Mit sämtlichen Gefühls- und Spielarten der Liebe wird der Pariser Polizeikommissar Olivier konfrontiert. Er hat eine Frau zu verhören, die von sich behauptet sie verwandle die Männer nach dem Akt in alle möglichen und unmöglichen Gestalten, sie entstelle ihre Rivalinnen, bringe Liebhaber und Liebhaberinnen um. Zunächst glaubt der Kommissar, es mit einer Verwirrten zu tun zu haben. Dann begreift er, daß die Person ein ungeheures Wissen um Gefühle von Liebe und Haß, Zuneigung und Zerstörung hat. Immer wieder hört er die Bänder ihres Verhöres ab um dem Geheimnis dieser Frau auf die Spur zu kommen. Am Ende dieser großartig komponierten, spannenden und weit ausgreifenden Erzählung finden die Polizeikollegen den Kommissar ermordet auf.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.11.2012Ein Flic
Albert Ostermaier hat eine ekstatische Liebesabenteuergeschichte geschrieben. In „Die Liebende“ reist
er den Irrfahrten des Odysseus nach – und den Kinoträumen des französischen Film noir
VON FRITZ GÖTTLER
Den Tod will er draußen lassen, der junge Polizeikommissar Olivier. Das ist bei ihm eine Art déformation professionelle; den ganzen Tag hat er mit Mord und anderen wahnwitzigen Verbrechen zu tun, mit all den unbekannten Toten in den Schubfächern der Morgue. „Dieser ganze Tod hatte ihn irgendwann so angewidert, dass er sich, wenn er nach Hause kam, vor der Tür nackt auszog. Er wollte den Tod nicht über seine Schwelle lassen. Die Nachbarn lachten erst, dann beschwerten sie sich, schickten den Hausmeister, die Verwaltung. Sie hatten Angst vor seinen Kleidern, sie berührten sie nicht, fassten sie nicht an, hätten sie am liebsten verbrannt, wenn sie vor der Tür lagen. Er wusch sie im Keller. Saß vor der Wäschetrommel und beruhigte sich. Sie hatten ihm einen Korb vor die Tür gestellt. Nein, der Tod hatte wirklich keinen Platz in seinem Leben.“
Todes-Kontamination, vom Tod gleichzeitig angezogen und abgestoßen zu werden, man wird ihn nicht los. Im Leben zeigt Olivier all die Symptome großstädtischer Einzelgänger, leere Wohnungen, wo er sich nicht heimisch fühlt, Kühlschränke, „in denen jedes Datum abgelaufen war“, Tagträume, mit dem Motorrad durch Südamerika. Er hat keine Lust mehr auf Frauen, hat sich „ausgeliebt“. Die Götter lieben dich, sagen die Kollegen zu ihm, weil er immer wieder bei Einsätzen eigentlich tödlichen Schüssen entgeht. Und er redet mit den Toten, ausführlicher und lieber als mit den Lebenden. Die Einsamkeit des Flics in den Straßen von Paris, sie gleicht in diesem Buch der des Samurai und der des Tigers im Dschungel.
Nun aber hat Olivier eine Greisin im Verhörzimmer sitzen, der womöglich diverse Männer zum Opfer gefallen sind, sie hat sie angelockt, geliebt, in Bann geschlagen, getötet. Und hat in all diesen Affären immer nur eine einzige, überzeitliche Liebe erlebt. Es ist kein richtiges Verhör, das da abläuft, die Frau spricht mehr zu sich, manchmal nur zum Ermittler. Olivier ist meistens stumm – läuft das Band noch, fragt er sich immer wieder irritiert.
Ein literarischer Film noir von Albert Obermaier – wenn ich schreibe, verkündet er, sehe ich immer Filme. Er macht Kino mit seinen Texten, von französischen Nachtfilmen inspiriert, die abstrakter sind in ihren Träumen als die aus Hollywood. Die kompakten Einheiten des klassischen Erzählens interessieren ihn nicht, und nicht die Konstrukte, mit denen es hantiert – Identität, Psychologie, Motivation; ihn interessiert der Mythos dahinter, in dem sie alle sich auflösen. „Sie misstrauen ihrem Körper als Einheit ihrer selbst“, heißt es von den Männern in diesem Buch: „Männer wollen Schemen sein. Hüllen aus Luft.“
Schemenhaft ist auch die Sprache des Buches, Albert Ostermaier hat keine Berührungsangst vor dem Pathos und der Ästhetik des Klischees, er schreibt mit lyrischer Inbrunst und Ekstase, aber das unglaublich cool. Ein halbes Dutzend Mal pro Seite etwa kommen Sätze daher wie Parolen und Kampfansagen: „Ja, ich werde meine Träume leben. Die Träume, an die ich mich nicht erinnern kann.“ Oder: „Du musst selbst das Abenteuer sein.“ Oder, literarisch frei inspiriert: „Der Speer nur heilt die Wunde, die er schlug.“
Ein moderner Noir, der seine Spannung aus den Metamorphosen von Ovid bezieht. Und das Krimi-Genre entdeckt dabei seine solipsistische Natur – wie absurd zu glauben, man könnte all die individuellen Spuren, Indizien, Signale, die man sammelt im Laufe einer Recherche, zur Deckung bringen mit einer allgemein verbindlichen Geschichte, die dahinter stecken könnte. Wirklichkeit und Traum gehen ineinander über, das kleine Verhörzimmer unterm Dach und die Küche bei Olivier werden Transiträume, die sich öffnen für mythische Perspektiven, traumwandlerische Figuren.
Ja, man darf die alte Frau Circe nennen, die Zauberin, die böse Hexe, „die Liebende“, die von ihrer Unersättlichkeit erzählt und infamen Faxen, die sie anstellte mit Skylla und Glaukos, die auf ihrer Insel die Männer, die dort anlegten auf jahrelangen Irrfahrten, verhexte und mit ihrer Liebe bannte. Auch Odysseus war darunter, ihr prominentestes Opfer, von dem Olivier einiges in sich spürt, das Modell für all die einsamen Männer, Vagabunden, Drifter des Buches. „Er hat seinen Namen vergessen – dass er tot ist, dass nur ich ihn sehen kann, dass ich ihn auf den falschen Weg gebracht hatte, dass er niemals mehr aus dem Totenreich kam. Nur seine Erzählung, die für ihn weiterlebte.“
Natürlich sind die Männer nicht nur Opfer, sie wollen von Circe, der Anti-Muse, besessen und zerstört werden, deren wilde Liebe kollidiert mit den gesellschaftlichen Regeln und deren Rollen. Auch Olivier hat, wie Odysseus, seinen Abstieg in den Hades, wenn er nicht weiterweiß, geht er zu seinem Freund Michel – Michael Althen steckt in dieser Figur, der im vorigen Jahr gestorbene Filmkritiker –, in dessen Kellerkino, wo die toten Schauspieler und Regisseure sitzen, darunter auch der strenge Übervater Jean-Pierre Melville, der Meister des französischen Film noir. Hier wird Olivier „das Unsichtbare hinter dem Offensichtlichen, das Übersehene“ vorgeführt.
Den Stimmen aber vertraut Olivier schon lange mehr als den Blicken. Auf langen Fahrten hat er, Knopf im Ohr, die Bänder mit den aufgenommenen Verhören dabei, all den Monologen, die einen Zuhörer suchen. In seinem gelben 76er Porsche kurvt er durch die Straßen von Paris – die Dimension des Träumens hat sich merklich verändert im letzten halben Jahrhundert: Melville, der große Schlaflose, ist immer in einem Ford Galaxy losgezogen, um die Träume für seine Filme zu suchen.
Odysseus kam nie aus dem
Totenreich zurück. Nur seine
Erzählung, die für ihn weiterlebte
Männer wollen Schemen sein – Alain Delon in „Un Flic/Der Chef“, 1972, dem letzten Film von Jean-Pierre Melville.
FOTO: FILMS CORONA/OCEANIA/EURO INT/KOBAL COLLECTION
Albert Ostermaier:
Die Liebende.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2012. 82 Seiten,
14,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Albert Ostermaier hat eine ekstatische Liebesabenteuergeschichte geschrieben. In „Die Liebende“ reist
er den Irrfahrten des Odysseus nach – und den Kinoträumen des französischen Film noir
VON FRITZ GÖTTLER
Den Tod will er draußen lassen, der junge Polizeikommissar Olivier. Das ist bei ihm eine Art déformation professionelle; den ganzen Tag hat er mit Mord und anderen wahnwitzigen Verbrechen zu tun, mit all den unbekannten Toten in den Schubfächern der Morgue. „Dieser ganze Tod hatte ihn irgendwann so angewidert, dass er sich, wenn er nach Hause kam, vor der Tür nackt auszog. Er wollte den Tod nicht über seine Schwelle lassen. Die Nachbarn lachten erst, dann beschwerten sie sich, schickten den Hausmeister, die Verwaltung. Sie hatten Angst vor seinen Kleidern, sie berührten sie nicht, fassten sie nicht an, hätten sie am liebsten verbrannt, wenn sie vor der Tür lagen. Er wusch sie im Keller. Saß vor der Wäschetrommel und beruhigte sich. Sie hatten ihm einen Korb vor die Tür gestellt. Nein, der Tod hatte wirklich keinen Platz in seinem Leben.“
Todes-Kontamination, vom Tod gleichzeitig angezogen und abgestoßen zu werden, man wird ihn nicht los. Im Leben zeigt Olivier all die Symptome großstädtischer Einzelgänger, leere Wohnungen, wo er sich nicht heimisch fühlt, Kühlschränke, „in denen jedes Datum abgelaufen war“, Tagträume, mit dem Motorrad durch Südamerika. Er hat keine Lust mehr auf Frauen, hat sich „ausgeliebt“. Die Götter lieben dich, sagen die Kollegen zu ihm, weil er immer wieder bei Einsätzen eigentlich tödlichen Schüssen entgeht. Und er redet mit den Toten, ausführlicher und lieber als mit den Lebenden. Die Einsamkeit des Flics in den Straßen von Paris, sie gleicht in diesem Buch der des Samurai und der des Tigers im Dschungel.
Nun aber hat Olivier eine Greisin im Verhörzimmer sitzen, der womöglich diverse Männer zum Opfer gefallen sind, sie hat sie angelockt, geliebt, in Bann geschlagen, getötet. Und hat in all diesen Affären immer nur eine einzige, überzeitliche Liebe erlebt. Es ist kein richtiges Verhör, das da abläuft, die Frau spricht mehr zu sich, manchmal nur zum Ermittler. Olivier ist meistens stumm – läuft das Band noch, fragt er sich immer wieder irritiert.
Ein literarischer Film noir von Albert Obermaier – wenn ich schreibe, verkündet er, sehe ich immer Filme. Er macht Kino mit seinen Texten, von französischen Nachtfilmen inspiriert, die abstrakter sind in ihren Träumen als die aus Hollywood. Die kompakten Einheiten des klassischen Erzählens interessieren ihn nicht, und nicht die Konstrukte, mit denen es hantiert – Identität, Psychologie, Motivation; ihn interessiert der Mythos dahinter, in dem sie alle sich auflösen. „Sie misstrauen ihrem Körper als Einheit ihrer selbst“, heißt es von den Männern in diesem Buch: „Männer wollen Schemen sein. Hüllen aus Luft.“
Schemenhaft ist auch die Sprache des Buches, Albert Ostermaier hat keine Berührungsangst vor dem Pathos und der Ästhetik des Klischees, er schreibt mit lyrischer Inbrunst und Ekstase, aber das unglaublich cool. Ein halbes Dutzend Mal pro Seite etwa kommen Sätze daher wie Parolen und Kampfansagen: „Ja, ich werde meine Träume leben. Die Träume, an die ich mich nicht erinnern kann.“ Oder: „Du musst selbst das Abenteuer sein.“ Oder, literarisch frei inspiriert: „Der Speer nur heilt die Wunde, die er schlug.“
Ein moderner Noir, der seine Spannung aus den Metamorphosen von Ovid bezieht. Und das Krimi-Genre entdeckt dabei seine solipsistische Natur – wie absurd zu glauben, man könnte all die individuellen Spuren, Indizien, Signale, die man sammelt im Laufe einer Recherche, zur Deckung bringen mit einer allgemein verbindlichen Geschichte, die dahinter stecken könnte. Wirklichkeit und Traum gehen ineinander über, das kleine Verhörzimmer unterm Dach und die Küche bei Olivier werden Transiträume, die sich öffnen für mythische Perspektiven, traumwandlerische Figuren.
Ja, man darf die alte Frau Circe nennen, die Zauberin, die böse Hexe, „die Liebende“, die von ihrer Unersättlichkeit erzählt und infamen Faxen, die sie anstellte mit Skylla und Glaukos, die auf ihrer Insel die Männer, die dort anlegten auf jahrelangen Irrfahrten, verhexte und mit ihrer Liebe bannte. Auch Odysseus war darunter, ihr prominentestes Opfer, von dem Olivier einiges in sich spürt, das Modell für all die einsamen Männer, Vagabunden, Drifter des Buches. „Er hat seinen Namen vergessen – dass er tot ist, dass nur ich ihn sehen kann, dass ich ihn auf den falschen Weg gebracht hatte, dass er niemals mehr aus dem Totenreich kam. Nur seine Erzählung, die für ihn weiterlebte.“
Natürlich sind die Männer nicht nur Opfer, sie wollen von Circe, der Anti-Muse, besessen und zerstört werden, deren wilde Liebe kollidiert mit den gesellschaftlichen Regeln und deren Rollen. Auch Olivier hat, wie Odysseus, seinen Abstieg in den Hades, wenn er nicht weiterweiß, geht er zu seinem Freund Michel – Michael Althen steckt in dieser Figur, der im vorigen Jahr gestorbene Filmkritiker –, in dessen Kellerkino, wo die toten Schauspieler und Regisseure sitzen, darunter auch der strenge Übervater Jean-Pierre Melville, der Meister des französischen Film noir. Hier wird Olivier „das Unsichtbare hinter dem Offensichtlichen, das Übersehene“ vorgeführt.
Den Stimmen aber vertraut Olivier schon lange mehr als den Blicken. Auf langen Fahrten hat er, Knopf im Ohr, die Bänder mit den aufgenommenen Verhören dabei, all den Monologen, die einen Zuhörer suchen. In seinem gelben 76er Porsche kurvt er durch die Straßen von Paris – die Dimension des Träumens hat sich merklich verändert im letzten halben Jahrhundert: Melville, der große Schlaflose, ist immer in einem Ford Galaxy losgezogen, um die Träume für seine Filme zu suchen.
Odysseus kam nie aus dem
Totenreich zurück. Nur seine
Erzählung, die für ihn weiterlebte
Männer wollen Schemen sein – Alain Delon in „Un Flic/Der Chef“, 1972, dem letzten Film von Jean-Pierre Melville.
FOTO: FILMS CORONA/OCEANIA/EURO INT/KOBAL COLLECTION
Albert Ostermaier:
Die Liebende.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2012. 82 Seiten,
14,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Fritz Göttler kennt sich aus mit dem Film Noir. Hier trifft er allerdings eine Art literarisches Melville-Kino. Weil Albert Ostermaier sich für die üblichen Konstruktionsprinzipien von Literatur nicht halb so viel interessiert wie fürs Kino, wie Göttler weiß, kämpft der Held des Buches, ein einsamer Flic in den Straßen von Paris (natürlich), eher gegen einen Mythos an, als gegen eine Serienmörderin, die ihm in langen Verhören gleich einer Circe ihre Unersättlichkeit auseinandersetzt. Zur Cinéphilie gesellt sich Bildungsbürgerkitsch, Pathos und Klischee. Göttler findet das cool.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Albert Ostermaier [hat] hier ein 'zauberisch Gebild' geschaffen, von dem man nicht weiß, was man mehr bewundern soll: Den Mut der Unbefangenheit, mit der hier ein Schriftsteller von heute klassische Erzählsituationen aufgreift und zeitgemäß tapeziert, oder die atmosphärische Dichte, die er dem Balztanz von Zauber und Gegenzauber seiner beiden Figuren abgewinnt.« Tilman Krause DIE WELT 20121215