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Clemens J. Setz wird als Junggenie der deutschen Literatur gefeiert. Sein Erzählungsband "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes", der für den Leipziger Buchpreis nominiert ist, zaubert allerlei Phantastik aus dem Hut.
Der deutsche Literaturbetrieb hat ein neues Hoffnungskind und ist ganz entzückt über dieses früh berufene Genie. Kaum ein Superlativ, der nicht schon im Zusammenhang mit dem 1982 in Graz geborenen Wunderknaben Clemens J. Setz in die literarische Arena geworfen worden wäre. Der Germanist und Mathematiker, der sich von Suhrkamp, seinem neuen Verlag, im Klappentext nicht nur als Schriftsteller und Übersetzer, sondern auch als "Obertonsänger" und "Gelegenheitszauberer" ankündigen lässt, hatte in dem 2009 hochgelobten Roman "Die Frequenzen" auf siebenhundert Seiten das nicht eben einfache Väter-Söhne-Verhältnis behandelt. Nun hat das Vielfachtalent einen Band mit Erzählungen vorgelegt, der es in die Endrunde zum Preis der Leipziger Buchmesse geschafft hat. Gründe zuhauf, sich die achtzehn Geschichten des Bandes "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes" anzuschauen.
Zweifellos erzählt hier ein literarisches Ich, das seine Mittel souverän und überraschend vielfältig einzusetzen versteht. Es weiß um die Unbehaustheit des modernen Menschen, wie schon die Erzählung "Mütter" zeigt. Da holen sich junge Männer als Muttis verkleidete Prostituierte ins Haus, um das Gefühl von Geborgenheit, wenn es nicht anders möglich ist, wenigstens gegen Bezahlung zu bekommen. In einer anderen Geschichte verliert eine höhere Angestellte den Anschluss an die Welt, nachdem ihre schicken Visitenkarten plötzlich von Schleim befallen werden. Nach und nach kommen die ansteckenden Geschwüre, die es vor allem auf Papier abgesehen haben, über ihre gesamte Habe. Bald kann Martina Keller vor Scham nicht mehr anders, als nur noch heimlich ihre Wohnung zu verlassen - um schließlich grausam Rache an der Welt zu nehmen. Die Titelgeschichte handelt von einer Plastik namens "Mahlstädter Kind", die der Künstler eigens dafür gestaltet hat, dass Betrachter die Lehmskulptur schlagen und treten, um sie so erst zu vollenden. Auf einer knappen Seite erzählt "Eine sehr kurze Geschichte", wie einem Mädchen Flügel wachsen, während Setz in "Kleine braune Tiere" dreißig Seiten lange Mutmaßungen über den Erfinder eines Computerspiels anstellt, das so anspruchsvoll konstruiert ist, dass niemand je die letzte Ebene erreicht. Natürlich kommt, wie es sich für postmodernes Erzählen gehört, auch ein Autor namens Clemens J. Setz vor - als weißhaariger Greis fristet er in einem Literaturarchiv sein Dasein. Und natürlich gilt auch für dieses Erzählwerk, dass es Metatexte zuhauf birgt: "Die Liebe in Zeiten des Mahlstädter Kindes" ist auch Literatur über Literatur.
Dabei zieht der achtundzwanzigjährige Österreicher alle Register literarischen Erzählens: Er weitet die Perspektive, zum Teil bis ins Unendliche, dann wieder drückt er rasant aufs Tempo, er findet phantastische Bilder und irreale Szenen, die von großer Könnerschaft zeugen. Seine Erzählung "Die Waage" wurde 2008 mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet. Doch manchmal schießt er auch übers Ziel hinaus: Da schreibt jemand mit dem unheimlichen Wahrnehmungsexzess E.T.A. Hoffmanns über Gestalten, die in kafkaesker Verwandlung begriffen sind, wie auf einem Trip in eine Parallelwelt à la Borges. Dieser Autor will viel, manchmal zu viel: Wenn ein Gelegenheitszauberer vorführt, was er so alles aus dem Hut hexen kann und mit was er zu jonglieren vermag, ist das zu oft mehr Handwerk als Kunst.
Auch gefallen sich einige der Miniaturen in der betont nüchternen, emotionslosen Beschreibung brutaler Gewalt. Da werden Kinder misshandelt und wird Mädchen die Unschuld geraubt, es werden im Gruppenverband schwache Männer sexuell gedemütigt oder gezwungen, Dreck vom Boden zu lecken. Da lässt sich eine junge Frau von ihrem Freund in einen Käfig sperren, und eine Prostituierte wird von einem sadistischen Ehepaar derart grausam gequält, dass die Lektüre schwerfällt. "Frederik war ein strenger Mensch. Er schlug seine Frau regelmäßig" - das ist so ein typischer Setz-Satz, oder: "Ich hatte Sarah nach der Vergewaltigung auf ihren eigenen Wunsch hin an einen Küchenstuhl gefesselt und war schlafen gegangen."
Dabei will Setz kein Protokollant menschlicher Abgründe à la Ferdinand von Schirach sein. Ihm geht es gerade nicht um simulierte Realität. Zwar steckt "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes" voller selbstreferentieller Bezüge und intertextueller Anspielungen, ist der Band ein Abenteuerspielplatz für Germanisten. Das macht seinen Autor aber noch nicht zu einem deutschen Nachfolger von David Foster Wallace. Gleich zu Beginn taucht unter einem Bett eine blaue Kiste auf, in der es bedeutungsvoll rappelt: von der Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars über ein Porträt des Elefantenmenschen Joseph Merrick bis zum brennenden Mädchen in Vietnam, einem Lampenschirm aus Buchenwald und der musikalischen Hölle von Hieronymus Bosch. Diese Liste ließe sich lang fortführen - und beliebig.
Subtil ist Clemens J. Setz nicht, will es wohl auch nicht sein. So wird das ewige "Rauf und runter" des Lebens nicht nur plakativ mit M.C. Eschers berühmtem Bild gleichen Namens bemüht, das hier als Poster an einer Wand hängt. Auch die uralte Metapher der conditio humana, das Rad der Fortuna nämlich, wird in der Erzählung "Das Riesenrad" arg strapaziert: In einem der Waggons der gigantischen Stahlkonstruktion am Stadtrand wohnt eine junge Frau, die offenkundig an Sozialphobie leidet. Außerdem hat sie Probleme mit dem Ausstieg aus ihrem kreisenden Wohnmodul, zumal wenn es gerade oben steht. Deshalb muss ein Mechaniker kommen, um ihren Steuerungskasten zu reparieren. Aber wie sich herausstellt, ist auch der Handwerksmeister nicht allmächtig: "Sein Gesichtsausdruck war grimmig. Er schien wütend auf sich selbst zu sein. Wahrscheinlich kam es nicht oft vor, dass er einen Auftrag nur zu Hälfte ausführen konnte."
SANDRA KEGEL
Clemens J. Setz: "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes". Erzählungen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 350 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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