzen deutet an, dass jemand den Raum auslotet. Das Bewusstsein für Zeit haben sie verloren. "Hellblauphasen" unterbrechen die Monotonie der Dunkelheit. Gemessen wird die Zeit mit Gummibärchen. Die dritte Periode erreichen nur wenige, für die meisten ist nach Hellblau "Exitus".
Das Buch erzählt die Geschichte - und Liebesgeschichte - von Natalia und Florio in der Unterwelt. Aber es ist auch ein Abenteuer-, Spionage- und Antizipationsroman. Die beiden sind auf der Flucht aus der "Arbeitskolonie", die vor Generationen von "Oben" begründet wurde, weil die Ressourcen nicht mehr für alle reichten und der Weltuntergang befürchtet wurde. Natalia und Florio machten sich auf den Weg, "als die Reserven des Anderwassers im Spect zu Ende gingen". Gezielt schlagen sie Richtungen ein, aus denen keiner kommt. Sie verfügen über gute Kenntnisse und ein paar Privilegien (zum Beispiel Schlüssel) und kennen den Weg, denn sie waren - wie im Nachhinein klarwird - in unvermeidliche Schiebereien zwischen den beiden Welten involviert.
Die Flucht gelingt, mit ihr endet der erste Teil des Romans, "Der Bericht von der guten Zeit". Dann übernimmt Sophia, die Tochter von Natalia und Florio, die Erzählung. Sie hatte es ihrem Vater vor dessen Tod versprochen. Die Mutter blieb nach der Niederkunft verschwunden, wahrscheinlich hatte man sie "nicht mehr frei agieren lassen". Florio konnte an ihrer Beerdigung teilnehmen. "Er war den Tränen nahe", als er Sophia davon erzählte: "Die hartnäckige Pandemie habe ihm wegen der Maskenpflicht ermöglicht, unerkannt in die Menge zu tauchen."
Sophias Part trägt die Überschrift "Grenzüberschreitungen". Er handelt von den Beziehungen zwischen dem Mutterland und der "letzten Kolonie". Deren Regierung aus sieben "Gonern" und militärische Anspielungen verweisen auf die Schweiz. Sie wollte das Land im Zweiten Weltkrieg aus unterirdischen Bunkern und idyllischen Fake-Chalets, hinter deren Fenstern Kanonen lauerten, verteidigen. Im Kalten Krieg musste in jedem neuen Schweizer Haus ein atombombensicherer Luftschutzkeller gebaut werden.
Florio hat seiner Tochter ein Exemplar von Thomas Morus' "Utopia" hinterlassen. Auf diesem Entwurf einer idealen Gesellschaft fußt die Ideologie der Arbeitskolonie. Ein "Morus-Gesetz" regelt Aufgaben und Pflichten der "Untersch", die über keinerlei Rechte verfügen. Es gab Revolten, Terrorismus und die Forderung nach Unabhängigkeit. Auch Spione traten auf. Zwischen beiden Welten betrieb Florio sein "Kerngeschäft": Vor seiner Flucht schleuste er "mehr Leichen nach oben als Lebende".
Im Epilog übernimmt das Archiv. Es war vom Staat geschlossen worden, alle Spuren sollen ausgemerzt werden. In seinem Briefkasten waren kurz zuvor "Der Bericht von der guten Zeit" und die "Grenzüberschreitungen" deponiert worden. Drei Mitarbeiterinnen nehmen sich dieser Aufzeichnungen an: Tick, Trick und Track. Sie beginnen mit der Aufarbeitung und bereiten ihre Veröffentlichung vor: "Wir sind die letzten Historikerinnen, die ihre Tätigkeit fortsetzen - und damit illegal." Am Schluss sitzen auch sie in einer Höhle, und die allerletzten Wahrheiten über "Die letzte Kolonie" bleiben im Dunkeln.
Markus Bundis Roman besticht durch herrliche Beobachtungen und geistreiche Einfälle. Der Autor schreibt um viele Ecken herum, aber immer gelingt es ihm, die Kurve zu bekommen und den roten Faden nicht zu verlieren. Gelegentlich geht dem Leser seine erzählerische Verzögerungstaktik auf die Nerven. Die Fülle der Episoden fügt sich zu einem großen Puzzle, die Anzahl der Personen bleibt überschaubar. Das kleine Detail einer Pandemie mit Maskenpflicht verleiht dem skurrilen Roman einen Anflug von unheimlicher Antizipation, die gleich nach dem Schreiben Realität wurde.
Bundi versagt sich vollmundige theoretische Diskurse. Man könnte sich seinen im besten Sinne philosophischen Roman etwas leichter, frivoler und mit einer Prise Ironie als Meisterwerk vorstellen. Er ist nicht nur in seiner kultivierten Kauzigkeit sehr schweizerisch - nämlich durch und durch neutral: Jeder Standpunkt hat seine Berechtigung und alles zwei Seiten. Wenn die wortkargen Protagonisten reden, was sie wirklich nur selten tun, bedienen sie sich der Mundart. Das sollte deutsche Leser nicht von der Lektüre abhalten. "Die letzte Kolonie" ist - auch im übertragenen Sinne des Wortes - tiefgründiger und besser als jeder Schweizer "Tatort".
JÜRG ALTWEGG
Markus Bundi: "Die letzte Kolonie". Roman.
Verlag Septime, Wien 2021. 168 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schweiz pervers: Markus Bundi entwirft im Roman "Die letzte Kolonie" eine totalitäre Gesellschaft
Die Erde ist unbewohnbar geworden. Die Visionäre der Apokalypse spielen mit dem Gedanken, im Weltraum eine Kolonie zu begründen. Auf dem Mars wird nach Spuren von Leben geforscht. Nach dem Ende der Covid-19-Pandemie wollen die verrücktesten der zeitgenössischen Unternehmer schon einmal touristische Stippvisiten ins All anbieten. Als Alternative zum außerirdischen Trip darf man den neuen Roman von Markus Bundi empfehlen: "Die letzte Kolonie". Die titelgebende Institution ist ein unterirdisches Arbeitslager. Es wurde als Antwort auf die Verknappung der Ressourcen und die Bevölkerungsexplosion angelegt.
Markus Bundi, Jahrgang 1969, hat Philosophie und Germanistik studiert. Er arbeitete als Redakteur für Sport und Kultur, gegenwärtig ist er Gymnasiallehrer in Aarau. Und in den letzten Jahren hat er mehrere Romane veröffentlicht.
Seine neue Geschichte beginnt in einer Höhle. Ratten, Überratten und Riesenratten, die Schimpansen gleichen, bevölkern die Stollen, Schächte und Tunnels zwischen den Grotten. Die menschlichen Bewohner werden als "Untersch" bezeichnet. Es ist düster und ziemlich warm. Früher soll es hier einmal Helden gegeben haben, "lange vor der aktuellen Zeit, in einer Welt, in der man Abenteuer noch suchte". Es wurde immer schwieriger, an Bücher zu kommen, sie werden "systematisch vernichtet". In ihnen ist vom Sonnenlicht, das die Untersch nicht kennen, zu lesen. Vom Schnee und von Bäumen. Geschichten sind gefährlich und wie die Lieder verboten.
Die Untersch haben keinen Schatten. Am Brunnen, als "Quelle des Ursprungs" verehrt, betreiben sie Tauschhandel. Was es mit dem "Wasch" und dem "Anderwasser" im "Spect", der unterirdischen Kolonie, auf sich hat, bleibt lange rätselhaft. Bedeutungen, Abläufe und Zusammenhänge werden im Laufe der Erzählung verständlich - einigermaßen. Von Beginn an muss man höllisch aufpassen, um nichts zu verpassen. In diesem Labyrinth ist jede Spur, jedes Detail wichtig.
Die Untersch orientieren sich an Geräuschen in den Gängen: Ein Zungenschnalzen deutet an, dass jemand den Raum auslotet. Das Bewusstsein für Zeit haben sie verloren. "Hellblauphasen" unterbrechen die Monotonie der Dunkelheit. Gemessen wird die Zeit mit Gummibärchen. Die dritte Periode erreichen nur wenige, für die meisten ist nach Hellblau "Exitus".
Das Buch erzählt die Geschichte - und Liebesgeschichte - von Natalia und Florio in der Unterwelt. Aber es ist auch ein Abenteuer-, Spionage- und Antizipationsroman. Die beiden sind auf der Flucht aus der "Arbeitskolonie", die vor Generationen von "Oben" begründet wurde, weil die Ressourcen nicht mehr für alle reichten und der Weltuntergang befürchtet wurde. Natalia und Florio machten sich auf den Weg, "als die Reserven des Anderwassers im Spect zu Ende gingen". Gezielt schlagen sie Richtungen ein, aus denen keiner kommt. Sie verfügen über gute Kenntnisse und ein paar Privilegien (zum Beispiel Schlüssel) und kennen den Weg, denn sie waren - wie im Nachhinein klarwird - in unvermeidliche Schiebereien zwischen den beiden Welten involviert.
Die Flucht gelingt, mit ihr endet der erste Teil des Romans, "Der Bericht von der guten Zeit". Dann übernimmt Sophia, die Tochter von Natalia und Florio, die Erzählung. Sie hatte es ihrem Vater vor dessen Tod versprochen. Die Mutter blieb nach der Niederkunft verschwunden, wahrscheinlich hatte man sie "nicht mehr frei agieren lassen". Florio konnte an ihrer Beerdigung teilnehmen. "Er war den Tränen nahe", als er Sophia davon erzählte: "Die hartnäckige Pandemie habe ihm wegen der Maskenpflicht ermöglicht, unerkannt in die Menge zu tauchen."
Sophias Part trägt die Überschrift "Grenzüberschreitungen". Er handelt von den Beziehungen zwischen dem Mutterland und der "letzten Kolonie". Deren Regierung aus sieben "Gonern" und militärische Anspielungen verweisen auf die Schweiz. Sie wollte das Land im Zweiten Weltkrieg aus unterirdischen Bunkern und idyllischen Fake-Chalets, hinter deren Fenstern Kanonen lauerten, verteidigen. Im Kalten Krieg musste in jedem neuen Schweizer Haus ein atombombensicherer Luftschutzkeller gebaut werden.
Florio hat seiner Tochter ein Exemplar von Thomas Morus' "Utopia" hinterlassen. Auf diesem Entwurf einer idealen Gesellschaft fußt die Ideologie der Arbeitskolonie. Ein "Morus-Gesetz" regelt Aufgaben und Pflichten der "Untersch", die über keinerlei Rechte verfügen. Es gab Revolten, Terrorismus und die Forderung nach Unabhängigkeit. Auch Spione traten auf. Zwischen beiden Welten betrieb Florio sein "Kerngeschäft": Vor seiner Flucht schleuste er "mehr Leichen nach oben als Lebende".
Im Epilog übernimmt das Archiv. Es war vom Staat geschlossen worden, alle Spuren sollen ausgemerzt werden. In seinem Briefkasten waren kurz zuvor "Der Bericht von der guten Zeit" und die "Grenzüberschreitungen" deponiert worden. Drei Mitarbeiterinnen nehmen sich dieser Aufzeichnungen an: Tick, Trick und Track. Sie beginnen mit der Aufarbeitung und bereiten ihre Veröffentlichung vor: "Wir sind die letzten Historikerinnen, die ihre Tätigkeit fortsetzen - und damit illegal." Am Schluss sitzen auch sie in einer Höhle, und die allerletzten Wahrheiten über "Die letzte Kolonie" bleiben im Dunkeln.
Markus Bundis Roman besticht durch herrliche Beobachtungen und geistreiche Einfälle. Der Autor schreibt um viele Ecken herum, aber immer gelingt es ihm, die Kurve zu bekommen und den roten Faden nicht zu verlieren. Gelegentlich geht dem Leser seine erzählerische Verzögerungstaktik auf die Nerven. Die Fülle der Episoden fügt sich zu einem großen Puzzle, die Anzahl der Personen bleibt überschaubar. Das kleine Detail einer Pandemie mit Maskenpflicht verleiht dem skurrilen Roman einen Anflug von unheimlicher Antizipation, die gleich nach dem Schreiben Realität wurde.
Bundi versagt sich vollmundige theoretische Diskurse. Man könnte sich seinen im besten Sinne philosophischen Roman etwas leichter, frivoler und mit einer Prise Ironie als Meisterwerk vorstellen. Er ist nicht nur in seiner kultivierten Kauzigkeit sehr schweizerisch - nämlich durch und durch neutral: Jeder Standpunkt hat seine Berechtigung und alles zwei Seiten. Wenn die wortkargen Protagonisten reden, was sie wirklich nur selten tun, bedienen sie sich der Mundart. Das sollte deutsche Leser nicht von der Lektüre abhalten. "Die letzte Kolonie" ist - auch im übertragenen Sinne des Wortes - tiefgründiger und besser als jeder Schweizer "Tatort".
JÜRG ALTWEGG
Markus Bundi: "Die letzte Kolonie". Roman.
Verlag Septime, Wien 2021. 168 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Samuel Hamen warnt den Leser: Scharf gezogene Genregrenzen, Emotionen, ausgefeilte Dialoge soll er in Markus Bundis Dystopie gar nicht erst suchen. Bundis Erzählung über mittels Drogen unmündig gehaltene Untermenschen, die den Aufruhr wagen, wirft laut Hamen grundsätzliche Fragen des Menschseins auf, mischt sie mit realen Bedrohungen wie dem Klimawandel und mit Fragmenten einer Sprache der Verzweiflung zur Gesellschaftssatire und zum Revolutionsnarrativ. Scheint dem Rezensenten durchaus gefallen zu haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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