Shenja ist eine Frau, zu der man rasch Zutrauen fasst. Ireen, eine englische Ferienbekanntschaft, erzählt ihr sofort ihre ganze (erfundene) Lebensgeschichte, und bei einer Dokumentation über russische Prostituierte in der Schweiz bemerkt sie verblüfft, dass jedes Mädchen die gleiche Kindheit hinter sich hat. Eine literarische Erkundung der weiblichen Lügen, ein Zyklus gewitzter und weiser Geschichten, die alle von der Kunst zu leben handeln.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.2003Lebenslauf im Riesenslalom
Alltagsfromm: Ljudmila Ulitzkajas russisches Biedermeier
Phantasien zu formulieren ist unerläßlich, um sich in der Welt, gewissermaßen per Echolot, zu orientieren. Zugleich liegt darin eine nie versiegende Quelle von Betrug, Selbstbetrug sowie Poesie. Ljudmila Ulitzkaja, die mit Vorliebe die Windungen der weiblichen Psyche belletristisch erkundet, hat die irritierende Arbeitsweise dieses Kraftwerks der Seele zum Leitthema eines kleinen Romans erkoren, der sich aus mehreren Erzählungen zusammensetzt. In dem jetzt unter dem Titel "Die Lügen der Frauen" erschienenen Buch werden die kleinen und großen Lebenslügen diverser Geschlechtsgenossinnen zu einer Art Lebensschule für die Hauptheldin, in deren herzlicher Anteilnahme sie sich spiegeln.
Eine dominierende Persönlichkeit vom Typ "starke Frau" erfindet sich mehrere Kinder, deren fiktiven Tod die Erzählerin heftiger betrauert als eine Romantragödie. Eine Heranwachsende macht sie zur fürsorglichen Mitwisserin um ihre Liebschaft mit einem verheirateten Mann, die sich ebenfalls als Erfindung entpuppt. Eine alleinstehende gebildete Dame gibt sich gegenüber einer jungen Verehrerin als Verfasserin fremder Gedichte aus. Und als die schon beinahe abgeklärte Heldin die brutale Märchenwelt russischer Prostituierter im Ausland studiert, stellen die Freudenmädchen sich ihr mit immer wieder demselben romantischen, also offenbar ausgedachten Lebenslauf vor. So wird die Hauptperson, eine erfolgreiche Geistesarbeiterin und Familienmutter, die aber auch ein Liebeskonflikt umtreibt, fortgetragen vom klassischen russischen Roman, an welchem sie sich anfangs noch festhält, in den uferlosen Bewußtseinsstrudel des realen Lebens. Der Lehrgang mündet in eine schwere Prüfung, eine Art Sturz ins Nichtsein, der vermeintlich innig vertrauten Menschen nie gekannte Eigenschaften verleiht.
Schon Dostojewski hat das Lügen als ein Freiheitsrecht des Menschen geschildert. Der Gebrauch davon wird durch die in vielem unberechenbare heutige russische Wirklichkeit wahrscheinlich gefördert. Ljudmila Ulitzkaja beobachtet differenziert. Ihre vom inneren Erlebnisstrom getragene Prosa entwirft ein Bild des täglichen Seelenslaloms, in dem man sich wiederfinden kann. Das macht sie zur Lieblingsautorin vieler Angehöriger einer neuen Mittelklasse, die im modernen Rußland familiär wie beruflich ihre Frau stehen.
Ljudmila Ulitzkaja schreibt, was jeder von uns erlebt, aber nicht recht formulieren kann. Damit scheint eine Aufgabe der Kunst erfüllt. Allerdings bietet ihr alltagsfrommer Text keine darüber hinausgehenden und also bleibenden Bilder oder Formulierungen. Doch das macht ihre Bücher möglicherweise auch in Deutschland, wo sich das Biedermeier gerade wieder stärker auszubreiten scheint, zur idealen geistigen Nahrung.
KERSTIN HOLM
Ljudmila Ulitzkaja: "Die Lügen der Frauen". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Verlag, München 2003. 165 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alltagsfromm: Ljudmila Ulitzkajas russisches Biedermeier
Phantasien zu formulieren ist unerläßlich, um sich in der Welt, gewissermaßen per Echolot, zu orientieren. Zugleich liegt darin eine nie versiegende Quelle von Betrug, Selbstbetrug sowie Poesie. Ljudmila Ulitzkaja, die mit Vorliebe die Windungen der weiblichen Psyche belletristisch erkundet, hat die irritierende Arbeitsweise dieses Kraftwerks der Seele zum Leitthema eines kleinen Romans erkoren, der sich aus mehreren Erzählungen zusammensetzt. In dem jetzt unter dem Titel "Die Lügen der Frauen" erschienenen Buch werden die kleinen und großen Lebenslügen diverser Geschlechtsgenossinnen zu einer Art Lebensschule für die Hauptheldin, in deren herzlicher Anteilnahme sie sich spiegeln.
Eine dominierende Persönlichkeit vom Typ "starke Frau" erfindet sich mehrere Kinder, deren fiktiven Tod die Erzählerin heftiger betrauert als eine Romantragödie. Eine Heranwachsende macht sie zur fürsorglichen Mitwisserin um ihre Liebschaft mit einem verheirateten Mann, die sich ebenfalls als Erfindung entpuppt. Eine alleinstehende gebildete Dame gibt sich gegenüber einer jungen Verehrerin als Verfasserin fremder Gedichte aus. Und als die schon beinahe abgeklärte Heldin die brutale Märchenwelt russischer Prostituierter im Ausland studiert, stellen die Freudenmädchen sich ihr mit immer wieder demselben romantischen, also offenbar ausgedachten Lebenslauf vor. So wird die Hauptperson, eine erfolgreiche Geistesarbeiterin und Familienmutter, die aber auch ein Liebeskonflikt umtreibt, fortgetragen vom klassischen russischen Roman, an welchem sie sich anfangs noch festhält, in den uferlosen Bewußtseinsstrudel des realen Lebens. Der Lehrgang mündet in eine schwere Prüfung, eine Art Sturz ins Nichtsein, der vermeintlich innig vertrauten Menschen nie gekannte Eigenschaften verleiht.
Schon Dostojewski hat das Lügen als ein Freiheitsrecht des Menschen geschildert. Der Gebrauch davon wird durch die in vielem unberechenbare heutige russische Wirklichkeit wahrscheinlich gefördert. Ljudmila Ulitzkaja beobachtet differenziert. Ihre vom inneren Erlebnisstrom getragene Prosa entwirft ein Bild des täglichen Seelenslaloms, in dem man sich wiederfinden kann. Das macht sie zur Lieblingsautorin vieler Angehöriger einer neuen Mittelklasse, die im modernen Rußland familiär wie beruflich ihre Frau stehen.
Ljudmila Ulitzkaja schreibt, was jeder von uns erlebt, aber nicht recht formulieren kann. Damit scheint eine Aufgabe der Kunst erfüllt. Allerdings bietet ihr alltagsfrommer Text keine darüber hinausgehenden und also bleibenden Bilder oder Formulierungen. Doch das macht ihre Bücher möglicherweise auch in Deutschland, wo sich das Biedermeier gerade wieder stärker auszubreiten scheint, zur idealen geistigen Nahrung.
KERSTIN HOLM
Ljudmila Ulitzkaja: "Die Lügen der Frauen". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Verlag, München 2003. 165 S., geb., 16,90 [Euro].
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vergnüglich zu lesen, wie Shenja mit detektivischem Gespür diese Lebenslügen entlarvt. Süddeutsche Zeitung 20200417