3. Juni 1998: Auf der Fahrt von Hannnover nach Hamburg entgleist der ICE "Wilhelm Conrad Röntgen" bei Eschede. Unter den Schwerverletzten befindet sich auch Barbara Dahlmann, die sich fortan in einem Krankenhaus im Koma befindet - für die nächsten 20 Jahre...
Wie schreibt man einen Roman mit
einer Protagonistin, die im Koma liegt? Ein nicht leichtes Unterfangen, dem sich Wolfgang Ehemann in…mehr3. Juni 1998: Auf der Fahrt von Hannnover nach Hamburg entgleist der ICE "Wilhelm Conrad Röntgen" bei Eschede. Unter den Schwerverletzten befindet sich auch Barbara Dahlmann, die sich fortan in einem Krankenhaus im Koma befindet - für die nächsten 20 Jahre...
Wie schreibt man einen Roman mit einer Protagonistin, die im Koma liegt? Ein nicht leichtes Unterfangen, dem sich Wolfgang Ehemann in seinem überraschenden und aufregenden Debütroman "Die liegende Frau" stellt. Nicht leicht fällt zu Beginn auch das Lesen, denn Ehemann greift nach dem nüchternen und dennoch intensiven Prolog zu einem genialen Kunstgriff, der mir bislang so nur aus dem hinreißenden "Fuchs 8" von George Saunders bekannt war. Denn so wirr Barbaras Gedanken nach fünf Jahren Koma - die Handlung setzt im Jahr 2003 wieder ein - sind, so konfus ist zunächst auch der Schreibstil. Gerade so, als müsste Barbara ihre Sprache erst wieder erlernen. "Dann hört sie so ne Aat Klocke", heißt es da oder "Ihr Denke wird klara". Eine Herausforderung für den Autoren und seine LeserInnen. Doch je stärker man sich mit der Zeit an diesen Schreibstil gewöhnt, desto klarer und fehlerfreier wird die Sprache auch schon.
Der erste Teil des Romans befasst sich ausschließlich mit dem komatösen Zustand Barbaras, mit dieser Schwebe zwischen Leben und Tod, die auch schon das Cover mit dem erleuchteten Spiegel oder Tunnel zeigt. Ehemann garniert die Gedanken Barbaras mit so vielen klugen Sätzen, dass man damit wohl ein ganzes Notizbuch füllen könnte. Dabei setzt er nicht nur auf zahlreiche rätselhafte Brüche, sondern auch auf zum Teil extreme Perspektivwechsel, bei dem man sich nie sicher sein konnte, wer dort eigentlich gerade erzählt: Barbara oder ein auktorialer Erzähler? In den schwächeren Momenten des Romans mag die Antwort "weder, noch" lauten, denn bei seiner Gesellschaftskritik übertreibt es Ehemann ein wenig und stellt in leicht nörgelndem Ton eine Art Grundsatzabrechnung an, die auf mich zu plakativ wirkte und nicht in den Gesamtzusammenhang des Romans passte - und eher wie die Meinung des Autoren auf mich wirkte. Auch wenn an den gesellschaftspolitischen Ansichten grundsätzlich nichts auszusetzen war, störten sie mich in diesem Kontext. Doch ansonsten überwiegt eine gelungene Rätselhaftigkeit: Wer berichtet denn 2005 über einen Twitter-Account Arno Schmidts, obwohl Twitter erst seit 2006 online ist? Und wer ist dieser Friedrich, der ständig an Barbaras Bett auftaucht, um sie einerseits mit Wortwitzchen zu nerven und ihr andererseits Lebensmut zuzusprechen?
Gerade dieser Friedrich war für mich ein absoluter Höhepunkt des Romans. Als eine Art metaphysischer Begleiter oder GOTT im schmutzigen Unterhemd hat Ehemann mit ihm einen unvergesslichen Charakter erschaffen, der glücklicherweise auch im zweiten Teil noch seinen Auftritt hat, nachdem Barbara aus dem Koma erwacht ist.
Über den zweiten Teil verliert man inhaltlich am besten keine Worte, um den großen Überraschungen in diesem Part nicht vorzugreifen. Rein stilistisch lassen die philosophischen Gedanken ein wenig nach, um den Dialogen mehr Platz zu geben, die Barbara mit ihrem Therapeuten führt. Dieser Therapeut entpuppt sich leider als wenig empathisch und war für mich ein Ärgernis. Ohnehin mutet Ehemann seinen Figuren in diesem zweiten Teil recht viel zu.
Insgesamt war "Die liegende Frau" für mich aber eine aufregende Lektüre. Wolfgang Ehemann wagt wirklich viel und hat so etwas ganz Neues kreiert - sowohl stilistisch, als auch inhaltlich. Ein Romanexperiment, das wahrscheinlich nicht jede/n LeserIn gleichermaßen anspricht, dafür aber polarisiert. Wer dran bleibt, wird mit einer intelligenten und bewegenden Geschichte belohnt. Da ich in kürzester Zeit mit diesem Roman und "Der ehemalige Sohn" von Sasha Filipenko gleich zwei Neuveröffentlichungen lesen durfte, die sich mit KomapatientInnen beschäftigen, komme ich um einen Vergleich nicht herum, bei dem "Die liegende Frau" für mich die Nase vorn hat.