Menschenbilder haben Macht über uns. All unser Denken und Verhalten wird durch bestimmte Vorannahmen, was und wie ein Mensch zu sein hat, beeinflusst. Denn Menschenbilder sind fundamental für eine Gesellschaft - sie durchziehen ihre Ordnungen, ihre Moral, ihr Rechtssystem, ihre Pädagogik. Menschenbilder bilden den Menschen nicht einfach nur ab, sie bilden ihn vielmehr mit: Menschenbilder sind konstitutiv für die Art und Weise, wie wir Menschen sind. Die eklatanten Folgen gilt es zu bedenken.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.02.2022Was steckt in der Schnittmenge?
Menschenbilder: Michael Zichy versucht, einen Begriff zu entstauben
Menschenbilder, so entfuhr es Niklas Luhmann am Ende eines Interviews einst, "sind etwas Grausiges, besonders wenn man sie politisch oder reformerisch propagiert". Anders als den soziologischen Systemtheoretiker graust es dem Philosophen und katholischen Theologen Michael Zichy nicht vor Menschenbildern. Sie sind für ihn jedenfalls etwas, das Menschen nicht nur haben, sondern auch brauchen. Vorstellungen, die wir uns vom Menschen und vom Menschengemäßen machen, so kann man Zichys (zweitem) Buch zum Thema entnehmen, befriedigen individuelle Bedürfnisse und erfüllen soziale Funktionen; sie seien das "Fundament" jeder Gesellschaft, namentlich in den Sphären von Moral, Recht und Erziehung. Letztlich sei ein Menschenbild ein unentbehrliches "Werkzeug der Selbstgestaltung". Es zeichnet, könnte man sagen, in individuelle Selbstbilder ein herausforderndes Vorbild ein.
Daran ändert für Zichy auch der Staub erbaulicher Sonntagsreden nichts, der sich auf dem Wort abgelagert habe. Er vermutet, die Aversion, die manche gegen Menschenbilder beziehungsweise den Menschenbild-Begriff hegten, entspringe (zumindest teilweise) einem Missverständnis. Die Betreffenden assoziierten damit "etwas Religiös-Weltanschauliches". Gegenüber dieser Einengung gelte es, den Begriff "so offen und neutral wie möglich" zu fassen, nämlich als "Bündel von Annahmen über den Menschen" - Annahmen, die nicht unbedingt ausdrücklich formuliert werden, die vielmehr auch als unterschwellige Ansichten "lebensweltlich-praktisch" wirksam seien und dergestalt stets schon Antworten auf Fragen wie diese gäben: Wer ist ein Mensch? Welche Stellung haben Menschen im Ganzen dessen, was es gibt? Welche Fähigkeiten zeichnen sie als Menschen aus? Hat ihr Leben einen Sinn, ein Ziel?
Religiöse Menschenbilder werden damit offenkundig nicht ignoriert, sie sind aber nur eine Sorte im Sortiment aller möglichen Menschenbilder - und sie zählen zu einer von drei Arten, die Zichy im Hinblick auf die Frage unterscheidet, mit wem jemand die Überzeugungen teile, aus denen das eigene Menschenbild sich zusammensetze: zu den "gruppenspezifischen" Menschenbildern. Als Beispiele für diese Art, die er zwischen gesellschaftsweit geteilten und bloß individuellen Vorstellungsgebilden ansiedelt, führt er christliche und islamische, esoterische, sozialistische und darwinistische "Auffassungen vom Menschen" an.
Für gewöhnlich sind es derlei gruppenspezifische Überzeugungen, die ins Blickfeld rücken, wenn über den Zusammenhalt weltanschaulich pluralistischer Gesellschaften diskutiert wird - und darüber, welche Fliehkräfte ihn bedrohen könnten. Zichy zeigt sich überzeugt, dass in liberal-demokratisch verfassten Gemeinwesen konkurrierende Menschenbilder weitgehend friedlich koexistierten - und dass sie dies deshalb täten, weil es "jenseits der pluralen Menschenbilder doch noch das eine Menschenbild gibt, dem alle implizit oder explizit verpflichtet sind". Diese These soll zugleich die gängige Kritik entkräften, die Menschenbilder per se als bestandsgefährdend einstuft, weil fixierte Vorstellungen von dem, was Menschen "eigentlich" sein und tun sollten, dazu tendierten, einander auszuschließen. Das "eine" Menschenbild hingegen soll offenbar so viele andere Bilder wie möglich einschließen - und wenn nicht von allen Gesellschaftsangehörigen, so doch von "zumindest der überwiegenden Mehrheit" geteilt werden.
Zichy nennt es ein "Meta-Menschenbild". Es ergibt sich ihm als eine Art Schnittmenge aus den Überlappungen aller kursierenden Ansichten vom Menschen. Ebendarum bleibe es in einer pluralistischen Gesellschaft, in der die Individualisierung voranschreitet, "abstrakt und inhaltlich dünn". Die Schwäche in puncto Konkretion, so sieht er es, ist die Stärke dieses Mehrheitsmenschenbildes. Nur als interpretationsoffenes Bild, heißt dies, kann es weithin verpflichtend sein. Als "Paradebeispiel" eines inhaltlich vagen, aber ganz und gar nicht funktionslosen Elements der Schnittmenge dient die unveräußerliche Würde, die in unseren Breiten Menschen ihresgleichen zuzuschreiben gehalten und geneigt sind. Was es des Näheren mit der Menschenwürde auf sich hat, worin sie gründet und was aus ihr folgt, darüber gehen die Meinungen und Ansichten auseinander. Der abstrakte, aber aufladbare Begriff sorgt darum durchaus für Kontroversen, etwa wenn es um Anfang und Ende eines Menschenlebens geht. Dennoch ist es die Bezugnahme auf ihn, die in einem Konflikt die streitenden Auslegungen aneinanderbindet. Zichy spricht nachvollziehbar von einem demokratiepolitisch nicht zu unterschätzenden "Spiel- und Aushandlungsraum", den die Würdezuschreibung eröffne.
Neben den "inhaltlich dünnen", aber doch skizzenhaft bemalten Partien weist das Meta-Menschenbild unseres Kulturkreises, wie Zichy es vor Augen führt, markante Leerstellen auf. Und diese Leerstellen sind mindestens ebenso bedeutsam für das gesellschaftliche Miteinander. Sie ergeben sich naturgemäß nicht aus Überlappungen, repräsentieren keinen Minimalkonsens - es sei denn den Konsens, dass da kein Konsens bestehe. Ausgespart bleiben daher insbesondere jene Segmente des Tableaus, in welchen religiöse Ansichten ihren Platz hätten. Sie haben dort auch ihren Platz, finden ihn aber nur, wenn entsprechende individuelle Menschenbilder oder solche von Glaubensgemeinschaften ihn ausfüllen.
Michael Zichy veranschaulicht, was ihm vorschwebt, mit dem Bild einer Landkarte, in die lediglich die allernötigsten Orte, Wege und Orientierungspunkte eingezeichnet sind. Um sich zurechtzufinden, tragen die Kartenbenutzer je individuell alles für sie außerdem Wichtige und Verbindliche ein, ohne es damit anderen vorschreiben zu wollen. Die leeren Flächen und weißen Flecken mahnen, mit anderen Worten, die Bereitschaft zur Toleranz an. Sie erinnern damit zugleich daran, dass das übergreifende Menschenbild pluralistisch-liberaler Gesellschaften bei aller Blässe und Deutungsoffenheit einige scharfe Konturen hat: individuelle Selbstbestimmungsrechte, die nicht zur Disposition stehen. Am Ende wäre eine passende Metapher für das Bild vielleicht sogar der Rahmen. Es ist der Rahmen, aus dem fällt, wer diese Rechte nicht für menschengemäß hält. UWE JUSTUS WENZEL
Michael Zichy: "Die Macht der Menschenbilder". Wie wir andere wahrnehmen.
Reclam Verlag, Ditzingen 2021. 125 S., br., 6,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Menschenbilder: Michael Zichy versucht, einen Begriff zu entstauben
Menschenbilder, so entfuhr es Niklas Luhmann am Ende eines Interviews einst, "sind etwas Grausiges, besonders wenn man sie politisch oder reformerisch propagiert". Anders als den soziologischen Systemtheoretiker graust es dem Philosophen und katholischen Theologen Michael Zichy nicht vor Menschenbildern. Sie sind für ihn jedenfalls etwas, das Menschen nicht nur haben, sondern auch brauchen. Vorstellungen, die wir uns vom Menschen und vom Menschengemäßen machen, so kann man Zichys (zweitem) Buch zum Thema entnehmen, befriedigen individuelle Bedürfnisse und erfüllen soziale Funktionen; sie seien das "Fundament" jeder Gesellschaft, namentlich in den Sphären von Moral, Recht und Erziehung. Letztlich sei ein Menschenbild ein unentbehrliches "Werkzeug der Selbstgestaltung". Es zeichnet, könnte man sagen, in individuelle Selbstbilder ein herausforderndes Vorbild ein.
Daran ändert für Zichy auch der Staub erbaulicher Sonntagsreden nichts, der sich auf dem Wort abgelagert habe. Er vermutet, die Aversion, die manche gegen Menschenbilder beziehungsweise den Menschenbild-Begriff hegten, entspringe (zumindest teilweise) einem Missverständnis. Die Betreffenden assoziierten damit "etwas Religiös-Weltanschauliches". Gegenüber dieser Einengung gelte es, den Begriff "so offen und neutral wie möglich" zu fassen, nämlich als "Bündel von Annahmen über den Menschen" - Annahmen, die nicht unbedingt ausdrücklich formuliert werden, die vielmehr auch als unterschwellige Ansichten "lebensweltlich-praktisch" wirksam seien und dergestalt stets schon Antworten auf Fragen wie diese gäben: Wer ist ein Mensch? Welche Stellung haben Menschen im Ganzen dessen, was es gibt? Welche Fähigkeiten zeichnen sie als Menschen aus? Hat ihr Leben einen Sinn, ein Ziel?
Religiöse Menschenbilder werden damit offenkundig nicht ignoriert, sie sind aber nur eine Sorte im Sortiment aller möglichen Menschenbilder - und sie zählen zu einer von drei Arten, die Zichy im Hinblick auf die Frage unterscheidet, mit wem jemand die Überzeugungen teile, aus denen das eigene Menschenbild sich zusammensetze: zu den "gruppenspezifischen" Menschenbildern. Als Beispiele für diese Art, die er zwischen gesellschaftsweit geteilten und bloß individuellen Vorstellungsgebilden ansiedelt, führt er christliche und islamische, esoterische, sozialistische und darwinistische "Auffassungen vom Menschen" an.
Für gewöhnlich sind es derlei gruppenspezifische Überzeugungen, die ins Blickfeld rücken, wenn über den Zusammenhalt weltanschaulich pluralistischer Gesellschaften diskutiert wird - und darüber, welche Fliehkräfte ihn bedrohen könnten. Zichy zeigt sich überzeugt, dass in liberal-demokratisch verfassten Gemeinwesen konkurrierende Menschenbilder weitgehend friedlich koexistierten - und dass sie dies deshalb täten, weil es "jenseits der pluralen Menschenbilder doch noch das eine Menschenbild gibt, dem alle implizit oder explizit verpflichtet sind". Diese These soll zugleich die gängige Kritik entkräften, die Menschenbilder per se als bestandsgefährdend einstuft, weil fixierte Vorstellungen von dem, was Menschen "eigentlich" sein und tun sollten, dazu tendierten, einander auszuschließen. Das "eine" Menschenbild hingegen soll offenbar so viele andere Bilder wie möglich einschließen - und wenn nicht von allen Gesellschaftsangehörigen, so doch von "zumindest der überwiegenden Mehrheit" geteilt werden.
Zichy nennt es ein "Meta-Menschenbild". Es ergibt sich ihm als eine Art Schnittmenge aus den Überlappungen aller kursierenden Ansichten vom Menschen. Ebendarum bleibe es in einer pluralistischen Gesellschaft, in der die Individualisierung voranschreitet, "abstrakt und inhaltlich dünn". Die Schwäche in puncto Konkretion, so sieht er es, ist die Stärke dieses Mehrheitsmenschenbildes. Nur als interpretationsoffenes Bild, heißt dies, kann es weithin verpflichtend sein. Als "Paradebeispiel" eines inhaltlich vagen, aber ganz und gar nicht funktionslosen Elements der Schnittmenge dient die unveräußerliche Würde, die in unseren Breiten Menschen ihresgleichen zuzuschreiben gehalten und geneigt sind. Was es des Näheren mit der Menschenwürde auf sich hat, worin sie gründet und was aus ihr folgt, darüber gehen die Meinungen und Ansichten auseinander. Der abstrakte, aber aufladbare Begriff sorgt darum durchaus für Kontroversen, etwa wenn es um Anfang und Ende eines Menschenlebens geht. Dennoch ist es die Bezugnahme auf ihn, die in einem Konflikt die streitenden Auslegungen aneinanderbindet. Zichy spricht nachvollziehbar von einem demokratiepolitisch nicht zu unterschätzenden "Spiel- und Aushandlungsraum", den die Würdezuschreibung eröffne.
Neben den "inhaltlich dünnen", aber doch skizzenhaft bemalten Partien weist das Meta-Menschenbild unseres Kulturkreises, wie Zichy es vor Augen führt, markante Leerstellen auf. Und diese Leerstellen sind mindestens ebenso bedeutsam für das gesellschaftliche Miteinander. Sie ergeben sich naturgemäß nicht aus Überlappungen, repräsentieren keinen Minimalkonsens - es sei denn den Konsens, dass da kein Konsens bestehe. Ausgespart bleiben daher insbesondere jene Segmente des Tableaus, in welchen religiöse Ansichten ihren Platz hätten. Sie haben dort auch ihren Platz, finden ihn aber nur, wenn entsprechende individuelle Menschenbilder oder solche von Glaubensgemeinschaften ihn ausfüllen.
Michael Zichy veranschaulicht, was ihm vorschwebt, mit dem Bild einer Landkarte, in die lediglich die allernötigsten Orte, Wege und Orientierungspunkte eingezeichnet sind. Um sich zurechtzufinden, tragen die Kartenbenutzer je individuell alles für sie außerdem Wichtige und Verbindliche ein, ohne es damit anderen vorschreiben zu wollen. Die leeren Flächen und weißen Flecken mahnen, mit anderen Worten, die Bereitschaft zur Toleranz an. Sie erinnern damit zugleich daran, dass das übergreifende Menschenbild pluralistisch-liberaler Gesellschaften bei aller Blässe und Deutungsoffenheit einige scharfe Konturen hat: individuelle Selbstbestimmungsrechte, die nicht zur Disposition stehen. Am Ende wäre eine passende Metapher für das Bild vielleicht sogar der Rahmen. Es ist der Rahmen, aus dem fällt, wer diese Rechte nicht für menschengemäß hält. UWE JUSTUS WENZEL
Michael Zichy: "Die Macht der Menschenbilder". Wie wir andere wahrnehmen.
Reclam Verlag, Ditzingen 2021. 125 S., br., 6,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Uwe Justus Wenzel lässt sich vom Philosophen und Theologen Michael Zichy auseinandersetzen, was es mit Menschenbildern auf sich hat. Deren soziale Funktion als Mittel der Selbstgestaltung und der gesellschaftlichen Orientierung in Sachen Moral, Recht, Erziehung hebt der Autor laut Wenzel überzeugend hervor und plädiert zugleich für eine möglichst neutrale Definition des Begriffs. Das religiös konnotierte wird so zu einem Menschenbild unter vielen, stellt der Rezensent befriedigt fest. Einigen kann er sich mit Zichy auf das Element der Würde, das die vom Autor definierte Schnittmenge aller Menschenbilder ziert, wie auch auf deren Leerstellen. Letztere sind gleichfalls für das Miteinander von Bedeutung, erkennt Wenzel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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