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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ralph Dutlis Roman "Die Liebenden von Mantua"
"Roman" ist kein geschützter Begriff und gehört zu den schillerndsten literarischen Etiketten überhaupt. Die Romantik verdankte ihren Namen den ungestümen Einfällen der Romanciers, die sich an kein klassisches Maß hielten, sondern abenteuerlichste Geschichten erzählten, gleichzeitig zarte Verse erfanden, Spielarten der sinnlichen Liebe erkundeten und immer wieder über die poetischen Grundlagen des eigenen Tuns nachdachten: Romantiker wie Friedrich Schlegel oder Clemens Brentano sind die wahren Künstler des Romans. Einer ihrer virtuosesten Erben unserer Tage ist Ralph Dutli, der viele Metiers souverän beherrscht. Den Lyriker Ossip Mandelstam hat er kongenial übersetzt, eine russische Literaturgeschichte geschrieben, mittelalterliche Unsinnspoesie zu neuem Leben erweckt, Lyrikbände verfasst und der Biene wie der Olive zu ihrer je eigenen Kulturgeschichte verholfen. 2013 debütierte Dutli als Romanautor; seine mitreißende Geschichte über das Lebensende des jüdischen Malers Chaim Soutine - "Soutines letzte Fahrt" - wurde zu Recht mit vielen Preisen ausgezeichnet.
Seinen zweiten Roman verlegt Ralph Dutli ins norditalienische Mantua. In die Schlagzeilen kam die Heimatstadt des Dichters Vergil in jüngerer Zeit mehrfach: Mantua wurde 2012 von einem schweren Erdbeben heimgesucht, das viele kostbare Renaissancebauten beschädigte. Wenige Jahre zuvor waren Archäologen in der Nähe Mantuas auf einen spektakulären Fund gestoßen. Wie zwei Liebende in ewiger Umarmung hielten sich zwei Skelette scheinbar innig umfangen: Romeo und Julia aus der Jungsteinzeit, eine Projektionsfläche für vieles.
Das ist der Stoff, aus dem Dutli seinen Roman gewebt hat, und dabei legt er, ebenso wie seine romantischen Vorgänger, wenig Wert auf Wahrscheinlichkeit, präsentiert stattdessen eine Mixtur disparater Elemente. Das urzeitliche Doppelskelett spielt eine zentrale Rolle; es sind die "Liebenden von Mantua", die dem Roman zu seinem vexierhaften Titel verhelfen. Zugleich gibt es eine Entführung, mehrere Morde, einen bulligen Leibwächter im rosa Ballettröckchen, pflanzliche Drogen, eine Bibliothek mit kabbalistischer und alchemistischer Literatur und einen geheimnisvollen, schwerreichen Conte, der sich "Ignoto" nennt und unbekannt bleiben will. Tatsächlich: Geheimnisvoll, wirr und unaufgelöst bleibt vieles in der Handlung des Romans, der sich streckenweise wie eine Mischung aus "Indiana Jones" und "Der Name der Rose" liest, vermengt mit einem kunsthistorischen Führer durch die architektonischen Schönheiten Mantuas. Geistreiche Aperçus kommen hinzu: "Aber die Wirklichkeit kümmert sich zuallerletzt um die Wahrscheinlichkeit, es gibt ohnehin nur weniges auf der Welt, was nicht unwahrscheinlich ist."
Verklammert wird das alles durch die Geschichte eines Freundespaares, das sich nach Jahren unvermutet in einem Café in Mantua wiedertrifft. Doch kaum haben der Erdbebenforscher Raffa und der Schriftsteller Manu angefangen, ihre Erinnerungen auszutauschen, wird Manu von dem geheimnisvollen Conte entführt. In luxuriöser Einzelhaft soll Manu die Grundschrift einer neuen Religion der Liebe verfassen, deren Zentrum das anrührende steinzeitliche Doppelskelett bildet. Die christliche Schmerzens- und Leidenstheologie soll abgelöst werden von einer neuen Liebesutopie, einem Hymnus auf die zeitenüberdauernde sinnliche Liebe.
Das klingt nach einer gewaltigen Räuberpistole - aber glücklicherweise ist die Handlung das Allerunwichtigste in diesem Roman. Das weiß der versierte Erzähler Dutli; immer wieder lässt er die Leser an seinen Reflexionen über das eigenwillige, ja fast störrische und zugleich erotische Wesen des Romans teilhaben. Und nur wer die abstruse Handlung und ihre seltsamen Sprünge zu wichtig nimmt, wird an den Betrachtungen Anstoß nehmen, mit denen Ralph Dutli das eigene Schreiben staunend begleitet. Die Geschichte Mantuas, der Einfallsreichtum und die Sinnenfreude seiner Fresken inspirieren ihn zu immer neuen Einfällen: "Renaissance als Risiko".
In der Tat, mit einem solchen Roman-Experiment, das konventionelle Leseerwartungen unterläuft, geht Dutli kein geringes Risiko ein - Banalität, Kunsthandwerk und Kitsch sind die offensichtlichsten Gefahren. Dass er die Klippen verblüffend sicher umschifft, ist Dutlis Gespür für den angemessenen Rhythmus zu verdanken; hier schreibt der erfahrene Lyriker, der zugleich Freude an unverbrauchten sprachlichen Bildern hat. Ralph Dutli hat seinen Roman als Gesamtkunstwerk angelegt, in dem er neu zusammenfügt, was ihn in der überbordenden Renaissancewelt Mantuas fasziniert. Schnell werden Jahrtausende durchmessen, schließlich reicht der Atem des Erzählers vom Neolithikum bis in die Erdbebenzonen unserer Gegenwart. Stringenz und Logik werden dabei zur Nebensache, denn es gilt allenthalben: "Renaissance ist Überbietung."
SABINE DOERING
Ralph Dutli: "Die Liebenden von Mantua". Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 276 S., geb., 19,90 [Euro].
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