Ausgezeichnet mit dem Georg-Büchner-Preis 2018.
Ein Ausflug ans Meer soll ein junges Paar zusammenführen. Ein Nachtportier fühlt sich heimlich zu seiner Halbschwester hingezogen. Eine Unidozentin flieht vor einer gescheiterten Beziehung und vor der Auseinandersetzung mit sich selbst. Ein japanischer Professor verliebt sich in eine Göttin.
Kunstvoll erzählt Terézia Mora in »Die Liebe unter Aliens« von Menschen, die sich verlieren, aber nicht aufgeben, die verloren sind, aber weiter hoffen. Wir begegnen Frauen und Männern, die sich merkwürdig fremd sind und zueinander finden wollen. Einzelgängern, die sich ihre wahren Gefühle nicht eingestehen. Träumern, die sich ihren Idealismus auf eigensinnige Weise bewahren. Mit präziser Nüchternheit spürt Mora in diesen zehn Erzählungen Empfindungen nach, für die es keinen Auslass zu geben scheint, und erforscht die bisweilen tragikomische Sehnsucht nach Freundschaft, Liebe und Glück.
Ein Ausflug ans Meer soll ein junges Paar zusammenführen. Ein Nachtportier fühlt sich heimlich zu seiner Halbschwester hingezogen. Eine Unidozentin flieht vor einer gescheiterten Beziehung und vor der Auseinandersetzung mit sich selbst. Ein japanischer Professor verliebt sich in eine Göttin.
Kunstvoll erzählt Terézia Mora in »Die Liebe unter Aliens« von Menschen, die sich verlieren, aber nicht aufgeben, die verloren sind, aber weiter hoffen. Wir begegnen Frauen und Männern, die sich merkwürdig fremd sind und zueinander finden wollen. Einzelgängern, die sich ihre wahren Gefühle nicht eingestehen. Träumern, die sich ihren Idealismus auf eigensinnige Weise bewahren. Mit präziser Nüchternheit spürt Mora in diesen zehn Erzählungen Empfindungen nach, für die es keinen Auslass zu geben scheint, und erforscht die bisweilen tragikomische Sehnsucht nach Freundschaft, Liebe und Glück.
buecher-magazin.deEin alter Mann auf Verfolgungsjagd, junge Drogenkids auf dem Weg ans Meer, ein ungleiches Geschwisterpaar, das durch den Wald stolpert, eine ungarische Unistipendiatin auf Gewaltmärschen durch die englische Universitätsstadt, eine polnische Künstlerin, die als Putzfrau mit ihrem Fahrrad die Stadt ängstlich und wütend durchkreuzt, eine junge Fotografin, die an den Wochenenden zu ihrem Kind hetzt. Alle Figuren in diesen zehn Erzählungen sind rastlos, unterwegs, einsam. Terézia Moras schroffe Sprache kratzt an den Oberflächen, völlig unsentimental, aber keineswegs herzlos schaut sie hinter die Fassaden und entdeckt dort Einsamkeit, Angst, Zweifel. Es sind diese speziellen Momente, in denen Mora ihren Alltagshelden in die Seele schaut, die diese Schicksale verbindet. Wenn der Alltagstrott zerrissen wird durch ein Ereignis, eine Begegnung, eine Entscheidung. Jede einzelne Person in diesen Geschichten wirkt zwar verloren, aber auch auf eine eigene Art stark, geht ihren Weg. Fasziniert folgt man ihnen ein Stück des Weges, denn Mora beherrscht die Kunst, auf kleinem Raum ganz normale Menschenleben zu verdichten - aufrichtig, lakonisch, bitter und doch mit einem unbeugsamen Lebenswillen. Denn die Aliens sind wir und Mora erzählt wie keine andere von der seltsamen Spezies.
© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Die "resignativen Mentalitätsstudien", die Terezia Mora in ihrem neuen Erzählband "Allein unter Aliens" beschreibt, sind zwar nicht ganz so wuchtig wie in ihrem letzten Roman, aber nicht minder virtuos, versichert Rezensentin Wiebke Porombka. Fatalismus, Ausgeliefertsein und Unglück umgibt Moras Figuren. Das Unglück ist so mit dem Alltag verflochten, dass man es kaum bemerkt, erklärt die Kritikerin und lobt: Großartig, wie hier die Taubheit einer Gesellschaft seziert wird, die sich nicht mal mehr auf die Liebe einlassen kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.2016Fisch schwimmt, Vogel fliegt
Und was tut der Mensch? Terézia Moras funkelnde Erzählungen handeln von Sonderlingen unterwegs: "Die Liebe unter Aliens".
Straße", hat Terézia Mora einmal gesagt, sei eines ihrer Lieblingswörter, und man begreift ihre Leidenschaft für das Wort sofort. Denn die Literatur der 1971 im ungarischen Sopron geborenen Schriftstellerin, die nach dem Studium in Budapest 1990 nach Berlin übersiedelte und seither auf Deutsch publiziert, kreist unaufhörlich um das Unterwegssein. Grenzerfahrungen und Grenzgänger sind zentrale Sujets ihrer Bücher. "Weder drin noch draußen", heißt es über eine junge Ausreißerin in "Ein Schloss". Und wer könnte die Reise von Darius Kopp vergessen, jenes IT-Spezialisten, den Terézia Mora in ihrem 2013 mit dem Buchpreis ausgezeichneten Roman "Das Ungeheuer" nach dem Selbstmord seiner Frau Richtung Ungarn aufbrechen lässt? Mit der Asche und dem Laptop der Verstorbenen im Gepäck versucht er herauszufinden, was es mit der Liebe dieser zwei Menschen auf sich hatte, die sich in vielem so fremd waren.
In ihrem neuen Band mit Erzählungen, "Die Liebe unter Aliens", schreibt Terézia Mora jetzt abermals von Menschen unterwegs. Nicht zufällig fällt an einer Stelle das Bonmot des tschechischen Langstreckenläufers Emil Zátopek: "Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft." Hier ist es ein Frührentner, der als Marathonmann zu großer Form aufläuft, als ihm ein Junge auf offener Straße die Tasche klaut und er hinterherjagt. Zwei andere, Tim und Sandy, beide ziemlich prekäre Existenzen, zieht es aus der Stadt hinaus ans Meer, bis ihnen die Sehnsucht nach einem anderen, vielleicht besseren Leben am Ende zum Verhängnis werden wird. Ein Professor für Japanologie, der nichts mit sich anzufangen weiß, streift unruhig durch die Stadt, während eine junge Wissenschaftlerin, die selbstsicher durch den internationalen akademischen Betrieb surft, im Spaziergang vor der Tatsache flieht, dass ihr Freund sie sitzenließ.
Die Fremdheit, die schon im Titel des Erzählungsbands manifest wird, ist dabei auf die Kluft zwischen den Menschen ebenso gemünzt wie auf die Selbstentfremdung. In ihrem unverwechselbar lakonischen Duktus nimmt die Autorin eine Ansammlung ganz unterschiedlicher Existenzen in den Blick: Terézia Mora erzählt von Hilfsköchen, Juristen und Sanitätern, andere haben eine Drogenkarriere hinter sich, bei einem Scheidungskrieg den Sohn an die Gegenseite verloren oder den Tod eines Bruders zu beklagen. Was sie alle aber verbindet, ist ein gewisser Eigensinn und das Gefühl, dass etwas nicht stimmt in ihrem Leben. Manche schaffen es, zumindest kurzfristig den eingeschlagenen Weg zu korrigieren. So findet Mario, der nur seinen Eltern zuliebe Rechtswissenschaften studierte, sein Lebensglück im Sammeln von Antiquitäten und wandelt die Wohnung der verstorbenen Eltern in eine Pension um. Doch dann muss Mario die Möbel verkaufen, weil er sonst die Erbschaftssteuer nicht aufbringen kann.
Andere scheitern auf ganzer Strecke. Sandy, das Mädchen aus der Titelgeschichte mit dem Sehnsuchtsbild vom Meer, einem utopischen Moment innerhalb einer ausweglosen Situation, verschwindet an einer Stelle ganz plötzlich und einfach so, ohne Erklärung. Das Beunruhigende einer unerklärlichen Tat wird von Terézia Mora nicht entschärft, sondern sie lässt sie so stehen, sprachlich souverän. Es macht ihre Literatur so beeindruckend, dass man die Erzählungen mehrmals lesen kann, und jedes Mal wieder tut sich eine weitere Ebene auf. Terézia Mora schreibt über Unglück, aber nicht larmoyant, sie schreibt über Sonderlinge, aber nicht skurril. Darin liegt das Kunststück.
Der Marathonmann, der durch die Stadt wie um sein Leben rennt, muss am Ende feststellen, dass der Dieb ihm zwar sein Geld zurückgegeben, das Wichtigste aber behalten hat. Vor allem Männer wie er sind es, die in den Prosaminiaturen der fünfundvierzigjährigen Autorin mit ihrer Existenz hadern. Es ist ein Klima der Enge, das sie umgibt. Als Tom, dessen Namensdoppelgänger gerade gestorben ist, sich mit dessen Schwester trifft, gerät ihr Gespräch vollkommen aus dem Ruder. Beide schaffen es nicht, eine gemeinsame Sprache zu finden, in der sich über den Tod des Bruders, der Toms Kindheitsfreund war, sprechen ließe. Die Unruhe, die den überlebenden Tom erfasst, hat auch mit dem Ort zu tun. Denn er war schon eine Viertelstunde vor der Verabredung gekommen, um Katharina zu treffen, und dann hat sie ihn noch eine halbe Stunde warten lassen. Bei Terézia Mora kann schon der Umstand, an einen Ort gefesselt zu sein, in die Katastrophe führen. Nicht zuletzt, wenn es sich dabei auch noch um einen Friedhof handelt.
SANDRA KEGEL
Terézia Mora: "Die Liebe unter Aliens". Erzählungen.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016. 272 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und was tut der Mensch? Terézia Moras funkelnde Erzählungen handeln von Sonderlingen unterwegs: "Die Liebe unter Aliens".
Straße", hat Terézia Mora einmal gesagt, sei eines ihrer Lieblingswörter, und man begreift ihre Leidenschaft für das Wort sofort. Denn die Literatur der 1971 im ungarischen Sopron geborenen Schriftstellerin, die nach dem Studium in Budapest 1990 nach Berlin übersiedelte und seither auf Deutsch publiziert, kreist unaufhörlich um das Unterwegssein. Grenzerfahrungen und Grenzgänger sind zentrale Sujets ihrer Bücher. "Weder drin noch draußen", heißt es über eine junge Ausreißerin in "Ein Schloss". Und wer könnte die Reise von Darius Kopp vergessen, jenes IT-Spezialisten, den Terézia Mora in ihrem 2013 mit dem Buchpreis ausgezeichneten Roman "Das Ungeheuer" nach dem Selbstmord seiner Frau Richtung Ungarn aufbrechen lässt? Mit der Asche und dem Laptop der Verstorbenen im Gepäck versucht er herauszufinden, was es mit der Liebe dieser zwei Menschen auf sich hatte, die sich in vielem so fremd waren.
In ihrem neuen Band mit Erzählungen, "Die Liebe unter Aliens", schreibt Terézia Mora jetzt abermals von Menschen unterwegs. Nicht zufällig fällt an einer Stelle das Bonmot des tschechischen Langstreckenläufers Emil Zátopek: "Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft." Hier ist es ein Frührentner, der als Marathonmann zu großer Form aufläuft, als ihm ein Junge auf offener Straße die Tasche klaut und er hinterherjagt. Zwei andere, Tim und Sandy, beide ziemlich prekäre Existenzen, zieht es aus der Stadt hinaus ans Meer, bis ihnen die Sehnsucht nach einem anderen, vielleicht besseren Leben am Ende zum Verhängnis werden wird. Ein Professor für Japanologie, der nichts mit sich anzufangen weiß, streift unruhig durch die Stadt, während eine junge Wissenschaftlerin, die selbstsicher durch den internationalen akademischen Betrieb surft, im Spaziergang vor der Tatsache flieht, dass ihr Freund sie sitzenließ.
Die Fremdheit, die schon im Titel des Erzählungsbands manifest wird, ist dabei auf die Kluft zwischen den Menschen ebenso gemünzt wie auf die Selbstentfremdung. In ihrem unverwechselbar lakonischen Duktus nimmt die Autorin eine Ansammlung ganz unterschiedlicher Existenzen in den Blick: Terézia Mora erzählt von Hilfsköchen, Juristen und Sanitätern, andere haben eine Drogenkarriere hinter sich, bei einem Scheidungskrieg den Sohn an die Gegenseite verloren oder den Tod eines Bruders zu beklagen. Was sie alle aber verbindet, ist ein gewisser Eigensinn und das Gefühl, dass etwas nicht stimmt in ihrem Leben. Manche schaffen es, zumindest kurzfristig den eingeschlagenen Weg zu korrigieren. So findet Mario, der nur seinen Eltern zuliebe Rechtswissenschaften studierte, sein Lebensglück im Sammeln von Antiquitäten und wandelt die Wohnung der verstorbenen Eltern in eine Pension um. Doch dann muss Mario die Möbel verkaufen, weil er sonst die Erbschaftssteuer nicht aufbringen kann.
Andere scheitern auf ganzer Strecke. Sandy, das Mädchen aus der Titelgeschichte mit dem Sehnsuchtsbild vom Meer, einem utopischen Moment innerhalb einer ausweglosen Situation, verschwindet an einer Stelle ganz plötzlich und einfach so, ohne Erklärung. Das Beunruhigende einer unerklärlichen Tat wird von Terézia Mora nicht entschärft, sondern sie lässt sie so stehen, sprachlich souverän. Es macht ihre Literatur so beeindruckend, dass man die Erzählungen mehrmals lesen kann, und jedes Mal wieder tut sich eine weitere Ebene auf. Terézia Mora schreibt über Unglück, aber nicht larmoyant, sie schreibt über Sonderlinge, aber nicht skurril. Darin liegt das Kunststück.
Der Marathonmann, der durch die Stadt wie um sein Leben rennt, muss am Ende feststellen, dass der Dieb ihm zwar sein Geld zurückgegeben, das Wichtigste aber behalten hat. Vor allem Männer wie er sind es, die in den Prosaminiaturen der fünfundvierzigjährigen Autorin mit ihrer Existenz hadern. Es ist ein Klima der Enge, das sie umgibt. Als Tom, dessen Namensdoppelgänger gerade gestorben ist, sich mit dessen Schwester trifft, gerät ihr Gespräch vollkommen aus dem Ruder. Beide schaffen es nicht, eine gemeinsame Sprache zu finden, in der sich über den Tod des Bruders, der Toms Kindheitsfreund war, sprechen ließe. Die Unruhe, die den überlebenden Tom erfasst, hat auch mit dem Ort zu tun. Denn er war schon eine Viertelstunde vor der Verabredung gekommen, um Katharina zu treffen, und dann hat sie ihn noch eine halbe Stunde warten lassen. Bei Terézia Mora kann schon der Umstand, an einen Ort gefesselt zu sein, in die Katastrophe führen. Nicht zuletzt, wenn es sich dabei auch noch um einen Friedhof handelt.
SANDRA KEGEL
Terézia Mora: "Die Liebe unter Aliens". Erzählungen.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016. 272 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.10.2016Geklaute Tage
In ihrem Erzählungsband „Die Liebe unter Aliens“ stellt Terézia Mora
ihre Meisterschaft in der Darstellung zerfallender Routinen unter Beweis
VON MEIKE FESSMANN
Der Alltagstrott macht ihnen gar nichts aus, sie brauchen Routinen, um das Leben zu ertragen. Werden die Abläufe gestört, geraten die Figuren dieses Erzählbands komplett aus der Spur, werden fahrig und nervös oder können ihre Aggressivität kaum zügeln. Sie sind bedroht vom Absturz, behalten nur mühsam die Contenance, ständig haben sie Angst, die Kontrolle zu verlieren. Man könnte sie „Sonderlinge“ nennen, was gelegentlich auch geschieht. Doch das Außergewöhnliche dieses starken Erzählbands mit dem treffenden Titel „Die Liebe unter Aliens“ liegt woanders: in der Art, wie Terézia Mora ihren Figuren unter die Haut kriecht.
Man hört es pochen, rumoren, als wäre man drin in den Eingeweiden, in denen der Schreck und die Wut sitzen, und trotzdem ist der Erzählton distanziert. Die mit allen erdenklichen Preisen ausgezeichnete Schriftstellerin erzählt energisch, aber auch behutsam, tastend, sie macht keine Show. Sie sucht die Worte und die Sätze, die ihren Figuren durch den Kopf gehen, und zwar mit Vorliebe die Worte, die sie anderen verheimlichen. Da plätschert kein Bewusstseinsstrom, eher blitzt mal kurz was auf. Oft merkt man erst bei der zweiten Lektüre, wie viel man unterschwellig wahrgenommen hat: mal verriet eine Geste etwas, mal ein Wort – oder der ständige Blick auf die Uhr, der beinahe in keiner der elf Erzählungen fehlt. Terézia Mora ist eine Meisterin subliminaler Wirkungen.
So kommen uns die Figuren ziemlich nah. Ihre Absonderlichkeiten haben wir schon verinnerlicht, bevor wir sie verstanden haben. Da rennt ein siebenundfünfzigjähriger Frührentner, offenbar trainierter Marathonläufer, einem Achtzehnjährigen hinterher, der ihn bestohlen hat. Er rennt und rennt, quer durch die halbe Stadt, bis er ihn schließlich aus den Augen verliert. Doch erst der Freund, bei dem er einen Zweitschlüssel deponiert hat, muss ihm sagen, was die eigentliche Gefahr des Diebstahls ist: dass der Junge mit Ausweis und Schlüssel Zugang zu seiner Wohnung hat. Denn „Marathonmann“, wie der schrullige Typ, der seine Wertsachen in einem gelben Stoffbeutel durch die Gegend trägt, von den Nachbarn genannt wird, war nur damit beschäftigt, dass ihm der Junge „den normalen Tagesablauf geklaut“ hat.
Ist der Typ aus der ersten Erzählung ein eher harmloser Vogel, verhält es sich bei dem Sanitäter Tom anders. Harte Nachtschicht, wenig Schlaf, so startet er in den Tag, an dem er sich auf dem Friedhof verabredet hat. Er fährt extra zu früh los, ärgert sich schon bei der Ankunft, dass er notgedrungen warten muss, und umso mehr, als sich die Frau auch noch verspätet. Sie ist die Schwester eines kürzlich verstorbenen Jugendfreunds, der ebenfalls Tom hieß. Während er wartet, gehen ihm Szenen der letzten Tage durch den Kopf: wie er mit seinem achtjährigen Sohn, den er nur jedes zweite Wochenende sehen darf, in einem Sportpark war – viele junge Menschen: „alle zu jung und zu schön“ –, wie er den Sohn zum Essen anhielt (denn die Mutter überprüft nach dem Wochenende sein Gewicht), wie er sich wünschte, „ich könnte die Mutter meines Kindes nicht hassen oder weniger hassen“. Terézia Mora macht den anschwellenden Druck spürbar, die „latente Aggressivität“, lange bevor der Ausdruck zum ersten Mal fällt. Sie kriecht dorthin, wo das Ressentiment entsteht, wo das Gefühl Isolation haust, der innere Widerstand gegen die Außenwelt und der Versuch, andere zu manipulieren, um überhaupt irgendwie an der Welt teilzuhaben.
Die Bandbreite der Männer, die nicht mit dem Leben zurechtkommen, ist enorm. „Wie kann man dieses Leben meistern?“, fragt sich ein Anwalt, der die Stilmöbel seiner Eltern verkaufen muss, um die Erbschaftsteuer zu bezahlen, als sich deren Ehebett beim Abtransport im Treppenhaus verkeilt. Der Tierpfleger Erasmus Haas probiert es nach der Scheidung mit einer Ausbildung zum Verwaltungsangestellten und bekommt zur Prüfung ausgerechnet einen Fall, in dem es um ein Geparden-Weibchen geht. Ahnend, dass seine Antwort nicht die richtige war, taucht er ab in einen einsamen Alkoholexzess. „Ihr kriegt mich nicht, ich werde jetzt fünf Tage in meiner eigentlichen Heimat verbringen: im Saufen und im Fernsehen.“
Mitten hinein in die drastische Szene eines Blutsturzes gibt Mora dem Ganzen einen ironischen Dreh, wenn ihrem Helden einfällt, was er neulich irgendwo gelesen hat: „Man solle sich endlich damit abfinden, dass die Welt der Körper aufhöre zu existieren.“ Nicht alle Erzählungen sind so drastisch. Sehr viel zarter ist die Titelgeschichte um einen jungen Mann, der sich nach dem Tod seiner Mutter in ein Mädchen verliebt, das ihn ausnützt. Beim Kiffen kommen sie sich vor wie „Aliens“, darauf bezieht sich der Titel.
Einen ganz eigenen Zauber entwickelt die letzte Geschichte des Bandes. „Die Göttin der Barmherzigkeit zieht um“ erzählt von einem in Berlin lebenden japanischen Professor, der nach der Emeritierung nicht weiß, was er mit seinem Tag anfangen soll. Er will seiner Frau im Haushalt helfen, hat aber keine Ahnung, wie er das anstellen könnte. So stromert er durchs Viertel. Zum ersten Mal fällt ihm auf, wie hässlich die Straße ist, die er morgens immer schnurstracks Richtung U-Bahn verließ. Dann aber kommt die Liebe ins Spiel und die Verzauberung: In der Auslage einer Reinigung entdeckt er Votivtafeln, die er aus dem Tempel seiner Kindheit kennt – und im Inneren eine Frau, zu der er sich hingezogen fühlt. Magie und Profanität finden in dieser bis nach Japan führenden Erzählung zusammen. „Wenn schon Zauberei, dann richtig“, kommentiert die Erzählerin.
Von den kargen Geschichten ihres Debüts, „Seltsame Materie“, die vorwiegend in jener ungarisch-österreichischen Grenzregion spielen, aus der Terézia Mora stammt, hat sie sich schon lange fortentwickelt. Die Vorliebe für Sonderlinge ist der in Berlin lebenden Schriftstellerin geblieben. Ihr erster Roman, „Alle Tage“, setzte im Dolmetscher Abel Nema der hochbegabten Version dieses Typus ein Denkmal.
Was Selbstzweifel und Depressionen anrichten können und wie schwer es ist, sich in der Hightech-Welt globalisierter Geld- und Datenströme durchs Leben zu schlagen, ist das Thema ihrer Trilogie rund um den IT-Spezialisten Darius Kopp und seine Frau Flora. 2009 erschien der erste Band, „Der einzige Mann auf dem Kontinent“. Im zweiten Band, „Das Ungeheuer“, 2013 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, fährt Darius nach Floras Selbstmord mit ihrer Urne nach Ungarn und liest währenddessen ihre Tagebücher. Der dritte Band steht noch aus.
„Die Liebe unter Aliens“ ist weit mehr als ein Pausenfüller zwischen den Romanen. Die Energiedichte dieser Erzählungen ist hoch, eher implodierend als explosiv. Merkwürdigerweise denkt man manchmal an die Fotos von Hiroshima, auf denen die übrig gebliebenen Gegenstände von den Menschen erzählen, denen sie einmal gehörten.
Terézia Mora: Die Liebe unter Aliens. Erzählungen. Luchterhand Literaturverlag, München 2016. 267 Seiten, 22 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Diese Erzählungen führen
dorthin, wo die Isolation haust
Die Vorliebe für Sonderlinge
ist Terézia Mora geblieben
Erzählerin sonderbarer Innenwelten und Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2013: Terézia Mora.
Foto: Peter Peitsch
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In ihrem Erzählungsband „Die Liebe unter Aliens“ stellt Terézia Mora
ihre Meisterschaft in der Darstellung zerfallender Routinen unter Beweis
VON MEIKE FESSMANN
Der Alltagstrott macht ihnen gar nichts aus, sie brauchen Routinen, um das Leben zu ertragen. Werden die Abläufe gestört, geraten die Figuren dieses Erzählbands komplett aus der Spur, werden fahrig und nervös oder können ihre Aggressivität kaum zügeln. Sie sind bedroht vom Absturz, behalten nur mühsam die Contenance, ständig haben sie Angst, die Kontrolle zu verlieren. Man könnte sie „Sonderlinge“ nennen, was gelegentlich auch geschieht. Doch das Außergewöhnliche dieses starken Erzählbands mit dem treffenden Titel „Die Liebe unter Aliens“ liegt woanders: in der Art, wie Terézia Mora ihren Figuren unter die Haut kriecht.
Man hört es pochen, rumoren, als wäre man drin in den Eingeweiden, in denen der Schreck und die Wut sitzen, und trotzdem ist der Erzählton distanziert. Die mit allen erdenklichen Preisen ausgezeichnete Schriftstellerin erzählt energisch, aber auch behutsam, tastend, sie macht keine Show. Sie sucht die Worte und die Sätze, die ihren Figuren durch den Kopf gehen, und zwar mit Vorliebe die Worte, die sie anderen verheimlichen. Da plätschert kein Bewusstseinsstrom, eher blitzt mal kurz was auf. Oft merkt man erst bei der zweiten Lektüre, wie viel man unterschwellig wahrgenommen hat: mal verriet eine Geste etwas, mal ein Wort – oder der ständige Blick auf die Uhr, der beinahe in keiner der elf Erzählungen fehlt. Terézia Mora ist eine Meisterin subliminaler Wirkungen.
So kommen uns die Figuren ziemlich nah. Ihre Absonderlichkeiten haben wir schon verinnerlicht, bevor wir sie verstanden haben. Da rennt ein siebenundfünfzigjähriger Frührentner, offenbar trainierter Marathonläufer, einem Achtzehnjährigen hinterher, der ihn bestohlen hat. Er rennt und rennt, quer durch die halbe Stadt, bis er ihn schließlich aus den Augen verliert. Doch erst der Freund, bei dem er einen Zweitschlüssel deponiert hat, muss ihm sagen, was die eigentliche Gefahr des Diebstahls ist: dass der Junge mit Ausweis und Schlüssel Zugang zu seiner Wohnung hat. Denn „Marathonmann“, wie der schrullige Typ, der seine Wertsachen in einem gelben Stoffbeutel durch die Gegend trägt, von den Nachbarn genannt wird, war nur damit beschäftigt, dass ihm der Junge „den normalen Tagesablauf geklaut“ hat.
Ist der Typ aus der ersten Erzählung ein eher harmloser Vogel, verhält es sich bei dem Sanitäter Tom anders. Harte Nachtschicht, wenig Schlaf, so startet er in den Tag, an dem er sich auf dem Friedhof verabredet hat. Er fährt extra zu früh los, ärgert sich schon bei der Ankunft, dass er notgedrungen warten muss, und umso mehr, als sich die Frau auch noch verspätet. Sie ist die Schwester eines kürzlich verstorbenen Jugendfreunds, der ebenfalls Tom hieß. Während er wartet, gehen ihm Szenen der letzten Tage durch den Kopf: wie er mit seinem achtjährigen Sohn, den er nur jedes zweite Wochenende sehen darf, in einem Sportpark war – viele junge Menschen: „alle zu jung und zu schön“ –, wie er den Sohn zum Essen anhielt (denn die Mutter überprüft nach dem Wochenende sein Gewicht), wie er sich wünschte, „ich könnte die Mutter meines Kindes nicht hassen oder weniger hassen“. Terézia Mora macht den anschwellenden Druck spürbar, die „latente Aggressivität“, lange bevor der Ausdruck zum ersten Mal fällt. Sie kriecht dorthin, wo das Ressentiment entsteht, wo das Gefühl Isolation haust, der innere Widerstand gegen die Außenwelt und der Versuch, andere zu manipulieren, um überhaupt irgendwie an der Welt teilzuhaben.
Die Bandbreite der Männer, die nicht mit dem Leben zurechtkommen, ist enorm. „Wie kann man dieses Leben meistern?“, fragt sich ein Anwalt, der die Stilmöbel seiner Eltern verkaufen muss, um die Erbschaftsteuer zu bezahlen, als sich deren Ehebett beim Abtransport im Treppenhaus verkeilt. Der Tierpfleger Erasmus Haas probiert es nach der Scheidung mit einer Ausbildung zum Verwaltungsangestellten und bekommt zur Prüfung ausgerechnet einen Fall, in dem es um ein Geparden-Weibchen geht. Ahnend, dass seine Antwort nicht die richtige war, taucht er ab in einen einsamen Alkoholexzess. „Ihr kriegt mich nicht, ich werde jetzt fünf Tage in meiner eigentlichen Heimat verbringen: im Saufen und im Fernsehen.“
Mitten hinein in die drastische Szene eines Blutsturzes gibt Mora dem Ganzen einen ironischen Dreh, wenn ihrem Helden einfällt, was er neulich irgendwo gelesen hat: „Man solle sich endlich damit abfinden, dass die Welt der Körper aufhöre zu existieren.“ Nicht alle Erzählungen sind so drastisch. Sehr viel zarter ist die Titelgeschichte um einen jungen Mann, der sich nach dem Tod seiner Mutter in ein Mädchen verliebt, das ihn ausnützt. Beim Kiffen kommen sie sich vor wie „Aliens“, darauf bezieht sich der Titel.
Einen ganz eigenen Zauber entwickelt die letzte Geschichte des Bandes. „Die Göttin der Barmherzigkeit zieht um“ erzählt von einem in Berlin lebenden japanischen Professor, der nach der Emeritierung nicht weiß, was er mit seinem Tag anfangen soll. Er will seiner Frau im Haushalt helfen, hat aber keine Ahnung, wie er das anstellen könnte. So stromert er durchs Viertel. Zum ersten Mal fällt ihm auf, wie hässlich die Straße ist, die er morgens immer schnurstracks Richtung U-Bahn verließ. Dann aber kommt die Liebe ins Spiel und die Verzauberung: In der Auslage einer Reinigung entdeckt er Votivtafeln, die er aus dem Tempel seiner Kindheit kennt – und im Inneren eine Frau, zu der er sich hingezogen fühlt. Magie und Profanität finden in dieser bis nach Japan führenden Erzählung zusammen. „Wenn schon Zauberei, dann richtig“, kommentiert die Erzählerin.
Von den kargen Geschichten ihres Debüts, „Seltsame Materie“, die vorwiegend in jener ungarisch-österreichischen Grenzregion spielen, aus der Terézia Mora stammt, hat sie sich schon lange fortentwickelt. Die Vorliebe für Sonderlinge ist der in Berlin lebenden Schriftstellerin geblieben. Ihr erster Roman, „Alle Tage“, setzte im Dolmetscher Abel Nema der hochbegabten Version dieses Typus ein Denkmal.
Was Selbstzweifel und Depressionen anrichten können und wie schwer es ist, sich in der Hightech-Welt globalisierter Geld- und Datenströme durchs Leben zu schlagen, ist das Thema ihrer Trilogie rund um den IT-Spezialisten Darius Kopp und seine Frau Flora. 2009 erschien der erste Band, „Der einzige Mann auf dem Kontinent“. Im zweiten Band, „Das Ungeheuer“, 2013 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, fährt Darius nach Floras Selbstmord mit ihrer Urne nach Ungarn und liest währenddessen ihre Tagebücher. Der dritte Band steht noch aus.
„Die Liebe unter Aliens“ ist weit mehr als ein Pausenfüller zwischen den Romanen. Die Energiedichte dieser Erzählungen ist hoch, eher implodierend als explosiv. Merkwürdigerweise denkt man manchmal an die Fotos von Hiroshima, auf denen die übrig gebliebenen Gegenstände von den Menschen erzählen, denen sie einmal gehörten.
Terézia Mora: Die Liebe unter Aliens. Erzählungen. Luchterhand Literaturverlag, München 2016. 267 Seiten, 22 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Diese Erzählungen führen
dorthin, wo die Isolation haust
Die Vorliebe für Sonderlinge
ist Terézia Mora geblieben
Erzählerin sonderbarer Innenwelten und Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2013: Terézia Mora.
Foto: Peter Peitsch
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"Ganz offensichtlich weiß Terézia Mora, welche Anstrengung es bedeutet, im Leben die Balance zu halten und nicht ins Trudeln zu kommen. Den Figuren, denen das nicht gelingt, gehört ihre Zuneigung". Claudia Voigt / DER SPIEGEL
Fisch schwimmt, Vogel fliegt
Und was tut der Mensch? Terézia Moras funkelnde Erzählungen handeln von Sonderlingen unterwegs: "Die Liebe unter Aliens".
Straße", hat Terézia Mora einmal gesagt, sei eines ihrer Lieblingswörter, und man begreift ihre Leidenschaft für das Wort sofort. Denn die Literatur der 1971 im ungarischen Sopron geborenen Schriftstellerin, die nach dem Studium in Budapest 1990 nach Berlin übersiedelte und seither auf Deutsch publiziert, kreist unaufhörlich um das Unterwegssein. Grenzerfahrungen und Grenzgänger sind zentrale Sujets ihrer Bücher. "Weder drin noch draußen", heißt es über eine junge Ausreißerin in "Ein Schloss". Und wer könnte die Reise von Darius Kopp vergessen, jenes IT-Spezialisten, den Terézia Mora in ihrem 2013 mit dem Buchpreis ausgezeichneten Roman "Das Ungeheuer" nach dem Selbstmord seiner Frau Richtung Ungarn aufbrechen lässt? Mit der Asche und dem Laptop der Verstorbenen im Gepäck versucht er herauszufinden, was es mit der Liebe dieser zwei Menschen auf sich hatte, die sich in vielem so fremd waren.
In ihrem neuen Band mit Erzählungen, "Die Liebe unter Aliens", schreibt Terézia Mora jetzt abermals von Menschen unterwegs. Nicht zufällig fällt an einer Stelle das Bonmot des tschechischen Langstreckenläufers Emil Zátopek: "Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft." Hier ist es ein Frührentner, der als Marathonmann zu großer Form aufläuft, als ihm ein Junge auf offener Straße die Tasche klaut und er hinterherjagt. Zwei andere, Tim und Sandy, beide ziemlich prekäre Existenzen, zieht es aus der Stadt hinaus ans Meer, bis ihnen die Sehnsucht nach einem anderen, vielleicht besseren Leben am Ende zum Verhängnis werden wird. Ein Professor für Japanologie, der nichts mit sich anzufangen weiß, streift unruhig durch die Stadt, während eine junge Wissenschaftlerin, die selbstsicher durch den internationalen akademischen Betrieb surft, im Spaziergang vor der Tatsache flieht, dass ihr Freund sie sitzenließ.
Die Fremdheit, die schon im Titel des Erzählungsbands manifest wird, ist dabei auf die Kluft zwischen den Menschen ebenso gemünzt wie auf die Selbstentfremdung. In ihrem unverwechselbar lakonischen Duktus nimmt die Autorin eine Ansammlung ganz unterschiedlicher Existenzen in den Blick: Terézia Mora erzählt von Hilfsköchen, Juristen und Sanitätern, andere haben eine Drogenkarriere hinter sich, bei einem Scheidungskrieg den Sohn an die Gegenseite verloren oder den Tod eines Bruders zu beklagen. Was sie alle aber verbindet, ist ein gewisser Eigensinn und das Gefühl, dass etwas nicht stimmt in ihrem Leben. Manche schaffen es, zumindest kurzfristig den eingeschlagenen Weg zu korrigieren. So findet Mario, der nur seinen Eltern zuliebe Rechtswissenschaften studierte, sein Lebensglück im Sammeln von Antiquitäten und wandelt die Wohnung der verstorbenen Eltern in eine Pension um. Doch dann muss Mario die Möbel verkaufen, weil er sonst die Erbschaftssteuer nicht aufbringen kann.
Andere scheitern auf ganzer Strecke. Sandy, das Mädchen aus der Titelgeschichte mit dem Sehnsuchtsbild vom Meer, einem utopischen Moment innerhalb einer ausweglosen Situation, verschwindet an einer Stelle ganz plötzlich und einfach so, ohne Erklärung. Das Beunruhigende einer unerklärlichen Tat wird von Terézia Mora nicht entschärft, sondern sie lässt sie so stehen, sprachlich souverän. Es macht ihre Literatur so beeindruckend, dass man die Erzählungen mehrmals lesen kann, und jedes Mal wieder tut sich eine weitere Ebene auf. Terézia Mora schreibt über Unglück, aber nicht larmoyant, sie schreibt über Sonderlinge, aber nicht skurril. Darin liegt das Kunststück.
Der Marathonmann, der durch die Stadt wie um sein Leben rennt, muss am Ende feststellen, dass der Dieb ihm zwar sein Geld zurückgegeben, das Wichtigste aber behalten hat. Vor allem Männer wie er sind es, die in den Prosaminiaturen der fünfundvierzigjährigen Autorin mit ihrer Existenz hadern. Es ist ein Klima der Enge, das sie umgibt. Als Tom, dessen Namensdoppelgänger gerade gestorben ist, sich mit dessen Schwester trifft, gerät ihr Gespräch vollkommen aus dem Ruder. Beide schaffen es nicht, eine gemeinsame Sprache zu finden, in der sich über den Tod des Bruders, der Toms Kindheitsfreund war, sprechen ließe. Die Unruhe, die den überlebenden Tom erfasst, hat auch mit dem Ort zu tun. Denn er war schon eine Viertelstunde vor der Verabredung gekommen, um Katharina zu treffen, und dann hat sie ihn noch eine halbe Stunde warten lassen. Bei Terézia Mora kann schon der Umstand, an einen Ort gefesselt zu sein, in die Katastrophe führen. Nicht zuletzt, wenn es sich dabei auch noch um einen Friedhof handelt.
SANDRA KEGEL
Terézia Mora: "Die Liebe unter Aliens". Erzählungen.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016. 272 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und was tut der Mensch? Terézia Moras funkelnde Erzählungen handeln von Sonderlingen unterwegs: "Die Liebe unter Aliens".
Straße", hat Terézia Mora einmal gesagt, sei eines ihrer Lieblingswörter, und man begreift ihre Leidenschaft für das Wort sofort. Denn die Literatur der 1971 im ungarischen Sopron geborenen Schriftstellerin, die nach dem Studium in Budapest 1990 nach Berlin übersiedelte und seither auf Deutsch publiziert, kreist unaufhörlich um das Unterwegssein. Grenzerfahrungen und Grenzgänger sind zentrale Sujets ihrer Bücher. "Weder drin noch draußen", heißt es über eine junge Ausreißerin in "Ein Schloss". Und wer könnte die Reise von Darius Kopp vergessen, jenes IT-Spezialisten, den Terézia Mora in ihrem 2013 mit dem Buchpreis ausgezeichneten Roman "Das Ungeheuer" nach dem Selbstmord seiner Frau Richtung Ungarn aufbrechen lässt? Mit der Asche und dem Laptop der Verstorbenen im Gepäck versucht er herauszufinden, was es mit der Liebe dieser zwei Menschen auf sich hatte, die sich in vielem so fremd waren.
In ihrem neuen Band mit Erzählungen, "Die Liebe unter Aliens", schreibt Terézia Mora jetzt abermals von Menschen unterwegs. Nicht zufällig fällt an einer Stelle das Bonmot des tschechischen Langstreckenläufers Emil Zátopek: "Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft." Hier ist es ein Frührentner, der als Marathonmann zu großer Form aufläuft, als ihm ein Junge auf offener Straße die Tasche klaut und er hinterherjagt. Zwei andere, Tim und Sandy, beide ziemlich prekäre Existenzen, zieht es aus der Stadt hinaus ans Meer, bis ihnen die Sehnsucht nach einem anderen, vielleicht besseren Leben am Ende zum Verhängnis werden wird. Ein Professor für Japanologie, der nichts mit sich anzufangen weiß, streift unruhig durch die Stadt, während eine junge Wissenschaftlerin, die selbstsicher durch den internationalen akademischen Betrieb surft, im Spaziergang vor der Tatsache flieht, dass ihr Freund sie sitzenließ.
Die Fremdheit, die schon im Titel des Erzählungsbands manifest wird, ist dabei auf die Kluft zwischen den Menschen ebenso gemünzt wie auf die Selbstentfremdung. In ihrem unverwechselbar lakonischen Duktus nimmt die Autorin eine Ansammlung ganz unterschiedlicher Existenzen in den Blick: Terézia Mora erzählt von Hilfsköchen, Juristen und Sanitätern, andere haben eine Drogenkarriere hinter sich, bei einem Scheidungskrieg den Sohn an die Gegenseite verloren oder den Tod eines Bruders zu beklagen. Was sie alle aber verbindet, ist ein gewisser Eigensinn und das Gefühl, dass etwas nicht stimmt in ihrem Leben. Manche schaffen es, zumindest kurzfristig den eingeschlagenen Weg zu korrigieren. So findet Mario, der nur seinen Eltern zuliebe Rechtswissenschaften studierte, sein Lebensglück im Sammeln von Antiquitäten und wandelt die Wohnung der verstorbenen Eltern in eine Pension um. Doch dann muss Mario die Möbel verkaufen, weil er sonst die Erbschaftssteuer nicht aufbringen kann.
Andere scheitern auf ganzer Strecke. Sandy, das Mädchen aus der Titelgeschichte mit dem Sehnsuchtsbild vom Meer, einem utopischen Moment innerhalb einer ausweglosen Situation, verschwindet an einer Stelle ganz plötzlich und einfach so, ohne Erklärung. Das Beunruhigende einer unerklärlichen Tat wird von Terézia Mora nicht entschärft, sondern sie lässt sie so stehen, sprachlich souverän. Es macht ihre Literatur so beeindruckend, dass man die Erzählungen mehrmals lesen kann, und jedes Mal wieder tut sich eine weitere Ebene auf. Terézia Mora schreibt über Unglück, aber nicht larmoyant, sie schreibt über Sonderlinge, aber nicht skurril. Darin liegt das Kunststück.
Der Marathonmann, der durch die Stadt wie um sein Leben rennt, muss am Ende feststellen, dass der Dieb ihm zwar sein Geld zurückgegeben, das Wichtigste aber behalten hat. Vor allem Männer wie er sind es, die in den Prosaminiaturen der fünfundvierzigjährigen Autorin mit ihrer Existenz hadern. Es ist ein Klima der Enge, das sie umgibt. Als Tom, dessen Namensdoppelgänger gerade gestorben ist, sich mit dessen Schwester trifft, gerät ihr Gespräch vollkommen aus dem Ruder. Beide schaffen es nicht, eine gemeinsame Sprache zu finden, in der sich über den Tod des Bruders, der Toms Kindheitsfreund war, sprechen ließe. Die Unruhe, die den überlebenden Tom erfasst, hat auch mit dem Ort zu tun. Denn er war schon eine Viertelstunde vor der Verabredung gekommen, um Katharina zu treffen, und dann hat sie ihn noch eine halbe Stunde warten lassen. Bei Terézia Mora kann schon der Umstand, an einen Ort gefesselt zu sein, in die Katastrophe führen. Nicht zuletzt, wenn es sich dabei auch noch um einen Friedhof handelt.
SANDRA KEGEL
Terézia Mora: "Die Liebe unter Aliens". Erzählungen.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016. 272 S., geb., 22,- [Euro].
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