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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Stoff für die Lehrpläne: Alexander Clarkson wirft einen erhellenden Blick auf Diasporagruppen in Deutschland
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat eine neue Flüchtlingsbewegung ausgelöst: Über zehn Millionen Ukrainer haben seit Ende Februar ihr Heimatland verlassen, über eine Million von ihnen ist nach Deutschland gekommen. Die OECD prognostiziert, dass die Zuzüge bis zum Jahresende höher liegen werden als 2015, als in Folge des Bürgerkriegs in Syrien mehr als zwei Millionen Menschen nach Deutschland gekommen sind. Insofern könnte der Krieg in der Ukraine für das zuwanderungsstärkste Jahr seit der Wiedervereinigung sorgen.
Gerade vor diesem Hintergrund lohnt die Lektüre von Alexander Clarksons neuem Buch. Der Historiker untersucht die Einflüsse von fünf Diasporagruppen in Deutschland, darunter auch der ukrainischen. Sein Vater ist Brite, seine Mutter Ukrainerin, und immer wieder rahmen persönliche Anekdoten den Zugang des Autors zu seinem Gegenstand ein. Ausgehend von historischen Ereignissen analysiert er, wie sich Diasporagemeinschaften in Deutschland herausgebildet und Einfluss auf Politik und Gesellschaft genommen haben.
Zu Beginn beleuchtet er die türkischen und kurdischen Gemeinschaften. Die Gastarbeiterprogramme der Sechzigerjahre zwischen der Bundesrepublik und der Türkei schufen die Grundlage der Einwanderung. Jedoch änderte die deutsche Regierung in den Siebzigern ihren Kurs, beendete das Anwerbeabkommen, begrenzte die Einwanderungsmöglichkeiten und bot Türken wie Kurden Anreize, in ihre Heimat zurückzukehren - ohne Erfolg.
Diese Haltung auf Landes- wie Bundesebene eröffnete Clarkson zufolge "Diasporaorganisationen wie Moscheen, Arbeitervereinen oder nationalistischen Vereinigungen die Gelegenheit, den Familien der Migranten und Migrantinnen die von ihnen benötigten Dienstleistungen anzubieten". Zugleich bauten Kurdenbewegungen, die in der Türkei verboten waren und zu denen die "ersten Ansätze der PKK zählten", in Deutschland eigene Organisationen auf. So kam es in Städten mit vielen türkischen Einwohnern zu "Revierkämpfen", was konkret heißt: Straßengewalt und Bombenattentaten.
Clarkson illustriert die Vielfalt politischer Strömungen so detailreich, dass es für den Leser stellenweise schwierig ist nachzuvollziehen, welche Gruppen und Ereignisse in den Heimatländern konkret Einfluss auf die Entwicklung der Gemeinschaften in Deutschland genommen haben. Das Beispiel der Kurden und Türken zeigt gleichwohl, wie unterschiedlich sich Diasporagruppen entwickeln können, auch wenn ihre Mitglieder aus demselben Land kommen. Unabhängig von der noch immer bestehenden Diskriminierung von Kurden und Türken lasse die Ernennung von Cem Özdemir zum Landwirtschaftsminister zudem erkennen, dass Angehörige der Diaspora "im Herzen der Macht in Deutschland" angekommen seien.
Die iranische Diaspora veranschaulicht Clarkson zufolge, dass die Integration von deren Mitgliedern vor allem deshalb so gut gelang, weil sie als Studierende oder ausgebildete Exilanten nach Deutschland kamen. Hier zeige sich die Bedeutung von "Sozial- und Bildungskapital". Darüber hinaus hätten sie Verbindungen in Politik und Wirtschaft aufgebaut: "Auf kollektiver Ebene führten die Versuche iranischer Diasporagruppen, die Unterstützung der deutschen Linken für Oppositionsbewegungen in ihrem Heimatland zu gewinnen, in der ersten Generation iranischer Immigranten zu engen Kontakten mit vielen deutschen Gesprächspartnern."
Schließlich eröffne die Dynamik zwischen der ukrainischen Diaspora und dem deutschen Staat bedenkenswerte Perspektiven. So sei es für die ukrainische Exilgemeinde nach der Wiedervereinigung schwierig gewesen, "die strategisch dysfunktionalen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Russischen Föderation zu überwinden". Während Deutschland darauf fixiert gewesen sei, die politische Agenda in Russland zu beeinflussen, habe sich die Ukraine bemüht, eine eigene Militärmacht aufzubauen.
Im Anschluss an diese Ausführungen denkt der Autor recht grundsätzlich über das Verhältnis beider Staaten nach und äußert Zweifel daran, dass sich die Bundesrepublik einer "besseren Zukunft der Ukraine wirklich verpflichtet fühlt". Es falle schwer, nicht wütend zu werden, wenn "die Politiker von heute - noch während sich russische Panzer ukrainischem Boden nähern - in deutschen Talkshows die angeblichen russischen Interessen verteidigen".
Die aktuelle Flüchtlingsbewegung von Ukrainern nach Deutschland unterstreicht Clarksons Forderung, die deutsche Regierung müsse sich stetig mit Migration auseinandersetzen - und eingestehen, dass Deutschland eine Einwanderungsnation geworden ist. In diesem Prozess bestehe der erste Schritt darin, "mehr über die Diasporas zu erfahren, die in der Mitte der deutschen Gesellschaft leben, und die Macht anzuerkennen, die sie inzwischen haben, um Veränderungen in dieser Gesellschaft herbeizuführen". Schließlich plädiert der Autor dafür, "Osmanen, Safawiden, Kosaken, Heiducken, Mamelucken und andere wichtige Akteure der Geschichte der Diasporaheimatländer" stärker in den Lehrplänen deutscher Schulen zu berücksichtigen. So könne Verständnis und Empathie für Traditionen ermöglicht werden, die inzwischen auch ein wichtiger Teil der deutschen Identität sind. NINA BUB
Alexander Clarkson: "Die Macht der Diaspora". Die unbekannte Geschichte der Emigranten in Deutschland seit 1945.
Aus dem Englischen von M. Adrian und H. Lutosch. Propyläen Verlag, Berlin 2022. 432 S., geb., 28,- Euro.
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